Jeder kennt den Witz mit dem Mann, der auf einem Platz in der Stadt ausdauernd in die Hände klatscht. Gefragt, warum er das tue, sagt er, er vertreibe Löwen. Worauf man ihm antwortet: Aber hier gibt es doch gar keine Löwen und er erwidert: Na eben, wirkt doch.
Auf diesen Nenner bringt Markus Gabriel, einer der Shooting Stars der jungen Philosophengeneration, in einem Kommentar in der WELT die Sicht vieler Virologen und Epidemiologen, warum die Epidemie hierzulande nicht so katastrophal verlaufen ist, wie es den Modellen zufolge ohne Maßnahmen zu befürchten gewesen wäre:
„Erfreulicherweise sind die Horrorszenarien, die im Gefolge der ‚britischen‘ Variante durch die Talkshows und andere Medien geisterten, (wieder einmal) nicht eingetreten. (…) Diese Lücke zwischen pompöser Vorhersage und faktischer Wirklichkeit wird nun, ein erwartbarer diskursiver Mechanismus, mit einem (…) kleinlauten Hinweis auf das vermeintliche Präventionsparadox im logischen Hauruckverfahren geschlossen.“
Das Präventionsparadox meint hier die Nichtsichtbarkeit vermiedener Risiken. Mit anderen Worten: Wer sagt, dass die Infektionsschutzmaßnahmen die Fallzahlen verringert haben, argumentiert nach Gabriel wie der Mann, der klatscht, um Löwen zu vertreiben. Das wäre in der Tat cargo cult science und Gabriel spricht auch ganz unverblümt von „Pseudowissenschaft“. Das Kontrafaktische, das „was wäre wenn“, hat es empirisch naturgemäß immer schwer. Allerdings gibt es einen entscheidenden Unterschied zwischen den Infektionen und den Löwen: die Infektionen sind da. Mehr als 86.000 Menschen sind in Deutschland in gut einem Jahr daran gestorben.
Sicher war nicht alles, was die Politik an Maßnahmen verordnet hat, auch wirksam. Bei den pauschalen nächtlichen Ausgangsbeschränkungen darf man beispielsweise begründete Zweifel haben. Wenn internationale Studien die Wirksamkeit solcher Beschränkungen nahelegen, heißt das noch nicht, dass sie unter den gegenwärtigen deutschen Rahmenbedingungen auch viel bringen. Zumindest lässt eine hessische Studie Fragezeichen zurück.
Die fragliche Wirksamkeit solcher Maßnahmen verleitet Gabriel zu einem folgenschweren Fehlschluss:
„Solange nicht nachgewiesen ist, dass die Schließung von Museen, Außengastronomie und Theatern (um nur einige Beispiele zu wählen) die Ursache für einen faktisch erheblich besseren Verlauf des Infektionsgeschehens ist, ist die Berufung auf das angebliche Präventionsparadox unbegründet.“
Er behauptet damit letztlich, dass das ganze Bündel an Maßnahmen und die Verhaltensänderungen der Menschen nichts gebracht haben. Das folgt aber nicht aus seiner Prämisse. Und schon gar nicht folgt daraus, dass es die Infektionen nicht gibt. Dass kein Löwe in der Stadt ist, ist ein empirischer Befund, ebenso wie der, dass es SARS-CoV-2-Infektionen gibt. Diese Befunde sind unabhängig davon, ob Klatschen oder Ausgangsbeschränkungen etwas bewirken. Wäre ein Löwe in der Stadt, hätte das Klatschen nichts geholfen. Aber ein Löwenbändiger. Vielleicht hätte noch jemand dazu geklatscht, gut, das hätte man sich sparen können. Bei den Infektionen ist es nicht viel anders. Vielleicht hätte man die Museen auflassen können, wie man es, so Gabriel, in Barcelona getan habe, aber man hätte nicht nichts tun können. Das war auch in Barcelona nicht der Fall.
Gabriel räumt dann auch gleich noch das Vorsorgeprinzip mit seiner Orientierung an Plausibilitätsargumenten durch eine utopische Forderung ab:
„Jede einzelne noch so klitzekleine „Maßnahme“ müsste eigentlich durch belegbare Tatsachen gestützt werden – und nicht durch statistische Möglichkeiten, die stets nur teilweise faktenbasiert sind.“
Dem könnte man folgen – wenn Löwen nicht weiter gefährlich wären, oder das Virus. Aber ist Vorsicht angesichts von 86.000 Tote nicht genug „faktenbasiert“? Was wäre sein konkretes Infektionsschutzprogramm gewesen?
Markus Gabriel ist mit einem Buch mit dem Titel „Warum es die Welt nicht gibt“ bekannt geworden. Er hat ein Talent für medienwirksame Sätze. Aber Medienresonanz verbürgt nicht Wahrheit. Man könnte es das Repräsentationsparadox nennen. Er ist bestimmt ein kluger Kopf, und natürlich hat er Recht, dass man mit Einschränkungen von Grundrechten sorgsamer umgehen müsse, aber in Bezug auf seine Argumentation mit dem Präventionsparadox gilt der alte Spruch: Si tacuisses, philosophus mansisses.
Kommentare (147)