Vor kurzem wurde hier die Haltung des stellvertretenden bayerischen Ministerpräsidenten Hubert Aiwanger zur Corona-Impfung als spieltheoretische Frage reformuliert. Man kann es auch etwas allgemeiner als verhaltensökonomisches Thema angehen. Die Verhaltensökonomie ist vor allem durch die Nobelpreisträger Daniel Kahneman und Richard Thaler und ihre Bestseller bekannt geworden. Sie ist eine Art Hybrid aus Ökonomie, Psychologie und mathematischer Spieltheorie und versucht, rationale Kalküle hinter menschlichen Entscheidungen zu identifizieren.
Aiwanger hatte seine Vorbehalte gegen das Impfen in einem Interview mit dem Deutschlandfunk am Mittwoch noch einmal ausführlich dargelegt. Auf die Frage des Journalisten Moritz Küpper, worauf er denn warte, gab er die Antwort:
„Bis sich die Lage noch besser geklärt hat. Und bis ich auch selber davon überzeugt bin, dass es für mich ganz konkret persönlich sinnvoller ist, sich impfen zu lassen, als sich nicht impfen zu lassen.“
Verhaltensökonomen würden das vielleicht so lesen, dass Aiwangers Entscheidungskalkül noch etwas Nudging benötigt. Armin Falk, ein Verhaltensökonom, hat gestern im Tagesspiegel Aiwangers Haltung als „Trittbrettfahren“ bezeichnet und insofern verhaltensökonomisch rationalisiert. Angesichts der geringen absoluten Risikoreduktion durch das Impfen in der aktuellen Situation könnte Aiwangers Position so analysiert werden. Falk kommt dann auf eine typisch verhaltensökonomische Idee:
„Wenn Beatmungsgeräte knapp werden oder wir nochmal in eine Triage-Situation kämen, was ich nicht hoffe, und wir dann vor der Wahl stehen, ob ein Geimpfter oder ein Nicht-Geimpfter die Behandlung bekommt, dann würde ich sagen, dass der Impfstatus mit in die Abwägung einfließen sollte“.
Vielen Ärzt/innen werden sich bei diesem Vorschlag wohl die Haare sträuben. Falls der Impfstatus im Triagefall keine klare Aussage über die Überlebenschancen zulässt: Könnte man nach der Logik nicht auch Menschen bei der Beatmung priorisieren, die schon einmal erste Hilfe geleistet haben, oder im Mittelmeer Flüchtlinge gerettet haben, oder erfolgreich ein Unternehmen mit vielen Arbeitsplätzen aufgebaut haben? Zwar kennt man auch im Gesundheitswesen durchaus Anreizmodelle, z.B. das Bonusheft beim Zahnarzt. Auch die Praxisgebühr war so etwas. Aber der Vorschlag Falks würde den Zugang zur Versorgung in einer exkludierenden Form an ein gesundheitspolitisches Wohlverhalten binden. Viel fehlt dann nicht mehr, medizinische Hilfe an einen Social Score wie in China zu knüpfen.
Horst Seehofer, Bundesinnenminister, ist dagegen, die Entscheidungskalküle von Impfverweigerern auf diese Weise zu beeinflussen. In einem Interview mit der Mittelbayerischen Zeitung sagt er:
“Ganz allergisch reagiere ich, wenn jemand sagt: Wenn du nicht geimpft bist, wirst du bei uns nicht mehr beschäftigt. Oder weil du nicht geimpft bist, bekommst du keine Kranken- oder Lebensversicherung. Davor kann ich nur dringend warnen.”
Vielleich sollte man, wenn man solche Sanktionen in Erwägung zieht, dann lieber eine Impfpflicht einführen, statt die freie Entscheidung darüber, ob man sich impfen lässt oder nicht, zur Chimäre zu machen.
An der Stelle wird auch deutlich, dass es wichtig ist, zwischen „Privilegien“ für Geimpfte und der Rücknahme von Grundrechtseinschränkungen für Geimpfte zu unterscheiden. Verhaltensökonomisch ist beides weitgehend gleichwertig, juristisch und ethisch nicht.
Welches Kalkül sich hinter Aiwangers Position verbirgt, und ob da ein konsistentes Kalkül ist, ist unklar. In dem Deutschlandfunk-Interview spricht er z.B. auch davon, man wisse noch zu wenig über die Impfungen, oder mit Blick auf die Bundestagswahl auch davon, er wolle nicht, dass die politischen Ränder gestärkt würden. Und manchmal ist auch unklar, war er überhaupt sagen will:
„Ich bin Landwirt. Ich bin Naturwissenschaftler, ich habe vieles mit biologischen Zusammenhängen über Jahre zu tun gehabt, und deshalb sehe ich, dass man Lebewesen, und da gehört der Mensch nun mal dazu, nicht einfach politisch in links-rechts unterscheiden kann und sagen, die werden jetzt alle durchgeimpft oder die werden jetzt alle sowieso, sondern man muss genauer hinschauen. Genau deshalb gibt es ja das System des Arztes, der berät.“
Ob Verhaltensökonomen auch damit umgehen können?
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