3. „Crisis exacerbates existing structural inequities“
Dass die Krise die sozialen Gruppen unterschiedlich hart trifft, ist schnell klargeworden. Es ist richtig, worauf die Autor/innen hinweisen, dass die Forschung in Deutschland auch bei diesem Thema nicht an der Spitze war und es ist auch richtig, dass vergleichsweise wenig politische Konsequenzen daraus gezogen wurden, was an sozialepidemiologischen und soziologischen Kenntnissen trotzdem gewonnen wurde. Die Autor/innen fordern, dass künftig Maßnahmen stärker an der Bedürfnissen der besonders Betroffenen und sozial Schwachen ansetzen sollten. Auch dem ist nicht zu widersprechen. Aber der Punkt wird in einer recht paternalistischen Weise verhandelt, obwohl „Autonomie“ ein wichtiges ethisches Prinzip darstellt. Nicht (nur) für die Betroffenen sprechen, sondern auch mehr mit ihnen sprechen, ihre Stimme stärker zu Gehör kommen lassen, wäre in der Krise ein ethisches Gebot gewesen. Und auch hier sollte der Blick auf die Betroffenen nicht auf die Krise beschränkt bleiben. Ungerechtfertigte Ungleichheit war schon vor Corona nicht gut, auch nicht gesund übrigens, wie man zur Genüge weiß.
4. „Solidarity and the dangers of losing social cohesion“
In ihrem letzten Punkt verweisen die Autor/innen darauf, dass Solidarität viel mit Gegenseitigkeit zu tun hat, z.B. haben Kinder und Jugendliche viel Solidarität gezeigt und sollten somit auch etwas dafür erhalten. Die Überlegungen münden irritierenderweise aber in die Empfehlung, dass die Politik hier eine gute Kommunikation pflegen solle, aufzeigen solle, wie Lasten und Leistungen verteilt werden und „most importantly, emphasising common goals and focus on foregrounding the threads that keep us together, and not what sets us apart“ (ebenda: 3). Ist es Aufgabe der Ethik, die Politik in Kommunikationstechniken zu schulen? Zumal, wenn damit Botschaften nach dem Muster „wir sitzen alle in einem Boot“ ethisch heikel verbunden werden, die Interessensgegensätze und unterschiedliche Betroffenheiten zudecken, statt sie transparent zu machen und einem Ausgleich zuzuführen? Nicht nur an dieser Stelle wird virulent, wie wichtig auch unter ethischen Gesichtspunkten die Abwägung von Nutzen und Kollateralschäden der Infektionsschutzmaßnahmen für einzelne Bevölkerungsgruppen ist – und dass das ethische Prinzip „Nichtschaden“ bei Präventionsmaßnahmen mehr als bisher Berücksichtigung finden muss.
Wie gesagt, dem Grundanliegen der Autor/innen, ethischer Expertise mehr Gewicht zu geben, ist nur zuzustimmen. Die Perspektiven, die sie dazu eröffnen, müssten allerdings noch erweitert werden. Sonst wirkt das Fazit des Artikels, „the core of the recommendations“ (ebenda: 3), leicht wie eine bloße akademische Reviermarkierung:
„We believe two points are at the core of the recommendations outlined above: 1) Resiliency hinges on ‘ethics by design’, where regular ethical analysis is a relevant structural element of the system and can thus occur early, should a crisis emerge. Ethical considerations, such as those identified above, need to be proactively integrated into the design and operation of healthcare systems. This is particularly relevant for pandemic preparedness. 2) Ethicists need to be part of preparedness efforts. Once a crisis hits, they should be invited to the table early on, when plans are made in response to a new public health threat, and remain present, accompanying the entire decision-making process, and in subsequent reflections for future planning.“
Der Appell, knappe Mittel fair zu verteilen, war ja sicher nicht als Teilhabeanspruch der Ethik gemeint.
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Dank an BPR für hilfreiche Hinweise.
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