Bereits im Frühjahr 2020 ist sehr schnell sehr deutlich geworden, dass die Pandemie die Gesellschaft insgesamt auf allen Ebenen herausfordert: in der Gesundheitsversorgung, am Arbeitsplatz, in den Kitas, Schulen, den Heimen, in den Familien, im Rechtssystem, im sozialen Miteinander und mit Blick auf die globalen wie die regionalen wirtschaftlichen Abhängigkeiten. Die Menschen in den westlichen Bundesländern haben eine vergleichbar schwere gesellschaftliche Krise seit dem Krieg nicht mehr erlebt, anders als die in der früheren DDR Aufgewachsenen. Aber auch denen hat die Krisenerfahrung des Zusammenbruchs des Ostblocks vermutlich kaum zu mehr Handlungsfähigkeit in der Pandemie verholfen.
Es wird dauern, bis man wirklich versteht, was da passiert ist und ein halbwegs vollständiges „Bild“ der Pandemie als sozialer Krise sichtbar wird, sofern überhaupt je mehr als ein Mosaik zutage tritt. Das betrifft unmittelbar die Bemühungen um „Preparedness“, also die Aufarbeitung des Geschehenen mit Schlussfolgerungen für die Zukunft.
Zum Nachdenken darüber gehört zwingend auch die ethische Reflexion der Krise, von versorgungsnahen Fragen wie dem Umgang mit Triage über den Ausgleich verschiedener Interessen wie Gesundheitsschutz und Berufsfreiheit bis hin dazu, welche Mittel man für den Erhalt von Leben und Gesundheit alter und kranker Menschen einsetzt.
Im Lancet Regional Health Europe ist vor kurzem ein Artikel von Fiske et al. “Ethical insights from the COVID-19 pandemic in Germany: considerations for building resilient healthcare systems in Europe“ erschienen. Korrespondierende Autorin ist Prof. Alena Buyx, die derzeitige Vorsitzende des Deutschen Ethikrats.
Der Artikel macht auf eine Reihe wichtiger ethischer Diskussionspunkte in der Krise aufmerksam und ist insofern verdienstvoll. Er wirft allerdings auch einige Fragen auf, die deutlich machen, warum Geert Keil und Romy Jaster kürzlich bei ihrem philosophischen Nachdenken über Corona angemerkt haben, dass es bei Corona vielleicht auch gute Gründe gibt, wenn die Eule der Minerva ihren Flug erst in der Dämmerung beginnt. So wichtig es ist, frühzeitig ethische Expertise in die Politikberatung einzubinden, gilt wohl gleichzeitig, dass sich auch die ethischen Aspekte der Krise erst schrittweise und mit der Zeit zu einem Bild zusammenfügen werden. Das soll anhand der vier inhaltlichen Felder, die der Artikel anspricht, kurz veranschaulicht werden (siehe dazu Fiske et al.: 2-3):
1. „Scarce resources need to be distributed fairly“
Die Autor/innen sprechen als wichtiges ethisches Beratungsthema zu Recht die Verteilungsgerechtigkeit bei knappen Ressourcen, etwa Intensivbetten oder – anfangs – Impfungen an. Sie schlagen vor, dazu Checklisten zu entwickeln und Priorisierungsgremien („ad hoc-committees“, „priorty-setting groups“) einzurichten, um besser auf künftige Krisen vorbereitet zu sein. Das ist sinnvoll, aber ebenso sollte man darüber nachdenken, ob sich die ethische Beratung auf die Verteilung knapper Ressourcen im Gesundheitswesen beschränken kann oder ob nicht die Zuweisung von Ressourcen ins Gesundheitswesen selbst ethisch reflexionsbedürftig ist. Wenn die Pflege seit Jahrzehnten vor allem als Pflegenotstand in Erscheinung tritt und der ÖGD seit Jahren unterfinanziert ist, dann greift die ethisch beratene Verteilung knapper Ressourcen in einer Pandemie ersichtlich zu kurz. Ich gehe davon aus, dass die Autor/innen dem auch gar nicht widersprechen würden.
2. „Research ethics and coordination are necessary, even in moments of crisis“
Ein weiterer Punkt der Autor/innen ist die Forschungsethik, sowohl was die Qualitätsansprüche an Publikationen angeht, die in der Krise oft gegenüber der Schnelligkeit der Publikation ins Hintertreffen geraten sind (siehe die Flut an Preprints), als auch die Fokussierung von Forschungsmitteln auf bestimmte Themen, so dass ggf. lebensdienliche Forschung in wichtigen anderen Feldern aufgeschoben wurde. Das sind wichtige Fragestellungen. Noch wichtiger wäre, die ethische Rechtfertigung für die Gewichtung gesellschaftlicher Anstrengungen insgesamt und über die Forschung in der Krise hinaus zu thematisieren. Die Krise hat jedermann und jederfrau vor Augen geführt, dass man wohl die Schulen schon in der Vergangenheit hätte viel besser ausstatten können, ebenso die Pflegeheime, und mehr Mittel im Kampf gegen den Klimawandel wären auch da gewesen. Während „vorpandemisch“ um wenige Millionen für die Bildung oder die Pflege erbittert gestritten wurde, wurden nun im Krisenmodus, natürlich gut begründet, Milliarden für den Infektionsschutz und die Linderung der damit verbundenen sozialen und wirtschaftlichen Verwerfungen mobilisiert. Die Forschung mag Forscher/innen besonders nahe sein, aber die Welt ist größer.
3. „Crisis exacerbates existing structural inequities“
Dass die Krise die sozialen Gruppen unterschiedlich hart trifft, ist schnell klargeworden. Es ist richtig, worauf die Autor/innen hinweisen, dass die Forschung in Deutschland auch bei diesem Thema nicht an der Spitze war und es ist auch richtig, dass vergleichsweise wenig politische Konsequenzen daraus gezogen wurden, was an sozialepidemiologischen und soziologischen Kenntnissen trotzdem gewonnen wurde. Die Autor/innen fordern, dass künftig Maßnahmen stärker an der Bedürfnissen der besonders Betroffenen und sozial Schwachen ansetzen sollten. Auch dem ist nicht zu widersprechen. Aber der Punkt wird in einer recht paternalistischen Weise verhandelt, obwohl „Autonomie“ ein wichtiges ethisches Prinzip darstellt. Nicht (nur) für die Betroffenen sprechen, sondern auch mehr mit ihnen sprechen, ihre Stimme stärker zu Gehör kommen lassen, wäre in der Krise ein ethisches Gebot gewesen. Und auch hier sollte der Blick auf die Betroffenen nicht auf die Krise beschränkt bleiben. Ungerechtfertigte Ungleichheit war schon vor Corona nicht gut, auch nicht gesund übrigens, wie man zur Genüge weiß.
4. „Solidarity and the dangers of losing social cohesion“
In ihrem letzten Punkt verweisen die Autor/innen darauf, dass Solidarität viel mit Gegenseitigkeit zu tun hat, z.B. haben Kinder und Jugendliche viel Solidarität gezeigt und sollten somit auch etwas dafür erhalten. Die Überlegungen münden irritierenderweise aber in die Empfehlung, dass die Politik hier eine gute Kommunikation pflegen solle, aufzeigen solle, wie Lasten und Leistungen verteilt werden und „most importantly, emphasising common goals and focus on foregrounding the threads that keep us together, and not what sets us apart“ (ebenda: 3). Ist es Aufgabe der Ethik, die Politik in Kommunikationstechniken zu schulen? Zumal, wenn damit Botschaften nach dem Muster „wir sitzen alle in einem Boot“ ethisch heikel verbunden werden, die Interessensgegensätze und unterschiedliche Betroffenheiten zudecken, statt sie transparent zu machen und einem Ausgleich zuzuführen? Nicht nur an dieser Stelle wird virulent, wie wichtig auch unter ethischen Gesichtspunkten die Abwägung von Nutzen und Kollateralschäden der Infektionsschutzmaßnahmen für einzelne Bevölkerungsgruppen ist – und dass das ethische Prinzip „Nichtschaden“ bei Präventionsmaßnahmen mehr als bisher Berücksichtigung finden muss.
Wie gesagt, dem Grundanliegen der Autor/innen, ethischer Expertise mehr Gewicht zu geben, ist nur zuzustimmen. Die Perspektiven, die sie dazu eröffnen, müssten allerdings noch erweitert werden. Sonst wirkt das Fazit des Artikels, „the core of the recommendations“ (ebenda: 3), leicht wie eine bloße akademische Reviermarkierung:
„We believe two points are at the core of the recommendations outlined above: 1) Resiliency hinges on ‘ethics by design’, where regular ethical analysis is a relevant structural element of the system and can thus occur early, should a crisis emerge. Ethical considerations, such as those identified above, need to be proactively integrated into the design and operation of healthcare systems. This is particularly relevant for pandemic preparedness. 2) Ethicists need to be part of preparedness efforts. Once a crisis hits, they should be invited to the table early on, when plans are made in response to a new public health threat, and remain present, accompanying the entire decision-making process, and in subsequent reflections for future planning.“
Der Appell, knappe Mittel fair zu verteilen, war ja sicher nicht als Teilhabeanspruch der Ethik gemeint.
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Dank an BPR für hilfreiche Hinweise.
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