“Public Health“, die Theorie und Praxis öffentlicher Gesundheit, wird oft als angloamerikanischer Reimport der Sozialmedizin nach Deutschland betrachtet. Das ist es in gewisser Weise auch. Der Nationalsozialismus hatte bekanntlich die ambitionierte Tradition der Sozialmedizin in Deutschland, für die Namen wie Johann Peter Frank, später Rudolf Virchow, Salomon Neumann, Gustav Tugendreich oder Ludwig Teleky stehen, trotz schon vorher einsetzender Erosionsprozesse, für die z.B. Alfred Grotjahn stehen mag, gründlich ruiniert. An die Stelle der Sozialhygiene trat die Rassenhygiene, und an die Stelle der Sorge um die sozial Schwachen, auch des leidenden einzelnen Mitmenschen, traten die Sorge um den starken, wehrtüchtigen Volkskörper, die Verachtung der Schwachen und letztlich ihre massenhafte Ermordung. Davon hat sich die Sozialmedizin bis heute nicht wirklich erholt. Immerhin gibt es seit den 1980er Jahren wieder eine akademische Verankerung von Public Health als universitärer Disziplin, und neuerdings auch ein Bewusstsein dafür, dass die Gesundheitsämter dazugehören.
Das historische Kainsmal, das Public Health in Deutschland trägt, hat vielleicht einen Anteil daran, dass die theoretischen Grundlagen von Public Health gerade an der Schnittstelle von Gemeinschaft und Individuum Baustellencharakter haben:
1. Wie definiert die Disziplin Public Health eigentlich das „Public“ in ihrem Namen?
2. Ist Public Health die öffentliche Sorge um die Gesundheit aller (Sigrid Stöckel), oder sind davon doch manche Menschen ausgeschlossen? Gibt es, über die ungreifbare Summengröße der „Gesundheit aller“ hinaus, auch eine gesundheitswissenschaftlich tragfähige Ausfüllung „öffentlicher Gesundheit“ oder eines „Gemeinwohls“, oder eine kritische Auseinandersetzung mit solchen Konzepten?
3. Vertritt Public Health ein wie auch immer zu definierendes Gemeinwohl oder bringt es selbst einen interessengebundenen Standpunkt zum Ausdruck?
4. Welche konkreten Instrumentarien hat Public Health entwickelt, um Erfordernisse der öffentlichen Gesundheit, oder staatliche Vorgaben, die als solche Erfordernisse gelten, mit individuellen Bedürfnissen und Interessen auszutarieren?
5. Ist „Global Health“, ein recht neues Feld, die internationale Verallgemeinerung von Public Health? Ist das, was gut für unsere Gesundheit ist, auch gut für die Gesundheit der Menschen in Madagaskar oder Afghanistan?
6. Ist der Virchow zugeschriebene Satz, Politik sei nichts anderes als Medizin im Großen, ein Satz, der politische Verantwortung von den Gesundheitswissenschaften einfordert, über eine spezialistische Selbstbeschränkung hinaus, oder ein Satz, der das Mandat einer Wissenschaft überfordert, ein Fall der Epistemierung des Politischen, die im schlimmsten Fall einem Volkskörperdenken Vorschub leistet? Kann Gesundheit also Leitbild der gesellschaftlichen Ordnung sein?
7. Wie definiert Public Health ihr Verhältnis zu einer alltagsbestimmenden Gesundheitskultur, einem „Healthismus“?
8. Historisch waren Gesundheitslehren immer „Ordnungslehren“ (Heinrich Schipperges). Ist auch Public Health eine „Ordnungslehre“? Soll oder kann Public Health auch einen Beitrag dazu leisten, dass die Gesellschaft einen gemeinschaftlichen Sinn findet, oder zumindest sinnstiftende Tätigkeiten ihrer Mitglieder befördert? Hat Public Health religiöse Funktionen?
9. Ist Public Health gar eine Staatswissenschaft, die im Sinne Hegels vernünftig auf eine staatliche Ordnung hin denkt? Oder ist sie eine herrschaftskritische Wissenschaft? Was würde das jeweils für einzelne Bereiche von Public Health bedeuten, z.B. für die Planung und Bewertung von Impfkampagnen, für die Gesundheitsökonomie, für die Gesundheitsberichterstattung usw.?
10. Ist Public Health-Ethik auch ein Ausdruck von Theorielücken genau bei diesen Fragen? Oder ein Baustein zum Füllen der Lücken?
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