Da dachten wir im Frühjahr, jetzt wird geimpft, dann ist Corona vorbei. Es kam bekanntlich anders. Die Impfstoffe erzeugen keine sterile Immunität, damit war das Ziel der Herdenimmunität mehr oder weniger dahin. Weiter ging’s damit, dass die Delta-Variante ansteckender war als ihre Vorgänger und effizienter bisher verschonte Gruppen infiziert hat. Dann kamen die Nachrichten über den schneller als erwartet nachlassenden Impfschutz, dazu die Impfskepsis in manchen Teilen der Bevölkerung. Und jetzt, als ob das alles nicht gereicht hätte, die Omikron-Variante des Virus. Man befürchtet eine explosive Entwicklung der Infektionszahlen. Fachleute nehmen für Omikron unter den jetzt schon praktizierten Infektionsschutzmaßnahmen eine effektive Reproduktionszahl R(t) von 3-4 an. Delta hatten wir in Deutschland Mitte Dezember mit Mühe auf ein R(t) etwas unter 1 gedrückt.
Corona ist wirklich ein Lehrstück, dass es anders kommt, als man denkt. Gut, manche wussten alles schon vorher, manchmal die gleichen Leute, die auch alles gewusst hätten, wenn es ganz anders gekommen wäre. Das sind die entwicklungsflexiblen Hindsight-Experten, sozusagen das Pendant zum anpassungsfähigen Politiker, oder den jeweils weiblichen Erscheinungsformen derselben. Nur hat es die Politik schwerer, sie soll wissen, was zu tun ist, bevor alles vorbei ist und jeder weiß, was man hätte tun sollen, als man es noch nicht wusste.
Für Entscheidungen unter Unsicherheit gibt es grundsätzlich zwei Optionen: Abwarten, was kommt, oder Vorbeugen, damit es möglichst nicht oder nicht so schlimm kommt. Beide haben unter bestimmten Bedingungen ihre Berechtigung. Wenn das Schadenspotential sehr groß ist, der Eintritt nicht völlig unwahrscheinlich und eine Entwicklung in Richtung Realisierung des Schadenspotentials, einmal in Gang gesetzt, nur noch schwer aufzuhalten ist, spricht viel für Vorbeugen.
Das ist der Grundgedanke hinter dem berühmten „Vorsorgeprinzip“, das man insbesondere aus der Umwelt- und Gesundheitspolitik kennt. In der Umweltpolitik hat es in Kapitel 35 der Agenda 21 eine Kodifizierung gefunden:
„Die Wissenschaft wird (…) zunehmend als wesentliches Element der Suche nach gangbaren Wegen hin zu einer nachhaltigen Entwicklung verstanden. (…) Mehr wissenschaftlich fundiertes Wissen ist erforderlich, um das Verständnis für die Wechselwirkung zwischen Wissenschaft und Gesellschaft zu vertiefen und diese Wechselwirkung zu unterstützen. (…)
Angesichts der Gefahr irreversibler Umweltschäden soll ein Mangel an vollständiger wissenschaftlicher Gewissheit nicht als Entschuldigung dafür dienen, Maßnahmen hinauszuzögern, die in sich selbst gerechtfertigt sind. Bei Maßnahmen, die sich auf komplexe Systeme beziehen, die noch nicht voll verstanden worden sind und bei denen die Folgewirkungen von Störungen noch nicht vorausgesagt werden können, könnte der Vorsorgeansatz als Ausgangsbasis dienen.“
Man sieht sofort, dass solche Formulierungen auslegungsbedürftig sind. Das Vorsorgeprinzip liefert weder einen klaren Algorithmus noch definierte Anwendungsbedingungen. Es beleuchtet den Weg durch die Dunkelheit der Unsicherheit nur ein bisschen. Immerhin sagt es, was auch der gesunde Menschenverstand sagt und was unsere Vorfahren beim Rascheln im Gebüsch auch schon beachtet haben: Abwarten, bis man alles weiß, ist nicht immer der beste Rat.
Die Impfskeptiker sind, was ihre individuelle Entscheidung zum Impfen angeht, Hardcore-Vorsorgeprinzipialisten. Bevor sich das inzwischen gut bezifferbare minimale Restrisiko der Impfung realisiert, vermeiden sie lieber die Impfung. Sie wollen abwarten und bedenken dabei nicht die Opportunitätskosten, die eintreten, wenn sie sich stattdessen infizieren. Die Politik hat dagegen im letzten Jahr gelernt, dass bei Infektionen Abwarten dazu führen kann, dass umso bitterere Medizin nötig wird. Und, dass im Erfolgsfall auch noch die Notwendigkeit der Maßnahmen infrage gestellt wird: „War es denn wirklich nötig, dieses oder jenes zu tun?“ Vielleicht war jenes nicht nötig, kann sein, das ist Teil des Problems, wenn man nur eingeschränktes Wissen hat. Auf die Maßnahmen, die nicht nötig waren, hätte man verzichten können. Und Maßnahmen, die nicht einmal wirksam waren, hätte man unterlassen sollen. Wenn man‘s halt immer wüsste.
Was soll man also jetzt bei der Omikron-Variante tun? Oder nicht tun? Bei einem effektiven R-Wert von 3-4 ist zumindest längeres Abwarten keine gute Option, wenn das Virus nicht ganz harmlos geworden ist. In der Altersgruppe 60+ sind 12 % noch gar nicht geimpft – also 2,9 Mio. Menschen in der Hochrisikogruppe, und auch viele tausend Vulnerable im jüngeren Alter. Wie harmlos Omikron ist, weiß man leider noch nicht. Die anekdotischen Berichte aus Südafrika mit überwiegend milden Verläufen lassen sich nicht gut auf Deutschland übertragen. Hat man nun genug Wissen, um die sozialen Kontakte wieder radikal zu beschränken, womöglich mit einem neuen Lockdown, wie gerade in den Niederlanden geschehen? Hat man genug Wissen, um noch ein wenig abzuwarten, also Evidenz für Nichthandeln?
Egal wie die Sache ausgeht, manche werden hinterher wieder alles genau gewusst haben. Hilfreich wäre, man wüsste es vorher.
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