Am Freitag hat das Sachverständigengremium nach § 5(9) IfSG seinen Evaluationsbericht vorlegt. Er beklagt mehrfach die unzureichende Datenlage und in diesem Zusammenhang auch die mangelhafte Forschungsinfrastruktur in Deutschland zur Evidenzbasierung (ex ante) bzw. zur Evaluation (ex post) von Infektionsschutzmaßnahmen – man könnte ergänzen, von Präventionsmaßnahmen insgesamt.
Der Bericht beschränkt sich daher an verschiedenen Stellen auf sehr zurückhaltende Aussagen. Das gefällt manchen, andere ärgern sich darüber, und beides findet Freunde in den Pro&Contra-Maßnahmen-Lagern. Unter Querdenkern wird der Hinweis des Sachverständigengremiums auf die mangelnde Evidenz zu manchen Fragestellungen erwartungsgemäß so interpretiert, man sei zu feige zu sagen, die Maßnahmen seien wirkungslos gewesen.
Triggerwarnung: Im Folgenden greife ich einen Beitrag eines Autors auf, der unter dem Pseudonym „Andreas Zimmermann“ auf der auf der sog. “Achse des Guten“ sein Bestes gibt. Das Lesen seines Textes kann von Stil und Inhalt her zu Brechreiz führen.
Interessant ist aber seine Interpretation des Satzes „absence of evidence is not evidence for absence“, also des Fehlschlusses von fehlenden Daten für eine Wirksamkeit auf die Unwirksamkeit einer Intervention:
„Dieser Satz ist im Juli 2022 nicht nur Ausweis sowohl mangelnder Kreativität als auch mangelnder Intellektualität (…), sondern schlicht und einfach falsch. Denn die Abwesenheit von Evidenz für Etwas wird sehr wohl regelmäßig als Evidenz für die Abwesenheit dieses Etwas betrachtet. Wer dies bezweifelt, der möge nur ganz kurz versuchen, Beweise für die Nichtexistenz von wahlweise Drachen, dem Weihnachtsmann oder Reinhold Messners Yeti zu finden. Er wird ganz schnell feststellen, dass es diese nicht gibt. Denn die Nichtexistenz eines Yetis lässt sich nicht beweisen. Dennoch betrachten wir die Abwesenheit von Evidenz, die seine Existenz unterstützt, zu Recht als Evidenz, dass Yetis nicht existieren. Das Gleiche gilt für Drachen, Weihnachtsmänner und eben auch für den „Nutzen” der Coronamaßnahmen.“
Wir hatten dieses Thema hier schon einmal diskutiert, mit Blick auf die fehlende Evidenz für die Wirksamkeit homöopathischer Mittel über Placebo hinaus. In gewisser Weise hat „Zimmermann“ recht, aber er vergisst, dass hier der Kontext wichtig ist. Seine Beispiele machen diesen Kontext deutlich: Wenn die A-priori-Wahrscheinlichkeit für die Existenz eines Phänomens marginal ist, dann sind sehr starke Belege nötig, um Evidenz zu erzeugen. Wenn wiederholte Versuche, diese Evidenz zu schaffen, fehlschlagen, wird man das so interpretieren, dass es das Phänomen wohl, wie vermutet, nicht gibt. Das sieht anders aus, wenn die A-priori-Wahrscheinlichkeit für seine Existenz nicht so abgründig schlecht ist. Die Suche nach dem Higgs-Teilchen hat man aus guten Gründen auch nach vielen empirischen Fehlschlägen nicht aufgegeben – zu Recht, wie sich gezeigt hat.
Diese A-priori-Wahrscheinlichkeit ist ein entscheidender Punkt, übrigens auch, um das vor allem in Kreisen der „Es gibt mehr zwischen Himmel und Erde, als sich unsere Schulweisheit träumen lässt“-Community beliebten Galileo-Gambit zu vermeiden, also den Hinweis, dass große Entdeckungen immer wieder einmal anfangs vehement abgelehnt wurden. A priori meint hier: Vor der empirischen Hypothesenprüfung. Damit kommt ein subjektives Element ins Spiel. Im konkreten Fall: Wer beispielsweise die Wirksamkeit von Masken a priori für sehr unwahrscheinlich hält, der wird mangelnde Evidenz als Bestätigung seiner Annahme interpretieren. Wer eine andere Ausgangshypothese hat, wird eher in Richtung „absence of evidence is not evidence for absence“ argumentieren. Der confirmation bias kann auch statistisch verpackt sein.
Während bei der Homöopathie der naturwissenschaftliche Erkenntnisstand es sehr unwahrscheinlich macht, dass klinische Prüfungen mehr als ein Zufallsrauschen ergeben, ist das bei den Masken anders. Hier gibt es gute naturwissenschaftliche Evidenz für die Wirksamkeit unter Laborbedingungen („efficacy“), aber Probleme mit dem Nachweis der Wirksamkeit unter Alltagsbedingungen („effectiveness“). Einflussfaktoren wie die Art und Dauer des Maskentragens, des Settings, des Klimas, gesellschaftlicher Begüßungsrituale, interagierende andere Infektionsschutzmaßnahmen usw. erschweren die Evaluation, individuell wie bevölkerungsbezogen, und das umso mehr, je spezifischer die evaluative Fragestellung ist. Die Frage „Wirken Masken gegen SARS-CoV-2“ wäre wohl nur mit Radio Eriwan zu beantworten: „Im Prinzip ja, aber …“. Man will aber wissen, ob sie in Pflegeheimen vor infizierten Besuchern geschützt haben, in Schulen am Sitzplatz in regelmäßig belüfteten oder wenig belüfteten Räumen, in Gaststätten auf dem Weg zum Tisch oder ob die Maskenpflicht einen Mehrwert gegenüber einer Empfehlung gebracht hat.
Dazu fehlen aussagekräftige Daten zum Maskengebrauch unter den konkreten Rahmenbedingungen in Deutschland. Auf diese Problematik weist der Bericht des Sachverständigengremiums zu Recht hin.
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