In Kriegszeiten wird alles doppelbödig, zum Zeichen für irgendetwas, hintergründig und deutungsbedürftig. Letzte Woche sind die Gas-Pipelines Nord Stream 1 und 2 in der Ostsee gesprengt worden. Was steckt dahinter, wer will uns was damit sagen? Heute melden Medien, dass Putin kein Gas mehr an Italien liefern will. Ob er darauf setzt, Italien über die rechte Wahlsiegerin Meloni zu neutralisieren? Gestern hat Putin die besetzten ukrainischen Gebiete annektiert. Einfach so, weil er es kann. Oliver Welke hat das in der „Heute Show“ ganz zutreffend in das Bild übersetzt, dass sich hier ein Autodieb selbst den Fahrzeugbrief ausstellt. Weltpolitik als makabrer Witz.
Putin und seine Satrapen wollen mit der Annexion neben der Befriedigung ihrer egomanen Phantasien von Russlands Größe auch signalisieren, dass sie bereit sind, den Spieleinsatz zu erhöhen. Aber um wie viel? In den Medien wird allerorten spekuliert, ob Putin bei einem Vordringen der Ukraine auf jetzt – nach seiner Lesart – russisches Staatsgebiet doch die Atombombe einsetzen könnte.
Abstrakt wird sich die Frage, „tut er es oder tut er es nicht“ nicht beantworten lassen. Dass der lupenreine Demokrat Putin sich um ein paar tausend Tote mehr oder weniger nicht schert, hat er oft genug unter Beweis gestellt. Er ist bereit, mit hohem Einsatz zu spielen, auch wenn es Russland selbst viel kostet, an Wohlstand und Menschenleben. Solange der Mehrheit in Russland nationaler Größenwahn als Ersatz für McDonalds, gute Literatur und politische Mitbestimmung reicht, kann er ihr mehr zumuten als das die Politik im Westen kann. Der ganz große Krieg wäre ihm dagegen als Einsatz vermutlich zu hoch, sonst bleibt von Russland nichts übrig und ihm die narzisstische Anerkennung verwehrt, Russlands imperiale Größe wiederhergestellt zu haben. Dafür braucht es lebende Claqueure, egal wie elend sie hausen.
Aber vor diesem Hintergrund hat Putin erst einmal die Eskalationsdominanz. Auch bei der Bombe. Sicher wird er Angriffe auf weitere europäische Länder durchkalkulieren: Wie weit lässt sich in hybrider Kriegsführung westliche Infrastruktur beschädigen, ohne dass der Westen zurückschlägt, vielleicht ebenfalls in hybrider Weise, in Syrien oder im Kaukasus? Lässt sich der Westen paralysieren, wenn Russland militärisch einen Landzugang zur Exklave Kaliningrad erzwingt, weil das als Signal zu lesen wäre, dass er, Putin, bei Gegenwehr der NATO zum Einsatz der Bombe bereit ist? Oder müsste er in Rechnung stellen, dass der Westen doch das Risiko eingeht, im Extremfall Stuttgart im Atompilz verdampfen zu lassen, und sich womöglich mit Irkutsk zu revanchieren? Ein zu hoher Einsatz für Putin? Ein zu hoher Einsatz für den Westen?
Das Durchspielen ähnlicher Fragen im kalten Krieg war einst Tagesgeschäft von „Think Tanks“ wie der RAND Corporation. Man darf sicher sein, dass überall auf der Welt derzeit spieltheoretische Analysen wieder auf Hochtouren laufen, mit dem Versuch, einzuschätzen, wer unter welchen Umständen mehr Menschen zu opfern bereit wäre und wo es sich lohnen könnte, noch eine Schippe aufzulegen. Putins Menschenverachtung, seine Bereitschaft zur Barbarei, ist einer seiner Vorteile. Dass der Westen in Russland mehr mit McDonalds statt mit seinen vielzitierten Werten in Erscheinung getreten ist, ist einer der Nachteile des Westens. Fast Food hat nicht genug Soft Power.
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