Beim Vergleich der HRs zwischen den Gruppen hat man es mit einer ganzen Reihe von potentiellen Verzerrungsfaktoren zu tun. Hier sei nur ein Punkt angesprochen: Bei den HRs geht es nicht um Sterberaten (absolute Risiken), sondern um Ratenverhältnisse (relative Risiken). Es ist davon auszugehen, dass die Gruppen eine unterschiedlich hohe Mortalität bei der Erstinfektion haben, bei den Ungeimpften höher als bei den Geimpften. Das Mortalitätsrisiko bei Reinfektion muss daher bei ihnen entsprechend hoch ausfallen, damit das HR über 1 kommt. Wenn aus der Gruppe der Ungeimpften viele Vulnerable schon bei der Erstinfektion gestorben sind, trifft die Reinfektion auf eine besonders robuste Gruppe. Ein geringerer Zuwachs beim Mortalitätsrisiko bei den Ungeimpften im Vergleich mit den Geimpften steht dann nicht mit einer unerwünschten Wirkung der Impfung in Zusammenhang, sondern mit dem hohen Sterberisiko der Ungeimpften bei der Erstinfektion. Analoge Punkte wären bei den Geimpften zu bedenken. Zu vergleichen wären hier absolute Mortalitätsrisiken, nicht relative. Auch andere Gruppenunterschiede sind möglicherweise durch die Adjustierungen geschlüpft, bis hin zum Testverhalten.

Die Studienautoren schreiben denn auch völlig korrekt und unverheimlicht:

“Analyses of prespecified subgroups based on vaccination status before reinfection (no vaccination, one vaccination or two or more vaccinations) showed that reinfection (compared to no reinfection) was associated with a higher risk of all-cause mortality, hospitalization, at least one sequela and sequelae in the different organ systems (Fig. 2 and Supplementary Table 4) regardless of vaccination status.”

Insofern ist Gunter Franks „Enthüllung“ wohl ein Missverstehen der HRs in der Tabelle. Absicht würde ich ihm nicht unterstellen wollen. Er ist eher dem überall lauernden confirmation bias zum Opfer gefallen: Er sah, was er sehen wollte.

Ich habe über die Tabelle kurz mit Kollegen gesprochen, die mehr von Epidemiologie verstehen als ich, schließlich bin auch ich nicht gegen den confirmation bias gefeit, und habe auch sonst schon viel Freude mit Fehlern aller Art gehabt. Aber diese Sache sahen sie so wie ich. Einer sagte nett noch: „Aber wenn die Querdenker/innen Gefallen an dem Artikel finden, dann räumen sie ja schon mal ein, dass es SARS-CoV-2 gibt, dass man daran erkranken kann und dass man daran sterben kann. Ist doch schon mal ein Schritt in die richtige Richtung.“

Vielleicht sollte man es aus der Perspektive sehen.

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Kommentare (9)

  1. #1 Staphylococcus rex
    5. Dezember 2022

    Ein Aspekt, der hier nicht angesprochen wurde, ist die Frage nach den zirkulierenden Subtypen in der Zeit der Studie. In der Anfangszeit der Covid-Epidemie waren die Fallzahlen in absoluten Zahlen gering, auch gab es Reinfektionen eher wenn Primärinfektion und Sekundärinfektion durch unterschiedliche Virustypen verursacht wurden.

    Die Gruppe der ungeimpften dürfte einen Querschnitt aller Infektionen seit Frühjahr 2021 (damals gab es alpha bzw. die britische Variante) bis jetzt darstellen. Ich bin gerade etwas verwirrt, meine zweite Comirnaty-Impfung war drei Wochen nach der ersten, in diesem kurzen Intervall dürfte es schwierig sein, eine ausreichende Zahl an Reinfektionen zu erfassen, es sei denn, man wählt Großbritannien, wo Anfang 2021 das Zeitintervall zwischen zwei Astra-Zeneca-Impfungen bewußt gestreckt wurde. Oder man wählt eine Region, wo der Impfstoff von Johnson und Johnson in signifikanter Menge verabreicht wurde. Angenommen, die zweite Impfung wäre erst im Herbst 2021 verabreicht worden, dann würde die Subgruppe mit nur einer Impfung die Infektionen durch alpha und den Beginn der delta-Welle abbilden, während Personen mit zwei oder mehr Impfungen eher mit delta oder omikron zu tun hatten.

    Leider fehlen in der o.g. Tabelle einige wichtige Informationen, aber ich sehe einige weitere Möglichkeiten Äpfel mit Birnen zu vergleichen.

    PS: Ich würde die sterile Immunität nach RNA-Impfung nicht unbedingt schlechtreden wollen. Der Impfstoff wurde auf Basis des Wildtyps entwickelt. Gegen den Wildtyp hatte die Impfung bereits nach 1-maliger Gabe einen guten Effekt, bei alpha wurden zwei Applikationen notwendig, bei delta brauchte man drei Gaben und bei omikron ist die sterile Immunität selbst bei vier Gaben zeitlich limitiert. Bei der ganzen Diskussion dürfen wir nicht vergessen, der Wildtyp und alpha sind praktisch ausgestorben.

    • #2 Joseph Kuhn
      6. Dezember 2022

      @ Staphylococcus rex:

      Zu den Varianten: siehe die Fußnote unter der Tabelle.

      Was mich mehr irritiert, ist die enorme Zahl der Faktoren, für die gewichtet wurde. Aber das müssten gelernte Statistiker kommentieren.

  2. #3 Richard
    6. Dezember 2022

    ja, für den Betrachter stellt sich die Frage, ob diese Gewichtungen und Berechnungen zu HR geführt haben, die klinisch keine Relevanz haben bzw. wenig mit der Impfeffektivität zu tun haben. Die Erkenntnis aus der Studie ist für mich momentan nur, dass Reinfektionen auch für Geimpfte nicht gut sind.

  3. #4 rolak
    6. Dezember 2022

    Mal grundlegend gefragt: Ist es für eine geimpfte Person bereits eine Re-Infektion, wenn sie sich das erste Mal nach der Impfung infiziert oder bedarf es dafür ebenfalls zweier ‘natürliche’ Arbeitsaufträge fürs Immunsystem?

    • #5 Joseph Kuhn
      6. Dezember 2022

      @ rolak:

      Es heißt: reinfection (two or more infections, n = 40,947)

  4. #6 schorsch
    6. Dezember 2022

    Ich würde auch vermuten, dass die Gruppe der einmalig geimpften im Durchschnitt älter ist als die ungeimpften. Ebenso, dass Personen mit höherem Infektionsrisiko (z. B. durch Arbeits- oder Wohnsituation) eher dazu geneigt sind, sich impfen zu lassen; sich damit aber auch nach der Impfung weiterhin in einem gefährdeteren Umfeld bewegen als ungeimpfte.

    Das sind meinerseits nur Spekulationen, aber ist Franks Annahme, er könne die beiden Gruppen ähnlich gegenüberstellen wie Experimental- und Kontrollgruppe, völlig unbelegte Spekulation und Spökenkiekerei.

    Wer selbst nicht lesen kann, Herr Frank, ist wohl kaum geeignet, die Lesefähigkeit anderer zu beurteilen!

    • #7 Joseph Kuhn
      6. Dezember 2022

      @ schorsch:

      Alter: siehe Fußnote unter der Tabelle. Was die Gewichtung nach Alter im Spaltenvergleich macht, müsste man sich natürlich genauer anschauen.

  5. #8 rolak
    7. Dezember 2022

    two or more infections

    Tja, so hätte ich das auch gesehen, doch dann stutzte ich ein wenig über die Zahlen: Der komplette pool war ([abstract] 1inf=443.588, 2⁺inf=40.947, 0inf=5.334.729). Wie kommen dann aber in Table4 insgesamt 484535 Reinfizierte mit unterschiedlichem Impfstatus zusammen, was sicher nicht zufällig (1inf + 2⁺inf) entspricht?

  6. #9 BPR
    7. Dezember 2022

    @ rolak #8
    Zunächst zu den Fallzahlen: Abbildung 1 zeigt den Kohortenfluss – es gab 443.588 Personen mit einer Infektion und 40.947 Personen mit mindestens einer Reinfektion, macht zusammen 484.535 Personen. Dieselben 484.535 Personen tauchen in Zusatztabelle 4 stratifiziert nach Impfstatus vor Infektion auf, nämlich 202404 ohne Impfung, 56986 mit einer Impfung und 225145. Dann gab es noch 5,33 Mio Personen ohne Infektion.

    Das Erkenntnisinteresse dieser Studie richtet sich wie schon der Titel sagt primär auf die Auswirkung einer Reinfektion. Insofern werden re-infizierte und nicht-reinfizierte Infizierte miteinander verglichen, in Zusatztabelle 3 wird das Exzessrisiko einer Reinfektion nach 6 Monaten quantifiziert: zusätzlich 19,33 Todesfälle pro 1000 Personen (knapp 2 Prozent), zusätzlich 100,12 Hospitalisierungen und zusätzlich 235,91 Personen (mehr als 20 %) mit mindestens einer Corona-Folge usw. Diese absolute Risikoerhöhung entspricht in derselben Reihenfolge relativen Risiken (Hazard Ratios) von 2,17, 3,32 und 2,10. Botschaft aus Zusatztabelle 3: eine Reinfektion erhöht das Sterberisiko etwa um den Faktor 2, das Hospitalisierungsrisiko um den Faktor 3 usw.

    Die Tabelle 4 stratifiziert diese Hazard Ratios zusätzlich für eine der möglichen Störgrößen, nämlich die Impfanamnese. Botschaft hier wie von den Autoren dargestellt: Reinfektionen sind (wie schon gesehen) für alle gefährlich, für Ungeimpfte hinsichtlich der Sterblichkeit etwas weniger als für Geimpfte. Die Tabelle gibt einen ganzen Fächer weiterer relativer Risiken für weitere Endpunkte. Für zahlreiche möglichen Einflussgrößen wurde rechnerisch kontrolliert (Fußnote zur Tabelle, schon in #7 gesagt). Doch sind auch die Konfidenzintervalle zu berücksichtigen.

    Abbildung 5 schichtet gesundheitliche Folgen zusätzlich nach der Zahl der Re-Infektionen ab und findet einen ansteigenden Gradienten für die zahlreichen untersuchten Folgen. Nun dürften mehrfach Re-Infizierte hinsichtlich Lebensweise und/oder Immunkompetenz eine besondere Gruppe sein und man darf fragen, wie gut die rechnerische Kontrolle der Störgrößen hier gewesen sein kann.

    Die Public-Health-Botschaft ist einfach: meidet Re-Infektionen.