In der Ukraine wird gerade ein mehrschichtiger Konflikt ausgetragen. In erster Linie geht es schlicht darum, dass sich die Ukraine gegen den Überfall Russlands verteidigt, völkerrechtlich eine klare Sache. Damit verknüpft ist der Konflikt zwischen den USA und Russland um die Dominanz in Osteuropa und die Präsenz der NATO in früheren Teilen der Sowjetunion, die Russland als seine Einflusssphäre beansprucht – als Objekte der Begierde seiner imperialen und revanchistischen Strategie. In Russlands Rechtfertigungen eingewoben wiederum sind Ideologeme, die man im Westen auch auf der rechtspopulistischen und neofaschistischen Seite des politischen Spektrums findet und die anschlussfähig bis weit in die Mitte der gutbürgerlichen Gesellschaft sind. Sie bilden auch ohne kohärente Ideologie ein Mosaik an „Werten“, die zueinander passen, gegen die Moderne mit ihrem Erbe aus der Aufklärung: gegen Freiheit, Gleichberechtigung, Menschenrechte und globale Verantwortung.
Männlichkeit
„Männlichkeit“ ist ein zentrales Ideologem der neuen Antimoderne. Es erfüllt eine Brückenfunktion zwischen Werten wie Härte, Ehre, Entscheidungsstärke, Soldatentum, Gehorsam und Opferbereitschaft, keine Angst haben, nicht weinerlich sein oder der Pflege eines traditionellen Familien- und Frauenbilds einschließlich des Kampfes gegen die „Genderideologie“ und des Eintretens für strikte Abtreibungsverbote. Das verbindet von Ernst Jünger bis Kardinal Meisner. Und wer von uns sich noch nie über exzessive Gendersternchen geärgert hat, werfe den ersten Stein. Für schlichte Gemüter und vielleicht für auch unsere verdrängten patriarchalen Prägungen hat Putin das mit seinen Oben-ohne-Reiter-Auftritten nonverbal und instafähig ins Bild gesetzt.
Nationalismus
Der neoliberalen Globalisierung, die von vielen Menschen als Auslieferung an eine ungreifbare Finanzwelt erlebt wird, wird die Zugehörigkeit zur Nation gegenübergestellt. Dabei wird die eigene Nation über die anderen erhoben, in offenem Exzeptionalismus oder, etwas raffinierter, als Fokussierung auf die eigene Nation: „Make America great again“. Es bleibt ein reines Ideologem, die russischen Oligarchen sind so globalistisch wie Trumps egomane Machtprojektionen es waren. Abgewehrt wird vor allem eine gemeinsame Verantwortung für die Zukunft der Menschheit.
Autoritarismus
Die liberale Demokratie gilt den Antimodernen als korrupte Elitenherrschaft. Dem wird ein Ideal autoritärer Führung entgegengestellt, die den Volkswillen umsetzt. „I am your voice“, hieß es bei Trump. Volkstribune sind – für eine gewisse Zeit – immer erfolgreich, sie verkörpern sozusagen in persona die einfache Antwort auf komplexe Fragen. Dass die Orbans, Trumps oder Putins Korruption regelrecht als Herrschaftsprinzip benutzen, um Loyalität in ihrem Umfeld zu erzeugen, wird umgedeutet in verdiente Belohnungen durch den gütigen Herrscher. Je nach System gibt es Verfolgung von Journalisten und Oppositionellen obendrein. Korruption und Gewalt sind Geschwister.
Kollektivismus
Der Einzelne, und erst recht die Einzelne, hat sich dem imaginierten Ganzen, dem vom Volkstribun vertretenen Volk oder der Nation unterzuordnen. Damit werden die einzelnen Menschen zugleich auch von ihrer Verantwortung für das Ganze entbunden. Unterordnung genügt. Alfred Fretwurst, die opportunistische Figur aus Götz Alys „Volk ohne Mitte“, hat keine Verantwortung für den Klimawandel, für ertrinkende Flüchtlinge im Mittelmeer oder für Bombenopfer in Kiew. Jeder sehe, wie er selbst zurechtkommt. Im Neoliberalismus hat man diese Einstellung so gut geübt wie in Zeiten der Diktatur.
Wissenschaftsfetischismus und Wissenschaftsfeindlichkeit
Die Wissenschaft wird in der Antimoderne aufgespalten. „Science“ und „Humanities“ werden Gegensätze. Ohne hervorragende Ingenieursleistungen gibt es auch in Russland keine Überschallraketen, im Iran keine Drohnen oder keine Atombombe. Aber die Reflexion gesellschaftlicher Verhältnisse kann nicht zugelassen werden, das wäre unmittelbar herrschaftsbedrohend. Die Sozialwissenschaften müssen sich daher ideologisch anpassen, zu Systemhuren werden, oder schweigen. Heikel ist naturwissenschaftliche Forschung zu den Folgen wirtschaftlichen oder gesellschaftlichen Handelns. Klimawandel, Umweltverschmutzung oder Vergiftungen am Arbeitsplatz sind ja keine soziologischen Erkenntnisse, sondern solche der „harten“ Naturwissenschaften. Da hilft nur korrumpieren oder einsperren.
Instrumentalisierte Religion
In allen antimodernen Regimen wird Religion instrumentalisiert. Putin hat seinen Kyrill, Trump seine evangelistischen Fundamentalisten, der Iran sieht sich eh als „Gottesstaat“. Die meisten Religionen haben Strömungen, die davon ausgehen, dass sich die Menschen einer höheren Ordnung unterzuordnen haben und die meisten Religionen sind „alte Mächte“, tief im Kanon der sinnstiftenden Kräfte der Menschen verankert. Nicht nur Hitler wusste, warum er ein Konkordat wollte. Das Bündnis von Thron und Altar hilft auch den modernen antimodernen Volkstribunen, sich als „auserwählt“ zu präsentieren, Bruchlinien zwischen Gottesgnadentum und Verkörperung des Volkswillens hin oder her. Ob demnach China nicht wirklich antimodern ist? Oder Konfuzius doch irgendwo im chinesischen „Kommunismus“ steckt?
Es gibt natürlich noch mehr solcher Mosaiksteine der Antimoderne. Die Auflistung soll nur anregen, darüber nachzudenken, welche Konfliktlinien derzeit das Bild der Weltpolitik mitbestimmen. Die für Sonntagsreden missbrauchten und im realen Leben oft ausgehöhlten, ihrer Strahlkraft und „soft power“ verlustig gegangenen „westlichen Werte“ sind Teil dieses Bildes. Dann singen plötzlich andere Stimmen vom donnernden Leben, als wär‘s ein Lied von Andreas Gabalier. Layla und die Nachtwölfe, verruchter geht nicht.
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