Zurzeit macht in den Medien die Meldung die Runde, dass Bundesgesundheitsminister Lauterbach die Prävention von Herzkreislauf-Erkrankungen voranbringen will. Die Ärztezeitung titelt beispielsweise, Lauterbach wolle eine „Gezeitenwende bei der kardiovaskulären Prävention“. Genauer sollte man über diese Metapher nicht nachdenken, Gezeiten haben ja bekanntlich etwas Wiederkehrendes. Hintergrund der Medienmeldungen ist ein Kommentar von Lauterbach zusammen mit dem Kölner Kardiologen Stephan Baldus im European Journal of Epidemiology. Die beiden beziehen sich dabei auf einen kürzlich erschienenen internationalen Vergleich der Lebenserwartung, bei dem Deutschland nicht sonderlich gut abschneidet, auch aufgrund vieler Sterbefälle infolge von Herzkreislauf-Erkrankungen.
Hier bestehe, wie Baldus und Lauterbach zu Recht feststellen, ein erhebliches präventives Potential. Der Kommentar umfasst drei Seiten, davon eine Seite Literaturreferenzen, fast alles englischsprachige Literatur, Lauterbach will sichtlich als Wissenschaftler sprechen. Ein Kollege hat das, in Anlehnung an das instruktive Buch „Die Epistemisierung des Politischen“ von Alexander Bogner, sehr treffend als „Selbstepistemisierung der Politik“ bezeichnet.
Dass die Herzkreislauf-Erkrankungen bei der Prävention mehr Bedeutung bekommen sollten, dem wird man nicht widersprechen wollen. 2021 sind der Todesursachenstatistik zufolge mehr als 340.000 Menschen in Deutschland an Herzkreislauf-Erkrankungen gestorben, das war etwa ein Drittel aller Sterbefälle. Allerdings muss man dabei berücksichtigen, dass unter den Herzkreislauf-Sterbefällen in der Todesursachenstatistik ein nicht ganz geringer Teil sog. „nichtinformativer Todesursachen“ steckt, d.h. der leichenschauende Arzt hat z.B. Herzstillstand eingetragen, obwohl ein ganz anderes Grundleiden zum Tod geführt hat. Nicht alle dieser Eintragungen lassen sich bei den Statistischen Landesämtern bei der Erstellung der Todesursachenstatistik korrigieren.
Bedenklicher sind allerdings andere Punkte in dem Artikel von Baldus & Lauterbach. Sie weisen auf die Entwicklung der Herzkreislauf-Erkrankungen in einer alternden Gesellschaft hin. Herzkreislauf-Erkrankungen sind, wie z.B. auch Krebserkrankungen, überwiegend Erkrankungen des höheren Lebensalters. Balders & Lauterbach stellen fest, zwar sei altersstandardisiert, also unter Berücksichtigung der Alterung der Gesellschaft, die Prävalenz der Herzkreislauf-Erkrankungen zurückgegangen, absolut sei sie aber gestiegen:
„Although the age-standardized prevalence of CVD in Germany has declined from 1990 to 2015, the absolute prevalence of CVD has increased by more than 1,5 million cases in 2015 as compared to 1990“
Dabei beziehen sie sich auf eine Publikation aus dem Jahr 2017, die Daten zu kardiovaskulären Erkrankungen (CVD) in Europa bis 2015 zusammenstellt. Nun kann man fragen, warum sie diese alten Daten referenzieren und nicht neuere. Die CVD-Statistik gäbe es auch für 2021. Man kann weiter fragen, warum sie auf Prävalenz abheben, also auf die Zahl der Menschen, die mit einer Herzkreislauf-Erkrankung leben. Diese Zahl erhöht sich, je besser das Rettungswesen funktioniert und je besser die medizinische Versorgung der Erkrankten ist. Warum haben sie nicht die Inzidenz genommen, also die Neuerkrankungen, die in dem Bericht kurz zuvor tabelliert sind? Hoffentlich nicht, weil da zwischen 1990 und 2015 für Deutschland kein Anstieg zu verzeichnen ist und sie Daten nach Gefälligkeit ausgesucht haben.
Und wenn es um den Beitrag der Herzkreislauf-Erkrankungen zum Verlust an Lebenserwartung geht, warum betrachten sie dann nicht die Sterbefälle infolge dieser Erkrankungen? Die haben zwischen 1990 und 2015 ebenfalls nicht zugenommen, sondern abgenommen, um ca. 100.000, gut ein Fünftel der Fälle 1990.
Dennoch: Unter den 340.000 Sterbefällen infolge von Herzkreislauf-Erkrankungen 2021 waren gut 26.000 Sterbefälle im Alter unter 65 Jahren, von denen ein Großteil vermeidbar wäre, mit fast 217.000 verlorenen Lebensjahren. Präventives Potential, wie gesagt. Mehr verlorene Lebensjahre gab es übrigens bei den Verletzungen (ca. 230.000) und den Krebserkrankungen (ca. 400.000). Ob Lauterbach das weiß, weiß man nicht.
Nicht ganz up to date sind Baldus & Lauterbach auch beim präventionspolitischen Ansatz. Auch hier referenzieren sie ältere Literatur, eine Studie von 1998:
„Classical risk factors of CVD are highly modifiable and include arterial hypertension, hypercholesterinemia, diabetes, smoking and dietary habits“
Das ist nicht falsch, aber es ist der Geist eines überholten Risikofaktorenmodells, das vom Individuum her denkt. Für die medizinische Behandlung ist das sinnvoll – und Baldus ist Kliniker – aber für die Prävention nicht. Hier müssen insbesondere die Lebensbedingungen in den Blick genommen werden, z.B. Stress am Arbeitsplatz angeht, kardiovaskuläre Umweltrisiken wie Lärm oder Feinstaub, bewegungshindernde Wohnumgebungen oder die Verfügbarkeit von Tabak und Alkohol. Nach wie vor sind z.B. Zigaretten an jeder Straßenecke 24 Stunden an 7 Tagen aus Automaten zu beziehen, als ginge es um ein lebensnotwendiges Produkt. Baldes & Lauterbach orientieren statt dessen auf das individuelle Verhalten und die medizinische Sekundärprävention. Das greift zu kurz, so notwendig natürlich die Blutdruckeinstellung, eine gesündere Ernährung, mehr Bewegung und der Verzicht auf das Rauchen sind.
Falls Lauterbach mit diesem Artikel die Grundphilosophie des im Koalitionsvertrag vorgesehenen Nationalen Präventionsplans vorzeichnet, ist die „Selbstepistemisierung der Politik“ in dem Fall misslungen, vor allem für einen sozialdemokratischen Politiker, dem gesundheitsförderliche Lebensbedingungen mindestens so wichtig sein sollten wie die von liberaler Seite stets hochgehaltene, in Gesundheitsfragen die Menschen aber oft überfordernde “Eigenverantwortung”.
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