Zurzeit macht in den Medien die Meldung die Runde, dass Bundesgesundheitsminister Lauterbach die Prävention von Herzkreislauf-Erkrankungen voranbringen will. Die Ärztezeitung titelt beispielsweise, Lauterbach wolle eine „Gezeitenwende bei der kardiovaskulären Prävention“. Genauer sollte man über diese Metapher nicht nachdenken, Gezeiten haben ja bekanntlich etwas Wiederkehrendes. Hintergrund der Medienmeldungen ist ein Kommentar von Lauterbach zusammen mit dem Kölner Kardiologen Stephan Baldus im European Journal of Epidemiology. Die beiden beziehen sich dabei auf einen kürzlich erschienenen internationalen Vergleich der Lebenserwartung, bei dem Deutschland nicht sonderlich gut abschneidet, auch aufgrund vieler Sterbefälle infolge von Herzkreislauf-Erkrankungen.

Hier bestehe, wie Baldus und Lauterbach zu Recht feststellen, ein erhebliches präventives Potential. Der Kommentar umfasst drei Seiten, davon eine Seite Literaturreferenzen, fast alles englischsprachige Literatur, Lauterbach will sichtlich als Wissenschaftler sprechen. Ein Kollege hat das, in Anlehnung an das instruktive Buch „Die Epistemisierung des Politischen“ von Alexander Bogner, sehr treffend als „Selbstepistemisierung der Politik“ bezeichnet.

Dass die Herzkreislauf-Erkrankungen bei der Prävention mehr Bedeutung bekommen sollten, dem wird man nicht widersprechen wollen. 2021 sind der Todesursachenstatistik zufolge mehr als 340.000 Menschen in Deutschland an Herzkreislauf-Erkrankungen gestorben, das war etwa ein Drittel aller Sterbefälle. Allerdings muss man dabei berücksichtigen, dass unter den Herzkreislauf-Sterbefällen in der Todesursachenstatistik ein nicht ganz geringer Teil sog. „nichtinformativer Todesursachen“ steckt, d.h. der leichenschauende Arzt hat z.B. Herzstillstand eingetragen, obwohl ein ganz anderes Grundleiden zum Tod geführt hat. Nicht alle dieser Eintragungen lassen sich bei den Statistischen Landesämtern bei der Erstellung der Todesursachenstatistik korrigieren.

Bedenklicher sind allerdings andere Punkte in dem Artikel von Baldus & Lauterbach. Sie weisen auf die Entwicklung der Herzkreislauf-Erkrankungen in einer alternden Gesellschaft hin. Herzkreislauf-Erkrankungen sind, wie z.B. auch Krebserkrankungen, überwiegend Erkrankungen des höheren Lebensalters. Balders & Lauterbach stellen fest, zwar sei altersstandardisiert, also unter Berücksichtigung der Alterung der Gesellschaft, die Prävalenz der Herzkreislauf-Erkrankungen zurückgegangen, absolut sei sie aber gestiegen:

„Although the age-standardized prevalence of CVD in Germany has declined from 1990 to 2015, the absolute prevalence of CVD has increased by more than 1,5 million cases in 2015 as compared to 1990“

Dabei beziehen sie sich auf eine Publikation aus dem Jahr 2017, die Daten zu kardiovaskulären Erkrankungen (CVD) in Europa bis 2015 zusammenstellt. Nun kann man fragen, warum sie diese alten Daten referenzieren und nicht neuere. Die CVD-Statistik gäbe es auch für 2021. Man kann weiter fragen, warum sie auf Prävalenz abheben, also auf die Zahl der Menschen, die mit einer Herzkreislauf-Erkrankung leben. Diese Zahl erhöht sich, je besser das Rettungswesen funktioniert und je besser die medizinische Versorgung der Erkrankten ist. Warum haben sie nicht die Inzidenz genommen, also die Neuerkrankungen, die in dem Bericht kurz zuvor tabelliert sind? Hoffentlich nicht, weil da zwischen 1990 und 2015 für Deutschland kein Anstieg zu verzeichnen ist und sie Daten nach Gefälligkeit ausgesucht haben.

Und wenn es um den Beitrag der Herzkreislauf-Erkrankungen zum Verlust an Lebenserwartung geht, warum betrachten sie dann nicht die Sterbefälle infolge dieser Erkrankungen? Die haben zwischen 1990 und 2015 ebenfalls nicht zugenommen, sondern abgenommen, um ca. 100.000, gut ein Fünftel der Fälle 1990.

Dennoch: Unter den 340.000 Sterbefällen infolge von Herzkreislauf-Erkrankungen 2021 waren gut 26.000 Sterbefälle im Alter unter 65 Jahren, von denen ein Großteil vermeidbar wäre, mit fast 217.000 verlorenen Lebensjahren. Präventives Potential, wie gesagt. Mehr verlorene Lebensjahre gab es übrigens bei den Verletzungen (ca. 230.000) und den Krebserkrankungen (ca. 400.000). Ob Lauterbach das weiß, weiß man nicht.

Nicht ganz up to date sind Baldus & Lauterbach auch beim präventionspolitischen Ansatz. Auch hier referenzieren sie ältere Literatur, eine Studie von 1998:

„Classical risk factors of CVD are highly modifiable and include arterial hypertension, hypercholesterinemia, diabetes, smoking and dietary habits“

Das ist nicht falsch, aber es ist der Geist eines überholten Risikofaktorenmodells, das vom Individuum her denkt. Für die medizinische Behandlung ist das sinnvoll – und Baldus ist Kliniker – aber für die Prävention nicht. Hier müssen insbesondere die Lebensbedingungen in den Blick genommen werden, z.B. Stress am Arbeitsplatz angeht, kardiovaskuläre Umweltrisiken wie Lärm oder Feinstaub, bewegungshindernde Wohnumgebungen oder die Verfügbarkeit von Tabak und Alkohol. Nach wie vor sind z.B. Zigaretten an jeder Straßenecke 24 Stunden an 7 Tagen aus Automaten zu beziehen, als ginge es um ein lebensnotwendiges Produkt. Baldes & Lauterbach orientieren statt dessen auf das individuelle Verhalten und die medizinische Sekundärprävention. Das greift zu kurz, so notwendig natürlich die Blutdruckeinstellung, eine gesündere Ernährung, mehr Bewegung und der Verzicht auf das Rauchen sind.

Falls Lauterbach mit diesem Artikel die Grundphilosophie des im Koalitionsvertrag vorgesehenen Nationalen Präventionsplans vorzeichnet, ist die „Selbstepistemisierung der Politik“ in dem Fall misslungen, vor allem für einen sozialdemokratischen Politiker, dem gesundheitsförderliche Lebensbedingungen mindestens so wichtig sein sollten wie die von liberaler Seite stets hochgehaltene, in Gesundheitsfragen die Menschen aber oft überfordernde “Eigenverantwortung”.

Kommentare (29)

  1. #1 Staphylococcus rex
    4. August 2023

    In meinen Augen ist dieses Projekt von Lauterbach entweder ein Hobbyprojekt oder ein Ablenkungsmanöver. Als Bundesminister hat er eine Reihe von Großbaustellen, die er viel dringender bearbeiten müßte.

    Ich würde mir von Lauterbach wünschen, dass er den Strukturwandel im Krankenhaus durch eine flankierende Übergangsfinanzierung absichert, dass er bei der Digitalisierung sich mehr um die Schnittstellen und weniger um die Applikationen kümmert, dass er die Bürokratie im Gesundheitswesen anpackt, dass er die Abrechnungssysteme (GOÄ, EBM, Fallpauschalen) inflationssicher macht, dass er sich mit dem Problem der Sektorengrenzen beschäftigt (die Sektorengrenzen entstehen in erster Linie dadurch, dass die Kostendämpfungsmaßnahmen der jeweiligen Sektoren eine sektorenübergreifende Tätigkeit verhindern).

    Eine besonders perfide Maßnahme im kalten Strukturwandel der Krankenhäuser besteht aktuell darin, dass bei den Krankenhäusern der Leistungsdruck durch die DRG (Fallpauschalen) reduziert werden soll, indem Vorhaltepauschalen gezahlt werden. Die Vorhaltepauschalen sind aber an die Leistungsgruppen gekoppelt, die den Krankenhäusern zugewiesen werden. Die Leistungsgruppen sind wiederum an Strukturvoraussetzungen gebunden, von denen die Personalvorgaben viele Häuser überfordern werden. In Ballungsräumen mit einer gewissen Überversorgung ist das in Ordnung, in der Peripherie mit bereits bestehender Unterversorgung ist die eine Katastrophe. Wenn Grundversorger im ländlichen Raum ihren Status als Krankhaus verlieren und als Versorger der Stufe 1i einer unsicheren Zukunft entgegensehen, hat dies gravierende Konsequenzen für die Versorgung der Patienten.
    https://www.bundesgesundheitsministerium.de/themen/gesundheitswesen/krankenhausreform/faq-krankenhausreform.html

    Ich entschuldige mich für meinen Ausbruch an Frustration, aber Herr Lauterbach ist in meinen Augen als Minister eine komplette Fehlbesetzung. Auf mich wirkt er wie eine Person, die sich um die Pflege der Orchideen kümmert, während es im Dachstuhl des eigenen Hauses bereits lichterloh brennt.

  2. #2 Peter D
    4. August 2023

    Irritierend, dass den Autoren der zweite Präventionsbericht der NPK, der dem BMG vor kurzem vorgelegt wurde und im Entwurf schon länger bekannt ist, kein Wort wert ist.

    Link: https://www.npk-info.de/praeventionsstrategie/praeventionsbericht/zweiter-praeventionsbericht-der-npk

  3. #3 Tina
    4. August 2023

    Eine eher grundsätzliche Frage, die mir schon länger mal durch den Kopf ging: Wie würden sich eigentlich die Anteile der verschiedenen Todesursachen ändern, wenn Prävention wirklich gut funktionieren würde? Kann man das abschätzen? An irgendwas müssen wir ja irgendwann alle sterben.

    Gibt es sinnvolle Vergleiche zwischen verschiedenen Ländern und Kulturen? Bei der durchschnittlichen Lebenserwartung ist ja z.B. Japan ganz weit vorne. Liegt das eher am Gesundheitssystem, an eher kulturellen oder an ganz vielen einzelnen Faktoren?

  4. #4 Ursula
    4. August 2023

    @ Tina

    An irgendwas müssen wir ja irgendwann alle sterben.

    Genau! Das frage ich mich bei solchen Themen auch immer.
    Ein Erfolg von Präventionsmaßnahmen könnte natürlich eine steigende Lebenserwartung sein, plus eine bessere Lebensqualität im Alter.

  5. #5 Staphylococcus rex
    4. August 2023

    @ Tina und Ursula, eine wichtige Frage ist die Sterblichkeit an Herz- Kreislauf-Erkrankungen in den Altersgruppen 50-60 und 60-70, in dieser Altersgruppe sind die meisten Todesfälle vermeidbar. Dazu im Beitrag von Joseph Kuhn: “Unter den 340.000 Sterbefällen infolge von Herzkreislauf-Erkrankungen 2021 waren gut 26.000 Sterbefälle im Alter unter 65 Jahren, von denen ein Großteil vermeidbar wäre, mit fast 217.000 verlorenen Lebensjahren. Präventives Potential, wie gesagt. Mehr verlorene Lebensjahre gab es übrigens bei den Verletzungen (ca. 230.000) und den Krebserkrankungen (ca. 400.000).”

    Der wichtigste Einzelfaktor, der einer Prävention zugänglich ist, wäre aus meiner Sicht das Rauchen, und da hat sich in den letzten Jahrzehnten doch einiges verbessert. Für die Erfolgsmessung von Präventionsmaßnahmen sind die verlorenen Lebensjahre sicher eine brauchbare Maßzahl.

  6. #6 Tina
    4. August 2023

    Die Frage ist, woran die Menschen, die aufgrund von Prävention nicht mit unter 65 schon an Herzkreislauf-Erkrankungen, Verletzungen oder Krebserkrankungen sterben, dann später in einem höheren Alter sterben. An den gleichen Ursachen, nur eben später? Oder dann an etwas anderem? Und was könnte das sein?
    Wenn man mit Prävention Lebensjahre und Lebensqualität gewinnt, ändern sich dann auch die Todesursachen? Oder tun sie das nicht und treten nur später auf?

    Wenn alle auf Dauer bei bester Gesundheit wären (mal hypothetisch und unrealistisch utopisch gedacht), blieben als Todesursachen ja wahrscheinlich Unfälle, Umweltkatastrophen oder Gewalttaten und Kriege übrig.
    Deshalb meine Frage, ob sich die Anteile an den Todesursachen verschieben, wenn Prävention richtig gut funktioniert.

  7. #7 Staphylococcus rex
    4. August 2023

    @ Tina, ich habe das Problem gerade mit der Pflege der Eltern, deshalb kann ich auf diese Frage aus eigener Erfahrung antworten. Auch wenn Infarkte, Krebs oder Unfälle vermieden werden, bleibt doch immer noch die Gebrechlichkeit durch das Alter.

    Ganz grob vereinfacht, es gibt das rüstige Alter (bis etwa 70-80), das gesetzte Alter ( bis etwa 80-85) und ab 80-85 beginnt das gebrechliche Alter. Auch im gebrechlichen Alter gibt es unterschiedliche Phasen, erst wird nur Hilfe außerhalb der eigenen Wohnung (beim Einkauf) benötigt, später auch Hilfe innerhalb der eigenen Wohnung (Haushalt, Kochen etc.) in einer barrierefreien Wohnung kann dies in den eigenen vier Wänden erfolgen. Wenn man über 90 Jahre alt ist, dann kommt irgendwann der Zeitpunkt, wo fremde Hilfe bei Toilettengang und Körperpflege erforderlich wird. Dann wird es kritisch und spätestens dann ist man auf professionelle Unterstützung angewiesen. Die Problematik durch Alzheimer ist dabei noch gar nicht angesprochen.

    Gerade die hochbetagten Menschen kämpfen mit Gangunsicherheit und sind durch Stürze gefährdet. Wahrscheinlich daher kommt die hohe Zahl an Verletzungen in der Statistik von JK.

  8. #8 Tina
    4. August 2023

    @Staphylococcus rex

    Die Pflege der Eltern war bei mir ungefähr 10 Jahre Thema, aber seit 1 1/2 Jahren ist das nun vorbei. Ein Oberschenkelhalsbruch nach Sturz war auch dabei, sowie etliche andere typische Altersgebrechen und Krankheiten, wie Parkinson, beginnende Demenz, Depressionen und Schlaganfall. Anfangs konnten meine Eltern noch in ihrer Wohnung mit Unterstützung durch einen ambulanten Pflegedienst leben. Als es wegen fortschreitender Verschlechterungen des gesamten Gesundheitszustands gar nicht mehr ging, waren sie dann in einem Pflegeheim, mein Vater nur relativ kurz, meine Mutter mehrere Jahre.
    Ich wünsche dir viel Kraft!

  9. #9 Neumann
    4. August 2023

    ist Karl Lautebach ein fähiger Bundesgesundheitsminister ?
    Sein H-Index beträgt 19. Als Vergleich , Christian Drosten hat einen H-Index von 136. Der Hirsch Faktor versucht die wissenschaftliche Bedeutung einer Person in einer Zahl darzustellen. Berücksichtigt werden seine Publikationen und wie oft diese Person zitiert worden ist.

    Seine Rolle innerhalb der Bundesregierung in den Augen der Öffentlichkeit wird z.Zeit mit 0 bewertet, er liegt damit auf der gleichen Sufe wie die Außenministerin. Die Spitzenstellung hat der Verteidigungsminister Pistorius mit 1,9.
    Also alles andere als gut.

    Mir scheint, mit seiner Herz-Kreislauf-Prävention will er sein angeschlagenes Image während der Corona -Zeit aufpolieren. Aktuell wird über die Schließungen von Krankenhäusern diskutiert. Ist also die Herz-Kreislaufprävention ein Ablenkungsmanöver oder begreift er nicht was aktuell wichtiger ist.

  10. #10 Joseph Kuhn
    4. August 2023

    @ Tina:

    “Wenn man mit Prävention Lebensjahre und Lebensqualität gewinnt, ändern sich dann auch die Todesursachen? Oder tun sie das nicht und treten nur später auf?”

    Sowohl als auch. Wenn man eine gute Herzkreislauf-Prävention macht, sterben die Leute entweder später an Herzinfarkt, oder später an Krebs, oder sonst was. Es gab früher auch mal bei gbe-bund.de eine Tabelle zum Gewinn an Lebenserwartung unter Ausschluss einzelner Todesursachen, aber die war etwas heikel, weil sie man in der Tat die ausgeschlossenen Todesursachen durch ihre “Nachfolger” hätte ersetzen müssen, was statistisch nicht trivial ist.

    Sicher ist nur: Den plötzlichen Kindstod erleidet man auch nicht mehr im Alter, wenn man ihn als Säugling vermieden hat 😉

    @ Neumann:

    “Sein H-Index beträgt 19. Als Vergleich , Christian Drosten hat einen H-Index von 136.”

    Damit ist Lauterbachs Hirsch-Index immerhin höher als meiner. Aber man sollte Lauterbach zugute halten, dass er seit Jahren nicht mehr aktiv forscht, also auch kaum mehr Möglichkeiten hatte, zitierbare Studien zu publizieren.

    Seine Qualität als Politiker sollte man an anderen Dingen bemessen.

  11. #11 Tina
    4. August 2023

    @Joseph Kuhn

    Also weiß man das tatsächlich nicht? Wäre eine solche Untersuchung überhaupt machbar oder kann man da eh nur mehr oder weniger spekulieren?
    Ich könnte mir vorstellen, dass ein Ländervergleich vielleicht Licht in die Sache bringen könnte. Wobei es wahrscheinlich schwierig ist, kulturelle Unterschiede rauszurechnen.

    • #12 Joseph Kuhn
      4. August 2023

      @ Tina:

      Es gibt schon Studien dazu, aber der Umgang mit konkurrierenden Todesursachen ist, wie gesagt, nicht trivial.

      Inwiefern Ländervergleiche hier viel bringen, weiß ich nicht, ich glaube nicht. Wenn in einem Land das Risiko z.B. für Herzinfarkte geringer ist als bei uns, ist vermutlich auch das Risiko für konkurrierende Todesursachen anders und das kann alles länderspezifisch unterschiedlich sein. Man müsste dazu mal die einschlägige demografische Literatur anschauen, ich habe da keinen Überblick.

      Einfacher sind Ländervergleiche anhand des Indikators „vermeidbare Sterbefälle“, ohne sich mit den konkurrierenden Todesursachen herumzuschlagen. Dazu gibt es auch Statistiken. Als Einstieg: Eurostat-Pressemitteilung vom 5.9.2019. Vor kurzem hatte das BiB dazu auch eine Studie für Regionen der deutschsprachigen Länder veröffenticht: Mühlichen et al., Social Science & Medicine, 2023.

      Noch was ganz anderes: In der BiB-Studie, die auf die Rolle der Herzkreislauf-Erkrankungen bei den Lebenserwartungsnachteilen Deutschlands hinwies und auf die sich Baldus & Lauterbach beziehen (Jasilionis et al., European Journal of Epidemiology, 2023), zeigt sich auch schön der schon mehrfach berichtete Einbruch der Lebenserwartung durch die Coronakrise, dramatisch in den USA, siehe Fig. 2.

      [Edit: Kommentar ergänzt, JK]

  12. #13 Neumann
    4. August 2023

    An Herz-Kreislauf-Erkrankungen muss man nicht zwangsläufig sterben.
    Die Notfalldienste sind mittlerweile sehr gut.
    Als Beispiel sei einer meiner Verwandten erwähnt.
    Der hatte durch Stress und Rauchen seinen 3. Herzinfarkt.
    Geistesgegenwärtig meldete er sich beim Notfalldienst mit den Worten : „ Ich glaube ich hab einen Herzinfarkt……“
    Der kam in sehr kurzer Zeit und hat ihm so das Leben gerettet.
    Ja ,und was noch abenteuerlicher klingt, der Verwandte hat einen Monat später geheiratet und wir waren dabei.
    Fazit: Eine schnelle Erstversorgung und später eine sehr gute ärztliche Behandlung entscheiden mit über Leben und Tod. Der Faktor schnelle Erstversorgung ist also erwähnenswert.

  13. #14 Joseph Kuhn
    5. August 2023

    Nochmal Titel-Exegese:

    Baldus/Lauterbach haben ihren Kommentar mit dem Titel “Prevention-centered health care in Germany – a nation in need to turn the tide” überschrieben.

    Zu den Gezeiten habe ich oben im Blogbeitrag schon eine Anmerkung gemacht. Das eingedeutschte Substantiv “Gezeitenwende” erinnert zudem ein bisschen an die berühmte “Zeitenwende” von Scholz. Die war von der Aussicht auf ein Sondervermögen für die Bundeswehr von 100 Mrd. Euro und einer dauerhaften Erhöhung der Verteidigungsausgaben auf mehr als 2 % des BIP begleitet.

    Wie sieht es mit den Präventionsausgaben in Deutschland aus? Nimmt man alles zusammen, die Ausgaben der Krankenkassen, der Unfallversicherung, des Staates, der privaten Haushalte usw., so lagen sie die letzten Jahre über stets bei ca. 3,5 % der Gesundheitsausgaben.

    Im Jahr 2020, als sich die Pandemie in den Präventionsausgaben noch nicht so richtig niederschlug, waren es ca. 15 Mrd. Euro oder 3,4 % der gesamten Gesundheitsausgaben. Bezogen aufs BIP: 0,44 %. Im Jahr 2021 haben sich die Präventionsausgaben dann pandemiebedingt verdoppelt, auf ca. 30 Mrd. Euro., sie werden jetzt vermutlich wieder auf vorpandemischem Niveau liegen.

    Die künftigen Präventionsausgaben des BMG selbst sind dem Haushaltsentwurf der Bundesregierung zufolge rückläufig, das geplante “Bundesinstitut für öffentliche Gesundheit” soll bekanntlich ohne zusätzliches Geld auskommen und bei den Sozialversicherungen empfiehlt der oben von “Peter D” angesprochene 2. Präventionsbericht der NPK keine Erhöhung der Präventionsausgaben.

    Ob so eine “prevention-centered health care” realistisch ist? Oder kehrt da nicht doch nur die Ebbe zurück?

  14. #15 Tina
    5. August 2023

    @Joseph Kuhn

    Danke für die Infos!

  15. #16 Dr. Webbaer
    5. August 2023

    Dr. W vertraut an dieser Stelle einem Gesundheitswissenschaftler womöglich auch sozialdemokratischer Provenienz.

    Es geht darum Lebensqualität und sog. beschwerdefreie Zeit möglichst, auch mit unseren Freunden aus dem medizinischen Bereich, zu verlängern.
    Besondere, gar alarmistische Nachrichtengebung bleibt unbenötigt.
    Dr. W kennt in seinem Personenkreis zwei Personen, die mit Herzoperationen, es ging da wohl um sog. Herz-Bypass-OPs, geholfen werden konnte.
    Eine lebt noch.

    Sehr nett auch Ihre Einschätzung in den letzten beiden Absätzen Ihrer Nachricht.

    Dr. W hat sich sozusagen entschieden, bei zu großem Verbrauch von Alkohol (aber nicht so-o!) und Tabak sozusagen gesund zu sterben.

    Schmerzerkrankung gibt es leider, sie ist nicht einfach zu bearbeiten.
    Ärzte meinen, dass so “nicht viel” passieren wird.

    Mit freundlichen Grüßen und vielen Dank für die auch publizistische Arbeit
    Dr. Webbaer

    • #17 Joseph Kuhn
      5. August 2023

      @ Webbär:

      “einem Gesundheitswissenschaftler womöglich auch sozialdemokratischer Provenienz”

      Ich kokettiere bei solchen Anspielungen gerne mit Art. 96 der bayerischen Verfassung: “Die Beamten sind Diener des ganzen Volkes, nicht einer einzelnen Partei.” Aber das bezieht sich natürlich auf die Tätigkeit im Amt und nicht auf die private Lebenssphäre, d.h. der Artikel schließt parteipolitisches Engagement selbstverständlich nicht aus.

      Ich wäre auch nicht abgeneigt, aber so wie es in jeder (demokratischen) Partei Gruppen gibt, mit denen ich zusammenarbeiten könnte, gibt es auch in jeder dieser Parteien hochwirksame repellents. Da gleichzeitig Engagement für demokratische Lösungen gesellschaftlicher Probleme immer wichtiger wird, verstehe ich zunehmend das Dilemma von Buridans Esel.

  16. #18 Dr. Webbaer
    5. August 2023

    Randbemerkung :

    Dr. W hat nunmehr 45 Kg abgenommen, tendiert auch dazu viel “herumzurennen”, ist gerade dabei Outdoor-Experte zu werden, und nähert sich seinem Idealgewicht, noch einmal die Gewichtsabnshme von 5 Kg meinend.

    Übrigens : Auch Dank Ihnen.
    Es wäre Dr. W ja auch peinlich gewesen an Verfettung vor seinem statistischen Sterbealter von X-Jahren sozusagen unnötig und vorab “abzudanken”, vergleiche :

    -> https://www.gbe-bund.de/gbe/pkg_isgbe5.prc_menu_olap?p_uid=gast&p_aid=73624983&p_sprache=D&p_help=0&p_indnr=524&p_indsp=&p_ityp=H&p_fid= (Diese erforderliche Parametrisierung ist natürlich blöde, Dr. W hat sie nur übernommen)

    Sie retten Leben! [1]

    MFG
    WB

    [1]
    Stimmt so nicht, war abär nett gemeint.

  17. #19 Dr. Webbaer
    5. August 2023

    *
    Gewichtsabn[a]hme

  18. #20 zimtspinne
    5. August 2023

    Wenn man mit Prävention Lebensjahre und Lebensqualität gewinnt, ändern sich dann auch die Todesursachen? Oder tun sie das nicht und treten nur später auf?

    Hängt sicher auch von Art und Umfang derr Präventionsmaßnahmen ab.
    Und wer sie anwendet!?

    Abschluss einer Unfallversicherung oder Wohnung suchen in der Nähe eines Krankenhauses sind ja komplett andere Präventionsmaßnahmen als Gewichtreduktion und Rauchstopp oder Früherkennungsteilnahme.

    Präventionsmaßnahmen sollten ebenso wie medizinische Interventionsmaßnahmen sowieo viel stärker zielgerichtet sein, also personalisierte Prävention sozusagen.

    Dort kann man auch entscheidend selbst mitwirken, sogar viel mehr als bei der Intervention.

    Man kennt ja seine Risiken viel besser als Herr Lauterbach und könnte versuchen, an diesen Schrauben zu drehen.
    Es gibt natürlich auch unveränderbare Faktoren, aber auf viele Faktoren hat man doch einen gewissen Einfluss.

    Unter Prävention fallen für mich auch so indirekte Dinge wie Haushaltsunfälle vermeiden, indem man keine riskanten Manöver auf Leitern unternimmt oder schnell mal zwischendurch an der Elektrik rumfummelt….
    Was die Risikowahrnehmung angeht, denke ich tatsächlich, dass viele, ganz viele solcher privater Unfälle vermeidbar wären, auch wenn wohl eher die wenigsten direkt tödlich enden.

    Kein Plan, was der Staat (und Herr Lauterbach) überhaupt alles unter “Prävention” subsumieren.
    Ach ja, einen Hitzeschutzplan hat er vorglegt. Mit gekühlten Turnhallen für alle.
    2019 wollte er ja noch großes Gerät Kältetechnik für Krankenhäuser und Pflegeeinrichtungen anschaffen.
    https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/104964/Ruf-nach-mehr-Klimaanlagen-fuer-Altenheime-und-Kliniken
    So geht das auch…. man wird genügsamer mit Höherrücken (von Gesundheitsexperte zu Gesundheitsminister). Naja, eher die anderen sollen genügsamer werden…

    Nachtrag: Evtl dachte er bei den Gezeiten auch an “Trends”. So, wie die Miniröcke und Plateauschuhe der Damen kommen und gehen… bei den Präventionsmaßnahmen ist das vielleicht ähnlich, geschichtlich/historisch gesehen. Mal ist dies wichtig, mal jenes.
    Ich denke eher, er hat sich vertan und meinte “Zeitenwende”. Heißt das nicht sonst eher “Gezeitenwechsel”? Ich gucke nicht nach, sonst beschäftige ich mich doch mehr damit als man sollte.

  19. #21 zimtspinne
    5. August 2023

    @ Wb

    Ich möchte ja keine personalisierten Servicetipps geben, aber einfach nur abspecken ist leider (besonders im Alter!) nur die halbe Miete.
    Es gibt auch sowas wie “skinny fat”.
    Obwohl, Sie sagen ja, Sie rennen viel outdoor rum, das hört sich schon mal gut an.
    Hatten Sie nicht auch mal geraucht?
    Das haut natürlich negativ rein in die Prävention.

  20. #22 Neumann
    5. August 2023

    Tycoon oder nur Ankündigungsminister

    Werner Lauterbach hat für 2023 und 2024 vierzehn Gesetzesvorhaben angekündigt. (Quelle die Pharmazeutische Zeitung PZ) Wird er sich durchsetzen oder wie Klaus Töpfer damals als Minister für Umweltschutz als Ankünigungsminister in die Geschichte eingehen. Zur Erinnerung, Angela Merkel war auch mal Ministerin für Umweltschutz.

    Die geplante Krankenhausreform wird er nur schaffen, wenn sein „Vorgesetzer“, der Finanzminister mitmacht. In der Politik ist der Finanzminister der Minister mit dem größten Einfluss.
    Wenn der nicht zustimmt, dann haben nur Gesetzesvorhaben die kostenneutral sind, eine Chance den Bundestag zu passieren.

    • #23 Joseph Kuhn
      5. August 2023

      @ Neumann:

      “Werner Lauterbach”

      Ja, der Werner. Was waren das für Zeiten, als sein Alter Ego Karl noch Minister war. Das war damals, als Fritz Lindner Finanzminister war, und Ludwig Scholz Bundeskanzler.

      Inhaltlich haben Sie nicht ganz Unrecht. Die Krankenhausreform hat zwar viele Hürden zu überwinden, aber die Bereitstellung von Mitteln für die Transformationsphase ist eine ganz wesentliche. Sonst geht ein Teil der Krankenhäuser vorher kaputt.

  21. #24 zimtspinne
    5. August 2023

    aber immerhin verzapfte Lauterbach beim aktuellen Hitzeschutzplan keinen ganz großen Mist… hatte ihn zwar nur überflogen, aber auf Anhieb keinen groben Unsinn gesehen wie bei den ausgegebenen Hitzetipps des Cottbusser Schlaflabors (Nasse Tücher aufhängen, Ventilator nicht zu kalt einstellen uvm ;-))

    Außerdem finde ich auch nicht, dass Prävention ein Schattendasein im Orchideenreich führen sollte. Und das als Steckenpferd Lauterbachs zu betrachten, wird der Sache auch nicht gerecht.
    Ich kann ja verstehen, dass Blickwinkel unterschiedlich sind, und wenn man tagtäglich im Medizinbetrieb/Krankenhaus tätig ist, die Missstände dort automatisch in den Fokus rücken und Vorrang haben.
    Krankenhäuser sind ja nun mal Krankenbehandlungsstätten und keine Brutstätten für Präventionsvorhaben, obwohl das eigentlich gar nicht so abwegig wäre als Nebenaufgabe.
    Ich meine sogar, ich habe das Wort “Gesundheitshaus” auch schon mal vernommen, kann aber auch in einem Film gewesen sein.

  22. #25 Balanus
    6. August 2023

    @Zimtspinne

    Ich denke eher, er [Lauterbach] hat sich vertan und meinte “Zeitenwende” [statt “Gezeitenwende”].

    Eher nicht. “A nation in need to turn the tide” bedeutet einfach nur “Ein Land, das die Wende braucht” (Google), bzw. “Eine Nation, die eine Trendwende braucht” (DeepL).

  23. #26 Joseph Kuhn
    2. November 2023

    Lauterbachs Herzkreislauf-Prävention in der Kritik

    Das BMG hat den Auftrag Lauterbachs zur – an sich natürlich wünschenswerten – Intensivierung der Prävention von Herzkreislauferkrankungen Anfang Oktober in einem “Impulspapier” umgesetzt. Der Schwerpunkt dabei liegt aber auf der Früherkennung, nicht wirklich auf der Prävention.

    Vor ein paar Tagen hat Jürgen Windeler, früherer Chef des IQWIG, den Ansatz des BMG scharf kritisiert, er sei nicht evidenzbasiert. Heute hat auch die Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin eine ähnlich vernichtende Kritik veröffentlicht.

    Ob Lauterbach kritische Stellungnahmen von Fachleuten wirklich rezipiert, ist jedoch nicht bekannt. Vielleicht liest er lieber zustimmende Kommentare, die gibt es natürlich auch, u.a. aus bestimmten Kreisen der Kardiologie.

  24. #27 Joseph Kuhn
    7. November 2023

    Und jetzt auch noch die PKV

    Dass man von der PKV in Sachen Prävention als konzeptionslos kritisiert wird, muss man erst mal hinkriegen. Lauterbach hat es geschafft und den Geschäftsführer Politik beim PKV-Verband zu einem Kommentar “Gesundheitspolitik ohne Leitprinzip?” provoziert.

  25. #28 Joseph Kuhn
    16. Dezember 2023

    Update zur Screening-Kritik:

    Nachdem die Kardiologen etwas, sagen wir mal „selektiv“ auf die Kritik am FH-Screening reagiert haben, antwortet jetzt noch einmal Jürgen Windeler: https://observer-gesundheit.de/der-check-heiligt-die-mittel-ein-update/

    Er bringt kluge Argumente, die die Fallstricke von „gut gemeint“ schön aufzeigen. Insgesamt eine wichtige Diskussion um den richtigen Weg zu mehr Herz-Kreislaufgesundheit.

  26. #29 zimtspinne
    16. Dezember 2023

    Das Neuroblastom-Screening erinnert mich ein bisschen an Betacarotin für Raucher. Das wurde jahrelang als “Raucherschutz” und “Rauchervitamin” propagiert, bis sich herausstellte, dass Raucher von zusätzlichen/hochdosierten Gaben (Vitaminpräparate/NEM) Provitamin A bzw Betacarotin nicht nur gar nicht profitieren, es erhöhte sogar die BronchialCa-Rate und die Sterblichkeit von Rauchern.
    Besonders ärgerlich war, dass diese Verbraucherschutzmaßnahmen erst viele Jahre nach dem Erscheinen der klinischen Studien angeleiert wurden.