Die Bürgerversicherung, also eine Kranken- und Pflegeversicherung, in die alle einzahlen, war hier im Blog immer wieder mal Thema, zuletzt im Zusammenhang mit einer Diskussion auf dem WIdO-Symposium am 4. Mai 2023, dann beim Buch „Die ökonomische Vernunft der Solidarität“ von Hartmut Reiners und schließlich gerade erst mit dem Hinweis auf Hubert Aiwangers Gedächtnislücken, was das Grundsatzprogramm seiner Partei angeht.
Das Thema kann man identitätspolitisch angehen, als Aufforderung zu einem Bekenntnis in der einen oder anderen Richtung, meist dem alten Schema „Freiheit oder Sozialismus“ folgend, oder man kann sich einzelne ökonomische Argumente ansehen und ihre Tragfähigkeit diskutieren.
Letzteres will ich hier wieder einmal mit Blick auf eine Pressemitteilung der Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft e.V. (vbw) vom 1. August 2023 tun. Dort heißt es:
„Insbesondere im ländlichen Raum tragen die Mehrerlöse, die niedergelassene Ärzte durch Privatversicherte erzielen, dazu bei, die Qualität der Versorgung zu verbessern. Würden diese mit der Einführung einer Bürgerversicherung wegfallen, käme es zu einer deutlichen Verschlechterung bei der Versorgung.“
Zur Begründung wird angeführt:
„Dieser PKV-typische Mehrumsatz entsteht, weil Privatpatienten für viele Leistungen höhere Honorare entrichten als sie bei gesetzlich Versicherten anfallen. Die zusätzlichen Finanzmittel können Ärztinnen und Ärzte, Therapeuten und Krankenhäuser in Fachpersonal oder moderne Praxisinfrastruktur investieren. Davon profitieren somit alle Patientinnen und Patienten.“
Richtig ist natürlich, dass Privatversicherte in der Regel mehr Geld beim niedergelassenen Arzt lassen als gesetzlich Versicherte. Eine ganz andere Frage ist allerdings, ob für die Ärzte insgesamt mit einer Bürgerversicherung weniger Geld zur Verfügung stünde. Wenn die Beiträge der Privatversicherten in eine Bürgerversicherung fließen würden, würde das Beitragsaufkommen ja nicht kleiner, es würde nur anders verteilt. Und wenn sie auch noch einkommensabhängige Beiträge entrichten würden, würde das Beitragsaufkommen sogar größer.
Nur nebenbei, weil in den Passus auch die Krankenhäuser angesprochen werden: Bei den Krankenhäusern ist die DRG-Finanzierung für privat und gesetzlich Versicherte gleich, daran würde sich durch eine Bürgerversicherung also nichts ändern. Gesetzlich Versicherte können sich zudem durch eine private Zusatzversicherung auch Einzelzimmer und Chefarzt-Behandlung kaufen, wobei Letzteres nicht immer empfehlenswert ist.
Der Passus in der vbw-Pressemitteilung suggeriert zudem, dass die PKV die Versorgungsinfrastruktur auch für die gesetzlich Versicherten im ländlichen Raum sichert. Das ist aber angesichts von fast 90 % gesetzlich Versicherten in der Bevölkerung eine etwas eigenwillige Sichtweise, umgekehrt wird eher ein Schuh daraus. Die große Zahl der gesetzlich Versicherten und der Sicherstellungsauftrag der Kassenärztlichen Vereinigungen sorgt dafür, dass auch die privat Versicherten im ländlichen Raum einen Arzt in Wohnortnähe haben. Ganz davon abgesehen, dass für Investitionen der Krankenhäuser ohnehin nicht die Krankenversicherung zuständig ist, das ist Aufgabe der Länder. Allerdings kommen die Länder dieser Verpflichtung immer weniger nach, so dass die Investitionen der Krankenhäuser aus den Behandlungserlösen querfinanziert werden. Das ist ein Streitpunkt von vielen bei der aktuellen Krankenhausreform.
Die Aussagen in der vbw-Pressemitteilung stützen sich auf den PKV-Regionalatlas Bayern, darauf deutet dieser Passus der Pressemitteilung hin:
„Im ländlichen Landkreis Wunsiedel erzielen die niedergelassenen Ärztinnen und Ärzte von Privatversicherten Mehrerlöse im Realwert von durchschnittlich 81.755 Euro pro Jahr, in den Praxen im Großraum Nürnberg sind es demgegenüber „nur“ 52.841 Euro.“
Solche „Realwert“-Kennziffern werden im PKV-Regionalatlas Bayern präsentiert. Sie sollten aufzeigen, wie viel Mehrumsatz unter Berücksichtigung von Kostenstrukturen in den Praxen anfällt. Die Daten aus dem PKV-Regionalatlas sind in der Tat beeindruckend. Demnach würden Ärzte im ländlichen Raum deutlich mehr von den PKV-Einnahmen profitieren als Ärzte in den Städten:
Woher in der vbw-Pressemitteilung die Werte für Wunsiedel und den „Großraum Nürnberg“ kommen, ist unklar. Der PKV-Regionalatlas weist für den Landkreis Wunsiedel 67.656 Euro aus, nicht 81.755 Euro, und die Daten für die Region Nürnberg lassen sich im PKV-Atlas ebenfalls nicht finden. Der PKV-Regionalatlas ist von 2019. Falls der vbw neuere Daten von der PKV erhalten hat, wären die großen Unterschiede zu den Daten 2019 ein Hinweis auf die Instabilität der Daten.
Was auch immer die Daten beschreiben, es wirkt befremdlich, wenn z.B. die kreisfreie Stadt Landshut mit 22.275 Euro den geringsten „Realwert“ aufweist, der Landkreis Landshut mit 182.904 Euro den höchsten, also das 8-fache der Stadt. Wie kann das sein? Auch in anderen Regionen gibt solche erheblichen kleinräumigen Differenzen. Unterschiedliche Kostenstrukturen in Stadt und Landkreis Landshut stehen nicht dahinter, die im PKV-Regionalatlas ebenfalls ausgewiesenen Nominalwerte unterscheiden sich der gleichen Größenordnung (Landkreis Landshut 170.026 Euro versus Stadt Landshut 19.603 Euro). Plausibel wären große Kostenstrukturunterschiede unmittelbar benachbarter Regionen ohnehin nicht.
Im PKV-Regionalatlas werden mit den Daten gesundheitspolitisch hoch relevante Thesen begründet (S. 47):
„Das Vorurteil, dass im ländlichen Raum einzelne Privatversicherte als „Trittbrettfahrer“ die von der GKV flächendeckend finanzierte medizinische Infrastruktur nutzen, ist mit Blick auf die Höhe des Realwertes der altersadjustierten Mehrumsätze auf dem Lande als substanzlos zu betrachten.
Darüber hinaus widerlegt der PKV-Regionalatlas Bayern einen weiteren populären und politischen Irrtum. Dass nämlich für die Standortentscheidung medizinischer Leistungserbringer insbesondere der Anteil der Privatversicherten von Relevanz sei und es deshalb zu einer Ungleichverteilung der Ärzte zwischen Stadt und Land käme. Die Regionalergebnisse für Bayern zeigen in diesem Zusammenhang in eine vollständig andere Richtung.“
Die Daten für Stadt und Landkreis Landshut sind dafür ein exemplarischer Prüfstein. Wenn allein der Mehrumsatz durch die PKV-Patienten im Landkreis in einer solchen Größenordnung liegen soll, wie hoch muss dann der Gesamtumsatz sein? Arbeiten im Landkreis Landshut nur Radiologen, oder Ärzte auf deren Einkommensniveau? Und bedarf es dann wirklich noch einer finanziellen Niederlassungsförderung für den ländlichen Raum?
Die Daten sind, wie gesagt, beeindruckend. Aber die Gesundheitspolitik braucht belastbare und überzeugende Daten. Sind sie es?
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