Seit einigen Tagen macht in den Medien eine “Westminster Declaration“ die Runde. Sie beansprucht, sich gegen Zensur und für Meinungsfreiheit einzusetzen. Die Meinungsfreiheit würde weltweit bedroht:
„Weltweit arbeiten staatliche Akteure, Social-Media-Unternehmen, Universitäten und Nichtregierungsorganisationen verstärkt daran, die Bürger zu überwachen und ihnen ihre Stimme zu nehmen. Diese groß angelegten und koordinierten Bemühungen werden manchmal als “industrieller Zensurkomplex” bezeichnet.“
Google weiß zum Begriff „industrieller Zensurkomplex“ zwar jenseits der aktuellen Deklaration nichts zu berichten*, aber dass es viele Länder gibt, in denen die Meinungsfreiheit nicht viel wert ist, darüber muss man nicht diskutieren. Nur werden sich Länder wie der Iran, China oder Russland durch so eine Deklaration gewiss nicht beeindrucken lassen. Sie sind wohl auch nicht gemeint. Den „industriellen Zensurkomplex“ verorten die Unterzeichner:innen vermutlich eher in den westlichen Ländern und dort wiederum vor allem in den Ländern mit einer lebendigen Zivilgesellschaft.
Im Grunde ist die Erinnerung daran, dass die Demokratie vom Meinungsstreit lebt, auch nicht verkehrt. Viele Debatten, von Corona über das Gendern bis hin zum Ukrainekrieg, sind zuweilen durch eine Hypermoral geprägt, die den Gewinn an Einsichten durch den Austausch an Argumenten erschwert und mitunter auch berufliche Karrieren beschädigen kann. Aber gehen wir wirklich einer weltweiten Zensurgesellschaft entgegen?
Schaut man sich die Unterzeichner:innen an, so fällt auf, dass es sich um eine ausgesprochen illustre Runde handelt. Da finden sich Leute wie Julian Assange oder Edward Snowden, die durch ihre Veröffentlichungen geheimer Dokumente bekannt geworden sind, der mit kritischen Einlassungen zur politischen Entwicklung nie sparsame Philosoph Slavoj Žižek, der ehemalige griechische Finanzminister Yanis Varoufakis oder der Filmemacher Oliver Stone, aber auch Figuren wie Ulrike Guérot, die es in der letzten Zeit diskursiv aus der Kurve getragen hat, reihenweise Leute wie Mathias Bröckers, Robert Cibis oder Robert Malone, die obskurantistische und verschwörungstheoretische Positionen vertreten, und auch Leute, die zum ideologischen Dunstkreis des erzreaktionären Gouverneurs DeSantis gehören, oder der Schweizer Weltwoche, die sicher ein ganz eigenes Verständnis von Meinungsfreiheit haben.
Die Buntheit der Unterzeichner:innen wird im Deklarationstext explizit betont:
„Als Unterzeichner dieser Erklärung haben wir grundlegende politische und ideologische Meinungsverschiedenheiten. Aber nur wenn wir uns zusammentun, können wir die eindringenden Kräfte der Zensur besiegen, damit wir weiterhin offen debattieren und uns gegenseitig herausfordern können.“
Allerdings dürfte der Kreis der Unterzeichner:innen so bunt sein, dass es die Glaubwürdigkeit des Anliegens schlicht zerstört. Manche werden es sicher mit der Deklaration ganz ernst meinen, vielen dürfte es aber vor allem darum gehen, ihre obskuren – und zuweilen andere herabwürdigenden – Ansichten frei und ungestört verbreiten zu können, manchen vielleicht auch nur um ihr Desinformations-Business.
Die Deklaration ging, wie die Unterzeichner:innen schreiben, aus einer Tagung im Juni in London hervor. Wer diese Tagung organisiert hat, wer eingeladen hat, wer sie finanziert hat, erfährt man auf der Seite der Deklaration nicht.** Sie hat – Stand heute – auch kein Impressum. Dabei wäre es doch gut zu wissen, wer da aktiv ist. Dubiose Deklarationen, die vorgeben, sich für die Freiheit einzusetzen, gibt es schließlich genug, so manche initiiert von amerikanischen rechtslibertären Think Tanks, die alles andere als die Freiheit des Wortes oder der Wissenschaft im Sinn haben.
Aber vielleicht ist das in dem Fall ja auch nur ein Hauch von Verschwörungstheorie – die Deklaratisten sollte es nicht stören, so viel Meinungsfreiheit muss sein, oder in der klassischen Formulierung: Das wird man doch noch sagen dürfen. Oder müssen.
—————
* Nachtrag 22.10.2023: Zum englischen Original “Censorship-Industrial Complex” wird google fündig, aber das scheint meist auch aus dem Umfeld des Mitinitiators der Deklaration, Michael Shellenberger, zu kommen.
** Noch ein Nachtrag 22.10.2013: Bei der Tagung hat es sich augenscheinlich um diese gehandelt: https://censorshipindustrialcomplex.org/blog-4-1/live-in-london-censorship-industrial-complex-exposed
Kommentare (106)