Vor ein paar Monaten ist das Buch „Cancel Culture – Ende der Aufklärung?“ von Julian Nida-Rümelin erschienen. Es ist ein Zeitgeist-Buch im doppelten Sinne. Seit einigen Jahren gibt es immer wieder Proteste gegen Veröffentlichungen, gegen Statements, gegen Fernsehauftritte von Menschen, deren Meinungen anderen Menschen unerträglich erscheinen. Sie sollen keine öffentliche Plattform bekommen. Der Anlass kann gewichtig sein, oder auch ganz marginal, dem Vorgang des „cancelns“ wohnt ein chaotisches, unvorhersagbares Element inne. Ein Zeitgeist-Buch ist es auch, weil über dieses Phänomen mit zunehmendem Unbehagen diskutiert wird und sich auch Stimmen zweifelhafter Provenienz dagegen zu Wort melden – Stimmen, die man vielleicht auch canceln sollte?
Oder lieber nicht? Das wäre die Position Nida-Rümelins. Nida-Rümelin sieht drei Stufen des Cancelns: Meinungen aus dem Diskurs ausschließen, Personen aus dem Diskurs ausschließen und Personen wegen ihrer Meinungen mit dem sozialen oder physischen Tod bedrohen. In der aktuellen „cancel culture“ sieht er eine Gefährdung der Demokratie, weil die Demokratie auf den möglichst freien Austausch von Meinungen auf Augenhöhe angewiesen sei, um sich selbst eine gut begründete Meinung zu bilden und zu gemeinsam getragenen Entscheidungen zu kommen. Daher sei es wichtig, auch Meinungen auszuhalten, die ganz anders seien als die eigene. Diese Grundüberlegung ausbuchstabierend appelliert sein Buch – 186 Seiten lang – an die Toleranz und dafür, sich um gute Argumente zu bemühen, nicht nur strategische Diskurse zu führen, die allein der Durchsetzung der eigenen Meinung dienen. Am Ende des Buchs gibt es eine kleine Kasuistik von Fällen des Cancelns vom Pharao Echnaton bis heute.
Heute Abend hat die Bayerische Staatsbibliothek in München zu einer Diskussion über seine Thesen und sein Buch eingeladen. Etwa 300 meist ältere und vom Äußeren her eher gut situierte Leute waren da. Bücherleute eben. Nida-Rümelin hat kurz noch einmal seine Kritik an der „cancel culture“ erläutert, danach gab es eine Diskussion mit Johan Schloemann von der Süddeutschen Zeitung und dem Publikum. Das Format ist zwar nicht dafür geeignet, den Austausch von Argumenten auf Augenhöhe zu testen, dazu ist die Asymmetrie zwischen Autor und Publikum in der Regel zu groß, aber die Diskussion war trotzdem interessant und auch ideenreich.
Die Wortmeldungen aus dem Publikum kreisten dabei vor allem um die Frage, was man gegen „cancel culture“ tun könne, wie man Menschen dazu bewegen könne, sich an Argumenten zu orientieren, ob es wirklich nur eine Wahrheit gebe, welche Rolle der “linguistic turn“ in der Philosophie und die Postmoderne bei alldem gespielt haben, oder welche Instanz denn darüber entscheiden solle, welche Meinungen auszuhalten seien und welche nicht. Grenzen gebe es, so Nida-Rümelin, wo ein Gegenüber die demokratischen Werte gar nicht teilt, wo also das gemeinsame Fundament des Diskurses, etwas durch den Austausch von Argumenten klären zu wollen, fehlt. Mit Nazis wolle er beispielsweise nicht diskutieren. Wobei am Ende keineswegs ein Konsens stehen müsse, sondern lediglich die Akzeptanz der Entscheidung nach dem Austausch der Argumente. Für viele Wahrheiten sah Nida-Rümelin keinen Platz. Es gebe eine Realität, nicht viele und man könne eigentlich heute nicht mehr postmodern sein. Die Instanz, die entscheide, was auszuhalten sei, seien wir alle, war seine Antwort auf die Frage nach dem obersten Diskursrichter. Ob das ein tragfähiges Argument ist, könnte man sicher auch diskutieren.
Mich hat der Abend zu der Frage geführt, ob das Beharren auf dem besseren Argument und der Orientierung an der Wahrheit“, so notwendig das einerseits ist, andererseits, wenn es zu sehr zum Maßstab wird, die Lust am Canceln nicht auch anfeuern kann. Vielleicht sind andere Interessen eher zu respektieren als die subjektiv empfundene Unwahrheit eines Gegenübers? Der Staatsrechtler Böckenförde hat nicht umsonst die Leistung des freiheitlichen Rechtstaats darin gesehen, nicht die Wahrheit zu garantieren, sondern den Frieden. Ob die Zivilgesellschaft damit überfordert ist? Oder ihre Verantwortung dafür wieder verstärkt entdecken und wahrnehmen muss?
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