Um es vorweg klarzustellen: Ich bin kein Virologe und kann zur Kontroverse „Spill over“ oder „Labor“ nichts sagen. Mich hat an dem Thema in der Vergangenheit der Umgang mit dem Wahrscheinlichkeitsbegriff interessiert. Das finde ich auch jetzt wieder interessant, wenn ZEIT und SZ berichten, der BND habe eine Wahrscheinlichkeit von „80 bis 95 % für das Zutreffen der Laborthese ermittelt. Wie berechnet man so eine „Wahrscheinlichkeit“? Oder ist das nur ein numerisch beziffertes Gefühl? Ich bin zu 93,5 % sicher, Letzteres, aber vielleicht ist das gar keine Sicherheit?
Im Folgenden will ich mich aber lieber auch etwas am verschwörungstheoretischen Vergnügen beteiligen, das der Vorgang ausgelöst hat. Der virenpolitische Sprecher der FDP, Wolfgang Kubicki, spricht von „Vertuschung“. Demnach geht es zu 80 bis 95 % um Fakten, nicht um ungesicherte Vermutungen.
Im ZEIT-Artikel, der nach meinem Gefühl, also mit 87,4 %iger Sicherheit, wortgleich mit dem in der SZ ist, schreiben die Urheber der Agentengeschichte, Georg Mascolo und Holger Stark:
„In den ersten Wochen des Jahres 2020, als ein neuartiges, tödliches Virus um die Welt rast, trifft sich in Berlin eine Gruppe von Agenten des Bundesnachrichtendienstes (BND). Sie soll das größte naturwissenschaftliche Rätsel der damaligen Zeit lösen – die Herkunft des Coronavirus.“
Bei Claas Relotius hätte noch dabei gestanden, dass sie sich bei grauem nebligem Wetter getroffen haben, wie es zu der Jahreszeit in Berlin üblich ist, draußen wirbeln Schneeflocken, es wird warmer Tee gereicht. Das „größte naturwissenschaftliche Rätsel der damaligen Zeit“ ist jedenfalls gewiss nicht die Herkunft des Coronavirus. Aber es klingt halt so gut und macht die Geschichte irgendwie glaubhafter. Wie der warme Tee, der gereicht wird.
Dann geht es um Jahre vergeblicher Mühe des BND, dem Kanzleramt die eigenen Erkenntnisse nahezubringen. Aber die stempeln „Geheim“ drauf und heften es weg. Aus gutem Grund. Mit ungesicherten Vermutungen soll man nicht das politische Klima aufheizen. Wo doch schon bei abgesagten Fußballspielen ein Teil der Antworten die Bevölkerung verunsichern würde.
Interessant wäre gewesen, warum es nicht gleich zu einem wissenschaftlichen Prüfauftrag seitens des Kanzleramtes kam. Das wissen vielleicht auch Mascolo und Stark nicht, und wir wissen nicht, ob sie das Kanzleramt danach gefragt haben. Der Auftrag kam erst Jahre später, nach Merkel:
“Scholz’ Leute bitten den BND, die Laborthese zunächst in aller Diskretion mit Drosten zu diskutieren. Doch dazu kommt es nicht, aus einer schwer erklärbaren Mischung aus Geheimniskrämerei des Dienstes, persönlichen Vorbehalten und Misstrauen.”
Hat der BND wirklich eine Weisung des Kanzleramts missachtet? Hat das Kanzleramt nie nachgefragt? Das klingt alles komisch. Und wie kommen die Autoren zu dieser Einschätzung, wer hat ihnen von „persönlichen Vorbehalten“ von wem gegenüber wem berichtet? Oder raunen hier gelehrige Schüler von Claas Relotius?
Und wie verhält es sich mit diesem angeblichen Motiv für die aktuelle Aktivität nach jahrelanger Geheimhaltung:
“Wenn eine neue Bundesregierung unter Friedrich Merz (CDU) im Kanzleramt auf eine weggeschlossene Geheimbewertung des BND stieße, würde das kritische Fragen nach sich ziehen.”
Wer soll das gesagt haben und wer soll das glauben? Sorgt sich Scholz am Ende seiner Kanzlerschaft darum, dass Merz dann Merkel zur Rede stellt? Und ist nicht davon auszugehen, dass es Dutzende “weggeschlossene Geheimbewertungen des BND” zu wer weiß was gibt, von Nordstream 2 bis sonstewas? Vielleicht sogar zu abgesagten Fußballspielen?
Am Ende wird im ZEIT-Artikel gefragt:
“Was würde es fünf Jahre nach der Pandemie überhaupt noch bringen, die Chinesen öffentlich verantwortlich zu machen?”
Ist die Frage ernstgemeint? Sind da zwei Journalisten in der Midlife-Crisis? Peking wird natürlich kaum seine Haftpflichtversicherung informieren, aber die öffentliche Wahrnehmung der Pandemie würde sich fundamental verändern, mit weitreichenden Folgen für die Glaubwürdigkeit der Politik und der Vertrauenswürdigkeit der Wissenschaft in vielen Ländern. Der Erklärungsdruck wäre enorm. Es würde also sehr viel bringen und das wissen auch die Autoren Mascolo und Stark. Warum stellen sie also so eine komische Frage?
Das wirft heute, an einem regentrüben Frühlingstag, in einem kleinen in Süddeutschland betriebenen Blog, neben dem PC steht eine Tasse Tee, weitreichende Fragen auf.
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