https://cdn1.vox-cdn.com/thumbor/riUp7UFSqsGGvLmq48Tjb3QMIcA%3D/cdn0.vox-cdn.com/uploads/chorus_asset/file/3493762/1._Aegirocassis_benmoulae_reconstruction_feeding.0.jpgAegirocassis benmoulae ist ein wirbelloses Meerestier aus Marokko.
Nicht etwa aus dem anheimelnd lauwarmen heutigen Mittelmeer, sondern aus einem Urzeit-Ozean.
Und fast 2 Meter groß!
Das Besondere an diesem Fund: Dieser sehr frühe Verwandte der Gliederfüßer (Arthropoden) hat das Meerwasser nach Kleinstlebewesen durchfiltriert!
Aegirocassis ist damit der älteste Nachweis für einen „Filter-Feeder“ – die gleiche Ernährungsweise, die unsere heutigen Bartenwale satt macht (Van Roy, Peter; Daley, Allison C., and Briggs, Derek E. G. (11 March 2015). “Anomalocaridid trunk limb homology revealed by a giant filter-feeder with paired flaps”. Nature (Nature Publishing Group). doi:10.1038/nature14256).

Marokko ist ein Paradies für Fossilienfans, hier liegen die versteinerten Reste aus gleich mehreren Urmeeren. Die Fossilienfundstelle Fezouata Biota ist aufgrund ihres Alters und der herausragenden Fossilerhaltung etwas ganz Besonderes: Sie stammt aus dem Meer des frühen Ordovizium und ist immerhin 480 Millionen Jahre alt.
Der marokkanische Fossiliensammler Ben Moula hatte dem belgischen Spezialisten Peter Van Roy von der Universität Gent  auf einen ungewöhnlichen Fossilfund aufmerksam gemacht. Van Roy erkannte die Bedeutung des Fundes und organisierte eine Ausgrabung – mit phänomenalem Ergebnis! Die Forscher fanden 4 Gattungen von Anomalocarididae, darunter einige dreidimensional erhaltene Stücke!

https://3.bp.blogspot.com/-JxjctaOQX0U/VQFkuk1lWBI/AAAAAAAApus/anyJVY3wDTY/s1600/Aegirocassis_benmoulae-novataxa_2015_10.1038-nature14256-f1.jpgGroße Klappe und viele „Flossen“

Diese Ur-Arthropoden sind zwar von einigen Fundstellen weltweit bekannt, aber normalerweise sind ihre Überreste platt gedrückt.
Mit den neuen Fossilien konnten die Paläontologen erstmals ganz neue Details dieser Urviecher erforschen. Die am besten erhaltene neue Art ist Aegirocassis benmoulae: Der Rumpf ist in Segmente gegliedert. Jedes Rumpfsegment hat je ein paar lappenartige Schwimmfortsätze am Rücken und am Bauch. Die „Bauchlappen“ sind homolog mit den Beinen, die „Rückenlappen“ mit den Kiemenstrukturen anderer Arthropoden.
Diese Körperanhänge sind essentiell wichtige Merkmale aller Arthropoden (Gliederfüßler) und haben sich über Jahrmillionen zu sehr spezifischen Beinen, Scheren und Kiemen entwickelt. Die Paläontologen können nun wichtige Rückschlüsse auf die frühe Entwicklung der Gliederfüßer ziehen und damit die frühe Evolution dieser erfolgreichen Tiergruppe besser verstehen.
Besonders ungewöhnlich ist die Mundstruktur: Aegirocassis benmoulae hatte an der Mundöffnung Fortsätze, die als Filtrierapparat interpretiert werden.
Die Entstehung großer Filter-Feeder ist ein Hinweis darauf, dass in den Ökosystemen nach dem „Great Ordovician Biodiversification Event“ auch große Mengen von Plankton die Meere bevölkerten. Dieser Event war, so Van Roy, der größte Artbildungsprozess in der Erdgeschichte (s. u.).
Die Präparation des Fossils hat über 500 Stunden gedauert!

Außer dem marokkanischen „Monsterkrebs“ ist nur noch ein filtrierender Anomalocaride bekannt.
Alle anderen Arten hatten runde Mundstrukturen und waren Jäger.

Der Film “Aegirocassis benmoulae”, eine Produktion des Yale Peabody Museum of Natural History, zeigt Rekonstruktionen und Hintergrundwissen zu den Anomalocariden. Er ist recht fachspezifisch, lohnt sich aber wegen seiner Details anzuschauen.

Die Arthropoden haben heute Wasser, Erde und Luft erobert: als Krebse, Insekten und Spinnen. Auch wenn die meisten Arthropoden heute recht klein sind, gibt es noch einige Giganten: Die Japanische Riesenkrabbe Macrocheira kaempferi hat zwischen den ausgestreckten Beinen eine Spannweite von bis zu 3,7 Meter.

Anomalocaris – die abnorme Garnele

Anomalocarididae-Fossilien sind bis heute in Nordamerika (USA/Kanada), China, Europa (Deutschland und Polen), Marokko und Australien gefunden worden. In den uralten Gesteinsschichten eines längst vergangenen Ozeans aus dem Kambrium bis zum Devon, also vor ca 500 bis 400 Millionen Jahren, zeugen sie von Ozeanen, die wir uns heute kaum vorstellen können.
Einige Anomalocariden wurden bis zu 2 Meter groß, damit sind sie die größten, bisher aus dem Kambrium bekannten Tiere. Manche jagten, andere filtrierten.

Anomalocaris prédateur1292366237.jpgDie Gruppe ist nach Anomalocaris benannt – die „anormale Garnele“.
Die ersten Fossilien von Anomalocaris wurden in der berühmten Burgess Shale in Kanada entdeckt. Hier sind mehr als 500 Mio Jahre uralte Fossilien, in großer Anzahl und herausragend gut erhalten.
Eigentlich hatten die Paläontologen ein rundes Mundstück gefunden und als Qualle einsortiert. Der Greifarm wurde als Schwanzstück eines garnelenartigen Tieres interpretiert und der Körper machte einen schwammartigen Eindruck auf die Forscher. Diese Einzelteile wurden seit ihrer Entdeckung um 1892 drei verschiedenen Tieren zugeordnet.
Erst 1985 beschrieben Harry B. Whittington and Derek Briggs ein vollständiges Exemplar der anormalen Garnele und zeigten dabei, dass alle drei Teile zum gleichen Tier gehören: “The largest Cambrian animal, Anomalocaris, Burgess Shale, British Columbia” (Philosophical Transactions of the Royal Society B 309 (1141): 569–609. Bibcode:1985RSPTB.309..569W. doi:10.1098/rstb.1985.0096.)

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Kommentare (12)

  1. #1 rolak
    14. März 2015

    Diese Körperform ist eindeutig ein lokales Optimum evolutionär optimierender Prozesse…

    Gliedertiere + Himmelskörper

    Ist bei mir seit Stross’ Accelerando mit ‘Hummer’ festverdrahtet.

  2. #2 Bettina Wurche
    15. März 2015

    @ Charles Stross? Seaquest? : )
    Ich finde ja auch, dass diese ganzen paläzoischen Viecher das Potentiel für SF-Helden haben. Die sehen so anders aus, als alles, was heute so schwimmt und kreucht und fleucht

  3. #3 Fliegenschubser
    16. März 2015

    Schöner Artikel. Ich stelle mir grade 2 Meter große Flohkrebse vor…recht beängstigend, einige Arten sind Räuber und sehen ziemlich fies aus, wenn man sie genau anschaut^^

    Ein Fehler hat sich eingeschlichen:
    “…Merkmale aller Arthropoden (Gliedertiere)…”
    Hier passt die Erklärung nicht zum Fachwort

  4. #4 meregalli
    16. März 2015

    So wie jede andere Naturwissenschaft ist die Paläontologie spannend und faszinierend. Dabei ist sie eine sehr junge Wissenschaft. Gerade mal seit 250 Jahren wird geforscht und gesammelt.
    Was machten eigentlich die präpaläontologischen Kulturen mit den Zufallsfunden? Hielten unsere Vorfahren die Ammoniten für Monsterschnecken oder einen Archeopteryx für ein erschlagenes Hendl und warfen alles auf die Halde? Neugier und kombinatorische Intelligenz ist doch eine alte menschliche Eigenschaft. Bei einer Recherche findet man, dass bereits ein Eratosthenes oder Leonardo da Vinci richtige Vermutungen anstellten, aber über besondere Funde in den Jahrtausenden vor der Aufklärung ist zumindest mir nichts bekannt.
    Weiß da jemand was?

  5. #5 Bettina Wurche
    16. März 2015

    Besondere Steine wurden schon immer irgendwie gesammelt und oft auch irgendwie erklärt.

    Bernstein etwa ist mindestens seit dem Neolithikum ein begehrtes Handelsobjekt von der Ostseeküste bis in den Orient gewesen. Ob da auch andere Fossilien gehandelt wurden, weiß ich nicht.

    Über die Zeit zwischen Antike und 14. Jahrhundert weiß ich wenig:
    In Ägypten wurde der Nummulitenkalk der Pyramiden von Herodot als Reste von versteinerten Linsengerichten der Arbeiter interpretiert. Ohne die Versteinerung näher zu klären.
    https://de.wikipedia.org/wiki/Nummuliten

    Versteinerte Haizähne hießen „Zungensteine“ oder „Natternzungen“ und galten oft als Amulett gegen üble Nachrede bzw. als Mittel gegen Gift (13. Jahrhundert).

    Ammoniten wurden als Schnecken eingeordnet, pyritisierte als Goldschnecklein.
    Was die Menschen über die Funde aus Orten wie Eichstätt, Holzmaden, den Kohleschächten, etc gesagt haben, darüber habe ich noch nie etwas gefunden.

    Die versteinerten Schädel der Zwerg-Inselelefanten auf griechischen Inseln wurden aufgrund ihrer großen Öffnung mitten im „Gesicht“ (typische Nasenöffnung für Rüsseltiere) als Zyklopen (einäugige Riesen) interpretiert.

    In China sind Fossilien lange Zeit als Drachensteine erklärt worden.

    Solche scheinbar logischen Erklärungen gibt es bestimmt auch für viele andere Fossilien, sie sind regional sehr unterschiedlich.

    Fossilien sind auf jeden Fall in Sammlungen und Kuriositätenkabinette geraten, weil sie als etwas Besonderes erschienen. Diese „Wunderkammern“ gehen bis ins 14. Jahrhundert zurück.
    Ich habe bisher in keinem Museum und keiner Sammlung ältere Stücke als „Wunderkammer-Zeit“ gefunden.
    Ich könnte mir vorstellen, dass Fossilien einfach als Amulette oder Schmuck eingesetzt wurden, ohne es weiter zu hinterfragen.
    – es so gut wie keine schriftliche Überlieferung gibt, weil nur wenige menschen schreiben konnten
    – die Kirche Fossilien und das Darüber-Nachdenken als Teufelswerk abgetan hat

    Gesner und Steno (1638 – 1686) hatte ganz gute Erklärungsansätze für einige häufige Fossilien, gehören wohl aber schon in die Aufklärung.
    https://de.wikipedia.org/wiki/Conrad_Gesner
    https://www.amazon.de/Die-Muschel-auf-dem-Berg/dp/3813501884

    Mein Fazit:
    Die Form der Fossilien und ihre Ähnlichkeiten und Unterschiede zu lebenden Organismen wurden seit der Antike festgestellt, ohne aber wirklich Erklärungen dafür zu haben.
    Die hat ja erst die Geologie geliefert, die mit dem Eisenbahnbau so richtig aufkam. Da erst wurde die strukturierte Abfolge der Gesteinsschichten erkannt und interpretiert.
    (s. Deborah Cadbury: Dinosaurierjäger).

  6. #6 meregalli
    16. März 2015

    Danke für die prompte Antwort.
    Die Bedeutung des Bernsteins in der Geschichte war mir natürlich bekannt. Von den Haifischzähnen hab ich auch schon gehört. Aber die Nummuliten waren mir nicht bekannt und von den Linsensteinen in Guttaring höre ich als Kärntner zum ersten Mal. Shame on me! Die Zwergelefanten von Sizilien und Griechenland waren fast noch in kulturgeschichtlicher Zeit rezent, die Zyklopen-Erklärung höre ich aber auch erstmals.
    Der segensreiche Einfluss der christlichen Kirche war natürlich eine verordnete Ignoranz, man darf aber nicht vergessen dass es in der Antike zuvor und im Morgenland auch im Mittelalter ein tolerantes und wissenschaftsförderndes Umfeld gab. In den zahlreichen Steinbrüchen und Bergwerken muss es auch sensationelle Funde gegeben haben, die sich aufgrund ihrer Größe nicht als Schmuck oder kleine Dekoration geeignet haben. Der Eisenbahnbau mag sicherlich zu vielen Funden beigetragen haben. Sieht man sich den Aufbau einer guten Römerstraße an können sich die dazu erforderlichen Grabarbeiten nicht allzusehr unterschieden haben.

  7. #7 Bettina Wurche
    16. März 2015

    @ meregalli: Der Eisenbahnbau war so ein Riesenschub für die Geologie, weil erstmals über große Distanzen hinweg in England Gesteine systematisch betrachtet wurden. Dabei fiel auf, dass die Schichtenfolgen in einer spezifischen Reihenfolge standen. Die Geologie der Britischen Inseln ist glücklicherweise geschichtet wie umgefallene Dominosteine: vom Präkambrium bins zum Pleistozän. So wurde die sich wiederholende Schichtung augenscheinlich.
    Die Fossilien waren da eher Beiwerk.

  8. #8 meregalli
    16. März 2015

    Ja danke. Anzufügen wäre aber auch, dass etwa zur gleichen Zeit die Meteorologie und Abstammungslehre geboren wurde, auch in England!

  9. #9 ipunkt
    17. März 2015

    Stark anzunehmen, dass seit Menschengedenken über seltsame Funde aus der Erde gerätselt wird.
    Nachweislich Gedanken gemacht haben sich schon die Griechen der Antike: https://de.wikipedia.org/wiki/Geschichte_der_Geologie
    Etwas später kam dann ein Schweizer: https://de.wikipedia.org/wiki/Johann_Jakob_Scheuchzer
    Die Engländer hatten wohl etwas weniger Probleme mit ihrer (anglikanischen) Kirche als mit der wissenschaftlichen Konkurrenz.
    Auf dem Kontinent stritt Georges Cuvier wacker mit. https://de.wikipedia.org/wiki/Georges_Cuvier
    Und weil ein Mondkrater und ein Asteroid nach ihm benannt wurden, wären wir wieder im All.

  10. #10 Bettina Wurche
    17. März 2015

    @ Danke, ipunkt : ): Scheuchzer mit seinem Sintflut-Sünder und den Georges Cuvier (Schorsch Küfer) hatte ich nicht genannt, weil sie ja schon in die Aufklärung fallen.
    Scheuchzer und sein armer Sünder waren mir auch schon einen Artikel wert:
    https://scienceblogs.de/meertext/2014/07/13/molch-tot-und-lebendig-vom-armen-suender-zum-jules-verne-protagonisten/

  11. #11 meregalli
    17. März 2015

    Leonardo da Vinci stellte einen Zusammenhang der Fossilien mit der Sintflut bereits in Abrede. Ich hab das Gefühl, dass Scheuchzer seine Interpretation als Sintflutkadaver ironisch gemeint hatte.
    Übrigens: Mit der korrekten Aussprache des Namens Scheuchzer kann man einen Italiener zur Verzweiflung bringen.
    Danke für das feedback

  12. #12 Rüdiger Kuhnke
    München
    17. Februar 2016

    Ich glaub, ich setz dich auf die Liste der täglichen Pflichtlektüre. Gleich neben Astrodicticum Simplex.