2019 waren 215 tote Grauwale an die Pazifik-Küste Mexikos, der USA und Kanadas gespült worden. Die rasch durchgeführten Nekropsien hatten ergeben, dass die meisten Wale sehr abgemagert waren. Außerdem waren die Tiere viel näher an Land unterwegs, als normalerweise und gerieten so in den Schiffsverkehr. Eine neue Studie der International Whaling Commission (IWC, Internationale Walfang-Kommission) hat noch eine weitere Todesursache gefunden: Orca-Attacken.

Grey whale calf (Wikipedia; Marc Webber/USFWS)

Grey whale calf (Wikipedia; Marc Webber/USFWS)

Grauwale führen normalerweise ein gemächliches Leben zwischen ihren Kinderstuben in den flachen Lagunen der Baja California und ihren Nahrungsgründen in der Tschuktschen- und Bering-See, jedes Jahr schwimmen sie in gemächlichem Tempo diese lange Wanderstrecke zwischen warmen und kalten Gewässern. Die bis zu 15 Meter langen, grau marmorierten Wale mit der charakteristisch abgebogenen langen Schnauze sind längst eine Touristenattraktion, sowohl in den Lagunen als auch auf ihrem Zug vor der amerikanischen Küste.

In normalen Jahren finden Biologen ungefähr 40 verstorbene Wale an den Stränden angespült. 2019 waren es bereits früh im Jahr wesentlich mehr, am Ende des Jahres hatten Biologen 215 tote graue Riesen gezählt. Alarmiert durch das Massensterben, begannen die NOAA-Forscher sofort mit der Suche nach den Ursachen.
Wahrscheinlich sind sogar noch wesentlich mehr Wale gestorben, aber nicht alle Kadaver werden an einen Strand angespült. Viele versinken auch einfach ungesehen und ungezählt im Meer.

Fündig wurden sie in den Nahrungsgründen der Grauwale, in den eisigen Gewässern der Tschuktschen- und Bering-See, am Übergang vom Nordpazifik zum Nordpolarmeer: Dort fressen sich die grauen Meeresriesen der Meere im Polarsommer von Juni bis August eine Speckschicht an, den „Blubber“. Davon zehren sie dann den Rest des Jahres. Grauwale sind die einzigen Bartenwale, die ihre Nahrung im Schlamm suchen: Sie nehmen ein Maul voll Sediment, dort, wo besonders viele Flohkrebse am und im Boden stecken. Dann spülen sie mit Meerwasser den Sand aus dem Maul, während Massen der kleinen Krebse und anderer Bodenbewohner in den Barten des Wals hängenbleiben und schließlich geschluckt werden.
2017 bis 2019 waren diese polaren Gewässer aber sehr warm und nahezu eisfrei, das führte zum Zusammenbruch der Planktonbestände, so dass die Wale zu wenig Futter fanden.
(Ohne Meereis keine Eisalgen, ohne Eisalgen keine Flohkrebse – diesen Zusammenhang hatte ich in diesem Artikel für Spektrum der Wissenschaft ausführlich beschrieben).
Demnach hätte eine Erwärmung der Meeresoberfläche, also eine Folge des Klimawandels, das Ökosystem durcheinandergebracht hat und letztendlich zum Massensterben der Grauwale geführt.

Die Bartenwale hatten also an ihrem üblichen Platz nicht genug Nahrung gefunden, so dass sie nicht genug Speck für die lange Reise nach Süden und zurück anlegen konnten. So kamen viele Grauwale vor Kalifornien schon extrem ausgehungert an:  Zwischen Kopf und Leib ist im Bereich der Halswirbelsäule eine Einbuchtung zu sehen – ein Hals! Bei einem gesunden Wal geht wegen eines Fettpolsters der Kopf ohne Einbuchtung in die Rückenlinie über.
Die Wale waren also offenbar extrem hungrig – manche schwammen dicht unter Land, wo sie nach Nahrung suchten, und kamen dort in die Schifffahrtsrouten vor der Küste.

Einige Biologen überlegten auch, ob der Futtermangel im Polarmeer möglicherweise daher kommen könnte, dass sich der Grauwalbestand nach seiner Fast-Ausrottung durch den industriellen Walfang wieder sehr gut erholt hat, und die Futterressourcen für so viele Wale nicht ausreichen.

Mittlerweile sind noch mehr Nekropsien durchgeführt worden und eine neue Studie im Auftrag der Internationalen Walfang-Kommission kommt zu einem etwas anderen Ergebnis:
Von 89 untersuchten Wal-Kadavern waren 29 abgemagert, 38 dünn und nur 22 in einigermaßen gutem oder gutem Ernährungszustand.
Von 50 näher untersuchten Grauwalen waren 15 offenbar Orca-Attacken zum Opfer gefallen, weitere acht trugen Spuren dieser Zahnwale – diese Angriffe stammen vermutlich aus alaskanischen Gewässern. Zehn Wal-Kadaver zeigten auch Spuren von Kollisionen mit Schiffen (“Postmortem findings of a 2019 Gray whale Unusual Mortality Event in the North-Eastern Pacific” S. Raverty, P. Duignan, D. Greig, J. Huggins, K. Burek, M. Garner; 2020) und ihre Kollegen.

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Kommentare (6)

  1. #1 rolak
    11. Juni 2020

    Hat ein wenig gedauert, bis klar wurde, was ‘Kollisionen von Schiffen’ mit dem Sterben von Walen zu tun haben – selbst leichtes Verlaufen im Denken kann schräge Folgen haben…

    Immer wieder schöne Übersichten und Neuigkeiten, danke dafür! Generell scheint mir hier im blog jeweils ein Aufhänger zu fehlen, der wenigstens halbwegs konkret mit dem Thema zu tun hat. Neben dem vom Anfang gäbs diesmal sogar noch einen halben: Letztens kam ein recht gruseliger [¡Autostart!] Bericht über Lachs.

  2. #2 Bettina Wurche
    11. Juni 2020

    @rolak: Der aktuelle Aufhänger ist die neue IWC-Publikation mit der überraschend hohen Anzahl Orca-Attacken. Und dass es 2020 leider genauso schlecht für die Grauwale weitergeht. Oder was meintest Du?
    Bei den meisten Themen steige ich ja über eine neue Publikation ein, manchmal über eine Anregung aus der Leserschaft, ein Buch, ein Vortrag oder eine Diskussion. Ich hatte den Eindruck, dass Artikel, die nicht gerade Mainstream sind, ganz gern gelesen werden.
    Den Lachsbericht finde ich hier zu weit weg, der hat ja eher mit den Orcas etwas zu tun. Grauwale fressen keinen Lachs und landen auch nicht in Lachsnetzen. Oder welchen Zusammenhang gibt es da?

  3. #3 rolak
    11. Juni 2020

    Tja, meinerseits wohl zu knapp / mehrdeutig formuliert…

    was?

    (M)Einen Aufhänger für einen nicht allzu themenfernen Kommentar, Bettina – Deinen für den Artikel hattest Du ja schon verlinkt.

    welchen?

    Nu, Dein “nur Fisch, am liebsten Lachs”.

  4. #4 Bettina Wurche
    11. Juni 2020

    @rolak: Ah, jetzt habe ich es begriffen : ) Ja, das Lachsthema ist wirklich heiß. Aquakulturen und Überfischung sind Riesenthemen und brandaktuell, aber ich schaffe es einfach nicht mehr, die auch noch angemessen zu beackern. Dabei gibt es dazu so viel zu schreiben/zu sagen.

  5. #5 HD
    13. Juni 2020

    “Wahrscheinlich sind sogar noch wesentlich mehr Wale gestorben, aber nicht alle Kadaver werden an einen Strand angespült. Viele versinken auch einfach ungesehen und ungezählt im Meer.”

    Definitiv. Bei einer Population von ca. 22.000 Grauwalen mit einer Lebenserwartung von 50-70 Jahren (laut Wikipedia) ist jährlich mit ca. 22.000/60=367 Todesfällen zu rechnen (wenn die Populationsgröße einigermaßen stabil ist).

    Dass letztes Jahr 215 tote Grauwale angeschwemmt wurden, ist also für sich genommen nicht erstaunlich; der starke Anstieg gegenüber 2018 ist aber natürlich besorgniserregend. Wobei es neben einer tatsächlichen Erhöhung der Todesfälle aber auch denkbar ist, dass 2019 einfach Walkadaver flächendeckender erfasst wurden als 2018 oder dass durch Meeresströmungen ein größerer Anteil der toten Wale an die Küste geschwemmt wurden.

  6. #6 Bettina Wurche
    13. Juni 2020

    @HD: Ja, klar, wenn diese doofen Wal-Experten einfach mal Wikipedia gelesen hätten, könnte man sich die ganze Forscherei natürlich auch sparen. [Satireschild].
    Grauwale können BIS ZU 75 Jahren alt werden. Das heißt nicht, dass alle dieses Alter erreichen. In den USA und Kanada MÜSSEN gestrandete Wale erfasst/gemeldet werden, da alle Meeressäuger unter dem höchsten Schutz stehen. Dafür gibt es umfangreiche Meldesysteme und in entlegenen Gegenden Flugsurveys. Angespülte Kadaver müssen wegen der Seuchengefahr vom Strand geräumt werden, treibende Kadaver gefährden die Schiffahrt – darum werden die Kadaver auch von Privatpersonen gewissenhaft gemeldet: “Marine mammal mortalities observed by the public, biologists, enforcement, First Nation and
    indigenous communities and research scientists were reported to regional stranding response networks and trained personnel were mobilized to examine stranded animals”, “The northward migration of gray whales along the US West Coast in spring is an annual event that for decades has been documented and reported by generations of biologists and naturalists. The coast is well populated and well-traveled, so that large cetacean strandings are likely observed and reported. The same principle may apply for most urban and residential areas of coastal Oregon, Washington and southern BC. For this reason, it is unlikely that the large peaks in mortality recorded in 1999/2000 and 2019 are due to increased observations. Therefore, it is unlikely that sighting effort alone could account for the increased reporting in those years. It is important to note that beach cast and near shore floating animals represent a small percentage
    of the overall mortality and results from compiled data are presumably biased.” steht in der IWC-Publikation. Grauwale werden also seit Jahrzehnten flächendeckend und ziemlich genau erfasst. Die Todesrate 2019 war also definitiv wesentlich höher als sonst. Wenn NOAA einen Unusual Mortality Event ausruft, dann haben diese Leute dafür richtig gute Gründe. Sonst würden sie sich nämlich ganz schnell einen anderen Job suchen können.

    Ich denke nicht, dass die Mortalitätsrate sich mit dieser Formel berechnen lässt. Der Ostpazifik-Bestand ist in den letzten Jahrzehnten zunehmend angewachsen, es dürften also mehr jüngere Tiere sein. Die Altersstruktur des Grauwalbestands kann bestenfalls geschätzt werden. Oder hast Du dazu noch eine Publikation gefunden?

    Selbstverständlich sind die ozeanographischen Daten in diese Studie mit eingeflossen, die sind für solche Studien essentiell – auffallend war die Korrelation der erhöhten Mortalität mit den höheren Öberflächentemperaturen im Nordpazifik bzw. Tschuktschensee und Beringmeer. Auch für die umfassende Ozeanographie ist NOAA zuständig, weitere Änderungen im Meer wären dabei natürlich erfasst worden. So etwas wird z. B. über die Bojennetzwerke und Satelliten kleinskalig erfasst. Hier die Übersicht: https://www.noaa.gov/