2019 waren 215 tote Grauwale an die Pazifik-Küste Mexikos, der USA und Kanadas gespült worden. Die rasch durchgeführten Nekropsien hatten ergeben, dass die meisten Wale sehr abgemagert waren. Außerdem waren die Tiere viel näher an Land unterwegs, als normalerweise und gerieten so in den Schiffsverkehr. Eine neue Studie der International Whaling Commission (IWC, Internationale Walfang-Kommission) hat noch eine weitere Todesursache gefunden: Orca-Attacken.
Grauwale führen normalerweise ein gemächliches Leben zwischen ihren Kinderstuben in den flachen Lagunen der Baja California und ihren Nahrungsgründen in der Tschuktschen- und Bering-See, jedes Jahr schwimmen sie in gemächlichem Tempo diese lange Wanderstrecke zwischen warmen und kalten Gewässern. Die bis zu 15 Meter langen, grau marmorierten Wale mit der charakteristisch abgebogenen langen Schnauze sind längst eine Touristenattraktion, sowohl in den Lagunen als auch auf ihrem Zug vor der amerikanischen Küste.
In normalen Jahren finden Biologen ungefähr 40 verstorbene Wale an den Stränden angespült. 2019 waren es bereits früh im Jahr wesentlich mehr, am Ende des Jahres hatten Biologen 215 tote graue Riesen gezählt. Alarmiert durch das Massensterben, begannen die NOAA-Forscher sofort mit der Suche nach den Ursachen.
Wahrscheinlich sind sogar noch wesentlich mehr Wale gestorben, aber nicht alle Kadaver werden an einen Strand angespült. Viele versinken auch einfach ungesehen und ungezählt im Meer.
Fündig wurden sie in den Nahrungsgründen der Grauwale, in den eisigen Gewässern der Tschuktschen- und Bering-See, am Übergang vom Nordpazifik zum Nordpolarmeer: Dort fressen sich die grauen Meeresriesen der Meere im Polarsommer von Juni bis August eine Speckschicht an, den „Blubber“. Davon zehren sie dann den Rest des Jahres. Grauwale sind die einzigen Bartenwale, die ihre Nahrung im Schlamm suchen: Sie nehmen ein Maul voll Sediment, dort, wo besonders viele Flohkrebse am und im Boden stecken. Dann spülen sie mit Meerwasser den Sand aus dem Maul, während Massen der kleinen Krebse und anderer Bodenbewohner in den Barten des Wals hängenbleiben und schließlich geschluckt werden.
2017 bis 2019 waren diese polaren Gewässer aber sehr warm und nahezu eisfrei, das führte zum Zusammenbruch der Planktonbestände, so dass die Wale zu wenig Futter fanden.
(Ohne Meereis keine Eisalgen, ohne Eisalgen keine Flohkrebse – diesen Zusammenhang hatte ich in diesem Artikel für Spektrum der Wissenschaft ausführlich beschrieben).
Demnach hätte eine Erwärmung der Meeresoberfläche, also eine Folge des Klimawandels, das Ökosystem durcheinandergebracht hat und letztendlich zum Massensterben der Grauwale geführt.
Die Bartenwale hatten also an ihrem üblichen Platz nicht genug Nahrung gefunden, so dass sie nicht genug Speck für die lange Reise nach Süden und zurück anlegen konnten. So kamen viele Grauwale vor Kalifornien schon extrem ausgehungert an: Zwischen Kopf und Leib ist im Bereich der Halswirbelsäule eine Einbuchtung zu sehen – ein Hals! Bei einem gesunden Wal geht wegen eines Fettpolsters der Kopf ohne Einbuchtung in die Rückenlinie über.
Die Wale waren also offenbar extrem hungrig – manche schwammen dicht unter Land, wo sie nach Nahrung suchten, und kamen dort in die Schifffahrtsrouten vor der Küste.
Einige Biologen überlegten auch, ob der Futtermangel im Polarmeer möglicherweise daher kommen könnte, dass sich der Grauwalbestand nach seiner Fast-Ausrottung durch den industriellen Walfang wieder sehr gut erholt hat, und die Futterressourcen für so viele Wale nicht ausreichen.
Mittlerweile sind noch mehr Nekropsien durchgeführt worden und eine neue Studie im Auftrag der Internationalen Walfang-Kommission kommt zu einem etwas anderen Ergebnis:
Von 89 untersuchten Wal-Kadavern waren 29 abgemagert, 38 dünn und nur 22 in einigermaßen gutem oder gutem Ernährungszustand.
Von 50 näher untersuchten Grauwalen waren 15 offenbar Orca-Attacken zum Opfer gefallen, weitere acht trugen Spuren dieser Zahnwale – diese Angriffe stammen vermutlich aus alaskanischen Gewässern. Zehn Wal-Kadaver zeigten auch Spuren von Kollisionen mit Schiffen (“Postmortem findings of a 2019 Gray whale Unusual Mortality Event in the North-Eastern Pacific” S. Raverty, P. Duignan, D. Greig, J. Huggins, K. Burek, M. Garner; 2020) und ihre Kollegen.
Insgesamt 23 Forscher hatten für diese neue IWC-Studie alle verfügbaren Informationen zusammengetragen. Offenbar lauern auf die Grauwale auf dem Weg nach Norden neben dem Klimawandel und der Erwärmung der Ozeane auch noch viele andere Gefahren.
Allerdings könnte es auch so sein, dass vor Hunger geschwächte Wale häufiger Orcas zum Opfer fallen und auch eher zu entkräftet sind, um Schiffen auszuweichen.
Außerdem führt die immer weiter eisfreie Arktis zu einem Vordringen der Schwertwale in neue Gewässer und einem guten Zustand vor allem der wandernden Orca-Gruppen (diese Gruppen heißen Transients) – sie sind klar die Gewinner des Klimawandels in der Arktis.
Leider hält die Serie der Grauwal-Massenstrandungen zwischen Mexiko und Alaska an: In 2020 sind auch schon wieder 114 Grauwale tot an die Strände gespült worden.
Bisher vor allem in Mexiko. Im Laufe der Wanderung nach Norden werden ab voraussichtlich Juli auch weiter nördlich vermehrt tote Wale an den Stränden auftauchen.
Im Mai fanden kanadische Biologen an der Westküste Vancouver Islands in Bristish-Columbia schon ein junges Männchen: Die rechte Seite seines Kiefers zeigte Spuren einer Orca-Attacke:
Vor British Columbia gibt es verschiedene Schwertwal-Gruppen – die Transients sind dafür bekannt, auch andere Meeressäuger zu erlegen. Die in den Gewässer fest ansässigen Residents fressen nur Fisch, am liebsten Lachs.
Leider sind derzeit große Veränderungen im ökologischen Gefüge (nicht nur) der Ozeane im Gange und die meisten stehen im Kontext mit ihrer Erwärmung. Nur ein paar Grad mehr entscheiden darüber, ob sich in der Arktis auf großen Flächen Eis bildet. Davon hängen das Wachstum der Eisalgen und anderer Algen ab. Die bilden wiederum die Nahrungsgrundlage für das tierische Plankton. Diese Veränderungen wirken sich dann auf das ganze weitere Nahrungsnetz aus.
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