Digitalisierte Logbücher und drei Forschungshypothesen

Dass in einem neu entdeckten Walfang-Grund, also neuen, ausbeutungswürdigen Gewässern, die ersten Walfänger extrem große Erfolge haben, die dann allerdings schnell abnehmen, ist nicht neu. Für den abnehmenden Jagderfolg gibt es eine Reihe von möglichen Erklärungen.

Das Neue an Whiteheads et al Forschung ist, dass sie die Daten und Hypothesen mit einem Computer-Modell durchgespielt haben – genau damit hatte Whitehead ja auch die Pottwal-Kommunikation und das soziale Lernen statistisch klar nachgewiesen.
So haben sie auch hier die drei Hypothesen im Computer-Modell simuliert:

  • Hypothese 1: Die Kompetenz der Walfänger hat abgenommen.
    Da die Walfänger außerhalb des pazifischen Pottwalfangs weiterhin sehr erfolgreich waren, ist das auszuschließen.
  • Hypothese 2: Im Walfang werden immer die anfälligsten Wale zuerst erlegt.
    Zu diesen Anfälligsten (vulnerable individuals) gehören die Alten, Kranken, Tollkühnen, Kriegerischen, Mütter mit Nachwuchs, …)
    Die Forscher haben mehrere Modellrechnungen dazu aufgestellt, aber die Daten passen nicht zueinander.
  • Hypothese 3: Die Wale haben mit Hilfe ihrer sozialen Lernfähigkeit extrem schnell und flächendeckend Walfang-Vermeidungs-Strategien erlernt und kommuniziert.
    In Modellrechnungen zum sozialen Lernen passten die Daten mit Abstand am besten. Für eine genetische Vererbung dieses Wissens ist die Zeitspanne viel zu kurz.
    Damit ist das soziale Lernen die beste Erklärung, warum der Erfolg der Walfänger innerhalb so kurzer Zeit so stark zurückging.
    (Wer sich für mehr Details zur Methode interessiert: Die Publikation ist mit allen Daten und Abbildungen open source).

Da Pottwale aufgrund ihrer Größe und Stärke sowie ihrer Wehrhaftigkeit keine natürlichen Feinde außer Orcas (Orcinus orca) haben, waren sie bei den ersten Konfrontationen mit ihren menschlichen Schlächtern nicht geflüchtet, allerdings lernten sie das schnell – vor allem flohen sie gegen den Wind, so dass ihnen die Segelschiffe nicht folgen konnten. Andere griffen ihre Peiniger an. Die Walfänger beobachteten, dass diese Verhaltensweisen sich schnell durchsetzten und vermuteten, dass die Meeressäuger offenbar intensiv kommunizierten und lernten.
Diese Vermutung haben die Biologen jetzt wissenschaftlich belegt.

Der Datensatz aus digitalisierten Logbüchern umfasste 77 749 Tage mit Pottwalsichtungen an 2405 Tagen. Nach dem ersten Erfolg ging innerhalb von nur 2,4 Jahren der Walfang-Ertrag um 58% zurück.

Diese schnelle, großskalige Übernahme neuer Verhaltensweisen würde das Konzept der räumlich-zeitlichen Dynamik des Lernens in nicht menschlicher Kultur erweitern, so Whitehead et al.

Nicht-menschliche Kulturen

“Pottwale sind ozeanische Nomaden in einer instabilen Umwelt. Ihr stabiler Familienverband mit den langjährigen, engen Beziehungen ist die wichtigste Konstante in ihrem Leben. Ich sehe sie als sehr soziale Wesen.“ beschrieb mir Hal Whitehead im Interview 2016 seine Sicht auf die großen Meeressäuger mit den kantigen Köpfen. In dem unbeständigen Lebensraum sei das enge Beziehungsgeflecht, in dessen Zentrum die Kälber stehen,  ihre einzige Konstante. Und dieses Geflecht wird offenbar durch einen gemeinsamen Dialekt und durch eine gemeinsame Kultur gestärkt (2016 hatte ich ihn für den umfangreichen Artikel „Moby Klick“ zu diesem Thema für Bild der Wissenschaft interviewt).
Mittlerweile sind von Whitehead und anderen Pottwal-Experten eine ganze Reihe unterschiedlicher Pottwal-Kulturen mit unterschiedlicher Kommunikation beschrieben worden, das Konzept einer Kultur auch außerhalb der Primaten-Evolution wird für immer mehr Tiergruppen beschrieben, für andere Walarten wie Orcas und andere Delphinartige und zuletzt für Nacktmulle.

Quellen

Zum Weiterlesen

Pottwale sind auf Meertext häufige Besucher, schließlich bin ich diesen größten aller Zahnwalen schon sehr nahegekommen. Zwei ganze arktische Sommer habe ich mit ihnen verbracht, sie in den letzten Jahren immer mal wieder besucht und einen gestrandeten Wal mit zerlegt. Ich hatte bisher übrigens ausschließlich mit Bullen zu tun.
Darum sind auf Meertext unter dem Schlagwort „Pottwal“ noch viele weitere Beiträge über die Leviathane und ihre Erforschung zu finden

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Kommentare (5)

  1. #1 RPGNo1
    22. März 2021

    Spannend.

    Ich nehme für mich mit, dass immer mehr Tierarten entdeckt werden, die ein kulturelles Verhalten an den Tag legen, als man sich das vor wenigen Jahrzehnten noch hätte vorstellen können.

  2. #2 Bettina Wurche
    22. März 2021

    @RPGNo1: Exakt so ist es! Die Mull-Kultur fand ich auch wirklich klasse. Für mich ist das ein gutes Zeichen, dass immer mehr WissenschaftlerInnen ihre eigene Rolle und Position im Universum immer stärker reflektieren und mit offenem Geist nach anderen Kulturen und Kulturleistungen suchen. Whitehead war in den 70-er Jahren neben Roger Payne eine der wichtigsten Innovatoren einer Erforschung lebender Wale, statt nur Daten toter und getöteter Tiere zu nutzen.
    Diese Forschung ist jetzt auch ganz klar erst durch die Computer-Programme zur Auswertung und Mustererkennung gigantischer Datenmengen möglich geworden. Whitehead und seine Arbeitsgruppe nutzt MATLAB, andere WissenschaftlerInnen nutzen R. Technologischer Fortschritt bringt imme rneue Forschungs-Perspektiven. Das ist ja auch in der Klimaforschung sehr deutlich zu sehen.

  3. #3 Herb
    Heidelberg
    22. März 2021

    Vielen Dank für den äußerst interessanten Bericht. Dies würde aber auch bedeuten, dass die atlantische Pottwal-Population dieses Verhalten nicht gelernt und weitergegeben hat. Gibt es denn einen Austausch zwischen den beiden Populationen über die beiden Kaps?

  4. #4 Bettina Wurche
    22. März 2021

    @Herb: Das kommt auf jeden Fall vor. Die Weibchen-Kind-Gruppen leben in wärmeren Gewässern. Diese Gruppen sind die kulturellen Zentren, Whitehead nennt die gegenseitige Unterstützung in der Nachwuchs-Fürsorge die Keimzelle von Kultur und Kommunikation. Die Mütter tauchen ja recht tief ab, in dieser Zeit wird Baby dann von ihrer besten Freundin beaufsichtigt. In subpolaren Gewässern leben ausschließlich Bullen nach Eintritt der Geschlechtsreife (dann fliegen sie bei Muttern `raus). Diese machen fast ausnahmslos nur Nord-Süd-WAnderungen, sie besuchen offenbar meist die gleichen Damen. Ab und an wechseln einzelne Bullen auch mal vom Atlantik in den Pazifik – die Walfänger hatten darüber berichtet: Alte Bullen bringen besonders viel Öl wegen ihres riesigen Spermaceti-Organs. Darum haben Walfänger natürlich diese Tiere ins Visier genommen. Oft haben sie zwar eine Harpune anbringen, aber den Wal nicht tödlich verletzen können. Dadaurch sind solche Wechsel dokumentiert worden. Die Pottwale bleiben allerdings außerhalb der Packeis-Grenze, darum sind sei wohl eher um Kap Horn geschwommen.
    Genetische Analysen haben allerdings auch “ocean changing” bei Weibchen nachgewiesen:
    https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC1689695/pdf/10097396.pdf

    Ich glaube allerdings, dass in der Zeit im Nordatlantik gar keine Pottwaljagd im großen Stil mehr stattfand, sonst wären die Amerikaner ja nicht extra dafür in den Pazifik gesegelt. Möglicherweise hatte diese Population nicht schnell genug gelernt. Um Madeira und die Azoren sind Pottwale mit kleinen offenen Booten und mit Hand-Harpunen bis in die 1970-er Jahre getötet worden. Entweder waren sie weniger lernfähig oder die AWlfänger härter im Nehmen

  5. […] Gruppen über eine lange Distanz mit Klickgeräuschen vor den Menschen gewarnt haben. (Quellen: scienceblogs.de, spectrum.de, deutschlandfunknova.de, abcnews.go.com und The Royal Society – Bilology […]