Von der Kunst, die Früchte zu zähmenBernd Brunners kulturgeschichtliche Betrachtungen von Naturgeschichte(n) lese ich immer gern. Und für Obst habe ich wirklich eine große Schwäche. Zu gern streife ich selbst sammelnd und naschend umher, die aromatischen reifen Früchte ziehen mich magisch an. Als gebürtige Hamburgerin bin ich mit der norddeutschen Obstvielfalt aufgewachsen, mit den apfellastigen Paradiesen des Alten Lands und der Vierlande. Einer meiner besten Kindheitsfreunde war der Boskopbaum im Garten meiner Großeltern. Das war noch ein richtiger grüner saurer Boskop, der erst nach einiger Zeit mürbe und weniger sauer werden musste. Als Geopark Ranger in Hessen lernte ich dann die Streuobstwiesen kennen und wohne heute nur einen Apfelwurf von der Streuobstwiese entfernt. Dort treffe ich auf wärmeliebenderere Nutzpflanzen als in Norddeutschland, wie Wein, Maronen und Walnüsse und auf andere Apfelsorten. Auf Reisen erkunde ich gern zuerst das Obstangebot: In Valencia hatte mich ein vollreifer Zimtapfel in Entzücken versetzt und bei Freunden in Kalifornien konnte ich es nicht fassen, dass die Straße von Granatäpfeln gesäumt war, die außer den Vögeln niemand erntete. Bis ich kam, sah und sammelte.

Darum war für mich Bernd Brunners neues Buch “Von der Kunst die Früchte zu zähmen – Eine Kulturgeschichte des Obstgartens“ ein absolutes Must-read.

Obst-Archäologie
In der Vorzeit, so erzählt er uns, sammelten Jäger und Sammler garantiert auch Früchte, die als Wildformen natürlich selten auch nur annähernd die Süße, Saftigkeit und Größe der heutigen Zuchtformen hatten. Die neolithische Revolution, der Übergang von Jägern und Sammlern zu ortsfest niedergelassenen Bauern, ist in erster Linie mit dem Anbau von nährstoffreichem Getreide verbunden, dass mit seinem hohen Energiegehalt viele Menschen ernähren konnte. Heute wird es fast weltweit zu Brot verbacken und zu Bier gebraut.

Haben die meisten ArchäologInnen bisher angenommen, dass der Obstanbau erst etwa 5000 Jahre alt ist, haben israelische Archäobotaniker im Jordantal einige kleine Feigen gefunden, die sie als die ältesten Kulturfeigen einordneten: Sie sind über 11.000 Jahre alt! Damit sind sie älter als die bisher bekannten Nachweise für Getreide, Wein und Gerste, die als Grundlage der niedergelassenen Menschen Zivilisation galten.

Herrlich illustriert mit vielen historischen Zeichnungen und Gemälden, die Früchte zum Anbeißen köstlich drapiert zeigen oder auch das Miteinander von Menschen und Früchten in historischen Gärten abbildend, ist das Buch nicht nur Lese-, sondern auch Augenschmaus. Wüsten-Oasen voller Früchte, Obstgärten zur Zierde und Versorgung von Hofgesellschaften und Klöstern bis zu mittsommerlichen schwedischen Streuobstidyllen von Carl Larsson laden ein zu einer Zeitreise des Miteinanders von Menschen und Früchten.

Die Kultivierung von Früchten ist also vermutlich über 11.000 Jahre alt, der Ursprung vieler Zuchtformen von Getreide, Wein und anderen immer noch wichtigen Kulturpflanzen dürfte im Zweistromland und im östlichen Mittelmeer liegen. Exotischere Früchte stammen aus Südamerika, Afrika und Asien.
Der Weinanbau soll in Ägypten begonnen haben, dort sind auch die ersten Zier- und Obstgärten belegt. Plakativ auf Wände aufgemalt und im trockenen Wüstenklima bis heute gut erhalten, geben Sie uns einen Einblick in die schwere Arbeit der Gärtner: die Bewässerung der Früchte und der Schutz reifen Früchte gegen Tiere wie Stare oder Paviane.
Bemerkenswert, dass offenbar das Starproblem schon so alt ist – auch auf unserer Streuobstwiese beäuge nicht nur ich die zunehmenden Scharen der frechen Stare mit großer Sorge, schließlich sind sie bis heute berüchtigte Kirschdiebe.

Äpfel!
Ein ganzes Kapitel ist meiner Lieblingsfrucht gewidmet: Dem Apfel. Einige 4500 Jahre alte gedörrte Wildäpfel in Siedlungen an Schweizer Seen und im Grab der mesopotamischen Königin Puabi aus Ur geben Aufschluss über die Herkunft der paradiesischen Frucht: Wildäpfel sind überall in der Nordhemisphäre vorhanden. Allerdings sind die kleinen Holzäpfel (Malus sylvestris) nicht die Vorfahren unserer heutigen Tafeläpfel!
Diese Kulturäpfel stammen wahrscheinlich aus Wildäpfeln im zentralasiatischen Raum, ihr Urahne ist wohl Malus siversii, die ersten Kulturäpfel sind Malus pumila (Danke für die Richtigstellung – @thomas) (Diese asiatischen Wildäpfel stehen heute auf der “Roten Liste”, da die Apfelwälder in Kasachstan weitgehend abheholzt sind). Die Täler des Tian Shan-Hochgebirges zwischen Westchina und Usbekistan bieten eine besonders heterogene Landschaft mit wilden Äpfeln, Birnen, Quitten, Walnüssen, Aprikosen, Kirschen, Pflaumen, Haselnüssen, Mandeln und noch viel mehr, also allem, was heute unsere Gärten und Obststände in Europa so ziert. In dieser abgelegenen Gegend haben Forscher die größte Vielfalt dieser Früchte gefunden und vermuten darum dort ihren Ursprung. Die Verbreitung der ersten verfeinerten Äpfel ist wahrscheinlich durch reitende Nomadenvölker und entlang der Seidenstraße durch Händler geschehen.
1404 erblickte und beschrieb ein Spanier als erster europäischer Reisender einen solchen parkartigen Obstgarten, dessen Mauern eine Vielzahl von Obstbäumen schützte. Allerdings keine Zitrusfrüchte, wie er verwundert bemerkte.

Dass sich ausgerechnet Äpfel als Allerwelts- und Alltagsfrucht so stark durchgesetzt haben, ist wenig verwunderlich: Fruchtfleisch und Schale sind robust genug für lange Transporte, getrocknet sind sie besonders lange lagerfähig und köstlich.
Bald kultivierten auch klösterlichen Obstgärten des Mittelalters in Europas eine immer breitere Palette von Obst, Gemüse, und Kräutern für Speisen und Arzneien. Äpfel und andere Früchte wurden allerdings zu dieser Zeit  zunächst als aromatische Zutat zum Würzen eingesetzt, weniger zum Verzehr als frische Frucht.
Obst wurde in dieser Zeit eher getrocknet, und dann gebraten oder gekocht verspeist. Gerade getrocknete Äpfel bieten eine Fülle von Aromen.
Eine der wenigen aus dieser Zeit überlieferten Apfelsorten ist die graue französische Renette, die bis heute vor allem in alten Streuobstwiesen kultiviert wird.

Obst für Klöster, Adel und fürs Volk
Die Klöster waren in Europa die Zentren für den Fortschritt bei der Pflanzenkultivierung und Nutzung. In ihrem durch Mauern geschützten und warm gehaltenen, zeitaufwändig gepflegten Gärten wurden auch erstmals mediterrane Gewächse wie Lavendel weiter im Norden gezogen. Diese Mauern sind nicht nur ein Schutz vor Diebstahl und vor wilden Tieren gewesen, sondern waren auch gerade weiter im Norden wichtig, um die teilweise empfindlichen Pflanzen vor dem rauen Winterklima zu schützen. Je nach ihrer Position im Garten konnten dann auch mediterrane Gewächse dort gut gedeihen. In Klöstern standen genug Arbeitskräfte für die schweren Arbeiten wie der Bewässerung, dem Beschneiden bis hin zur Ernte zur Verfügung. Aufgrund ihrer Schriftkunde konnten die Mönche wichtige Informationen zu ihren Pflanzenzuchten niederschreiben und mit anderen Klöstern austauschen. Gleichzeitig sollen diese Gärten aber auch den Mönchen zur Entspannung gedient haben, so wurden etwa Krankenquartiere in der Nähe des Gartens angelegt, damit die Kranken durch die wohltuende Wirkung der Pflanzen schneller genesen sollten.
Wegen des großen Arbeitsaufwands blieben solche Kulturfrüchte zunächst ein Privileg für Könige, den Adel und den Klerus.

Aber bald wurde ihr Nutzen auch für die Ernährung der breiten Bevölkerung deutlich, so sind seit dem Mittelalter Dörfer und Kleinstädte Mitteleuropas häufig mit Gürteln aus Obstgärten umgeben. Oft waren diese Gürtel auch mit Wäldern durchsetzt, die wichtige Wildfrüchte boten wie wilde Apfel- und Birnbäume, Esskastanien oder die im Wald wild wachsenden Johannisbeersträucher. Gleichzeitig dienten Blätter aus dem Wald zur Polsterung der empfindlichen Früchte wie Kirschen beim Transport in die Städte. Die Anlage solcher Gärten mit hochstämmigen Obstbäumen veränderte die Landschaft grundlegend, unsere heutigen Kulturlandschaften entstanden.

Diese neu geschaffenen Obstwälder zeigten ihren Nutzen gerade in Hungerperioden. Darum verordneten Herrscher wie Karl der Große ihren Untertanen die Pflanzung von 16 Baumarten, die meisten davon Obstbäume. Seit dem 16. Jahrhundert etwa gab es für jedes Paar mit Hochzeitsabsicht die Verpflichtung, sechs Obstbäume zu pflanzen und zu pflegen, vorher bekamen sie keine Erlaubnis zum Heiraten.
Auch der pragmatische Preußenkönig Friedrich der Große veranlasste per Order die Anpflanzung von Obstbäumen und das Anlegen von Baumschulen im ganzen Land. Diese Aufforstung war wichtig, da zuvor im Dreißigjährigen Krieg große Teile der Obstgärten Mitteleuropas verwüstet worden waren. Diese Obstbäume dienten sowohl der Ernährung der ortsansässigen Bevölkerung, als auch der Verproviantierung für durchziehende Reisende und durchmarschierende Soldaten.
Ein ganzes Kapitel stellt die Bedeutung und Verbreitung von Obstgärten in England vor. Gerade im aufkommenden Industriezeitalter mit immer größeren Städten sollten sie die arbeitende Bevölkerung mit Früchten und vor allem Cider versorgen. Der berühmte botanische Garten Kew Gardens u. a. für den Zweck angelegt worden, dort von Seereisen und Expeditionen mitgebrachte fremdartige Früchte zu kutivieren und zu prüfen, ob sie zur Ernährung der schnell wachsendne Bevölkerung taugten.

Andere Kapitel beschäftigen sich explizit mit Kirschgärten, die bereits aus der Antike überliefert sind und deren Vielzahl von Kirschen mir heute das Wasser im Mund zusammenlaufen lässt. Wie bei anderen Obstsorten wurden dort verschiedene Sorten für verschiedene Zwecke wie Dörren, Schnapsbrennerei oder das Trocknen nebeneinander gepflanzt. Außerdem wurden die Sorten nacheinander reif, sodass über einen langen Zeitraum des Sommers hinweg frische Früchte zur Verfügung standen.
Im 16. Jahrhundert, so das Kapitel „Die Geburt der Pomologie“, begann dann die enzyklopädische und wissenschaftliche Erfassung und Erforschung der Vegetation und auch der Früchte, bei der neben Priestern nun auch Amateuer- oder professionelle Naturforscher eine immer größere Rolle spielten. Aufgrund der Formen- und Farbenvielfalt der Früchte wurde diese Wissenschaft intensiv von Künstlern begleitet. Aus dieser Blütezeit der botanischen Illustration sind viele Porträts von Pflanzen und Früchten überliefert, mit exakter Abbildung der Sorten und von hoher Ästhetik. Durch den aufkommenden, immer günstigeren Buchdruck fanden sie schnell weite Vebreitung.

Die Zitronen der Dichter
Das Kapitel über die Zitruspflanzen ist untrennbar mit Goethes Italienischer Reise und seinem Gedicht „Kennst du das Land, wo die Zitronen blühen“ verknüpft. Kaum jemand, der heute im Supermarkt die Massenware Orange, Clementine und Zitrone in den Einkaufskorb legt, hat eine Ahnung von der Vielfalt dieser Früchte. Die meisten Deutschen dürften niemals eine der riesigen  Zedrat-Zitronen in der Hand gehabt haben. Ich selbst habe diese Früchte erst vor zwei Jahren kennengelernt, als ich ein altmodisches Zitronenmarmeladen-Rezept nachkochte. Die Zubereitung von eineinhalb Litern dieser Marmelade dauert etwa drei Stunden und ergibt eine absolut göttliche Speise in einer verlockenden Bernstein Farbe, der Duft erfüllt das ganze Haus.

Der Ursprung der Zitruspflanzen liegt weit östlich. So schrieb vor 1200 Jahren der chinesische Lyriker Du Fu: „An diesem Herbsttag duften die Tausend Orangenbäume rund um den Landpavillon“. Zitronen werden heute überall in tropischen und subtropischen Gegenden angebaut, immer wieder kommen neue Züchtungen gerade aus Asien auch in unsere Supermärkte.
Dabei ist interessant, dass ausgerechnet von den heute als Frucht und Saft so weit verbreiteten Orangen, die ja auch früh in Italien und Spanien kultiviert wurden, lange Zeit keine Wildpopulation gefunden wurde. Eine Hypothese meinte, das Orangen aus einer Kreuzung von Mandarinen und Pampelmusen hervorgegangen seien (Mit Mandarinen sind übrigens nicht die geschmacksarmen, leicht zu pellenden Clementinen gemeint, sondern die wesentlich aromatischeren echten Mandarinen). Erst in jüngerer Zeit wird der Orangen-Ursprung in den östlichen und südöstlichen Ausläufern des Himalayas vermutet, in Tälern mit starker Sonneneinstrahlung und geringen Regenfällen mit hoher Luftfeuchtigkeit. Frost mögen sie nicht, dafür wachsen sie auch auf armen Böden.

Die golden leuchtenden Orangen, die teilweise bizarr geformten Zedrat-Zitronen und andere Zitrusfrüchte in ihren außergewöhnlichen Farben, Formen und Düften sind seit der Antike immer wieder in die Bildende Kunst und Dichtung mit eingeflossen, so waren die goldenen „Äpfel“ der Hesperiden ganz sicher Zitrusfrüchte, vermutlich Orangen.

Obst in der Kunst
Die starken Düfte der Obst-Arten haben schon immer an unsere Sinne appelliert: Ihre Farben,  Formen und Düfte sprachen nicht nur Natur-IllustratorInnen, sondern auch bildende KünstlerInnen immer wieder an. Dass zumindest einige Früchte auch Metaphern für sündhafte Verlockungen und Erotik sind, dürfte das noch unterstützt haben. Viele Künstler hatten ihre eigenen Obstgärten mit Glashäusern und Frühbeeten, wie etwa die Renoirs. So versorgten sie sich damit nicht nur den ganzen Winter über mit Blumen und Gemüsen, sondern malten diese auch. Dem französischen Impressionisten Renoir standen die Mädchen und Frauen, die die Oliven ernteten, manchmal Modell. Im Impressionismus stellen viele Gemälde den Obstgarten als Symbol für den Rückzug zum ländlichen Leben und als Ort zum Ausruhen dar. Gleichzeitig sind Früchte seit Jahrhunderten Zutaten für Stillleben, sowohl aufgrund ihrer Ästhetik als auch als Symbol der Vergänglichkeit. Auch in die Dichtung fanden Früchte und ihr Einfluss auf unsere Gefühle ihren Platz, etwa im Werk der englischen Dichterin Emily Dickinson, die Brunner als eine begeisterte Gärtnerin mit soliden botanischen Kenntnissen beschreibt. Dickinson dichtete unter anderem, dass sie am Sonntag ihren Obstgarten der Kirche vorzieht: „Den Sonntag feiert man mit Kirchgang,  ich feiere ihn, daheim, ein Starling ist der Sängerknab, ein Obsthain ist der Dom“.

In unserer Zeit waren viele Obstsorten nur noch auf ihre Lager- und Transportfähigkeit sowie süße und Gleichförmigkeit hin gezüchtet worden, dadurch sind viele alte Sorten mit besonders gutem Geschmack und großer Bedeutung für die Biodiversität heute ausgestorben. Erst in jüngerer Zeit kümmern sich wieder Communities und NaturschützerInnen oft gemeinsam um alte Obstgärten wie Streuobstwiesen und hüten dort auch alte Sorten. Glücklicherweise wird in Sortenbanken das Saatgut historischer Formen aufbewahrt und oft angepflanzt. Seit einigen Jahren fordern auch Konsumenten wieder mehr Geschmack und Vielfalt bei Äpfeln, Tomaten und Kartoffeln, so dass nun auch alte Sorten meist im kleinen Umfang und regional etwa auf Bauernmärkten oder in Hofläden gut vermarktet werden können. So bewahrt etwa die im Südosten Englands gelegene Brokedale Farm heute 2200 Apfelsorten, 550 Birnen, 285 Kirsch, 337 Pflaumen, 19 Quitten, 42 Nuss vor allem Haselnuss sowie vier Mispelsorten auf. Da würde ich mich zu gern einmal hindurchprobieren!
Außerdem sind die Experten dieser Farm Ansprechpartner für professionelle Obstgärtner im ganzen Land und präsentieren auf Obstwettbewerben mit Verkostungen die alten Früchte.
Das größte zusammenhängende Obstanbaugebiet Europas ist, so Brunner, das Alte Land (und die Vierlande) bei Hamburg mit seinen über 10.000 Hektar die zu 3/4 von Apfelbäumen bestanden sind. Seit Jahrhunderten versorgt dieses Apfelanbaugebiet südwestlich von Hamburg am niedersächsischen südlichen Elbufer Bürger der Freien und Hansestadt Hamburg, früher stakten die Apfelbauern auf Lastkähnen über Kanäle (Fleete) auf die städtischen Märkte, heute kommen sie per LKW. Äpfel und Knupperkirschen aus dem Alten Land sind das Obst meiner Kindheit und nehmen in meinem Herzen immer noch einen besonderen Platz ein!

Brunner schwärmt in seiner Danksagung vom Garten seiner Eltern, wo neben seiner geliebten Schaukel Johannisbeer-, Himbeer- und Stachelbeer-Büsche Sträucher sowie Walderdbeeren wuchsen. Seine Erinnerungen daran haben reiche Früchte getragen, in Form dieses absolut lesenswerten Buches!
Eine fruchtige Anmerkung möchte ich zum Schluss noch ergänzen: die heute bei uns üblichen Erdbeeren stammen nicht, wie weithin angenommen, von den Walderdbeeren ab, die nicht nur wesentlich kleiner sind, sondern auch ganz anders schmecken. Unsere heutigen großen Zuchterdbeeren stammen vielmehr aus Südamerika und wurden von den spanischen Konquistadoren nach Europa gebracht. Die Bestätigung für diese Geschichte habe ich bei einem Besuch im Victoria and Albert  Museum in London gefunden, auf einem Seidenteppich aus Südamerika. Diesen Seidenteppich hatten südamerikanische Menschen in Sklavenarbeit für die spanischen Eroberer angefertigt. Sie bekamen das Seidengarn, das die Spanier aus China importierten und sollten dann daraus Teppiche produzieren. Dabei haben sie ihre traditionellen leuchtenden Farben, wie sie auch die herausragenden Textilarbeiten ihrer Kultur prägen, und die in Südamerika kultivierten Früchte eingearbeitet. So stand ich staunend und zunächst ziemlich irritiert vor einem Wandteppich aus chinesischer Seide mit rot leuchtenden Erdbeeren.  Die deutlich größeren und sehr aromatischen Erdbeeren traten über Spanien dann ihren Siegeszug bis an den nördlichen Polarkreis an. Heute werden sie sogar auf den Vesteralen (norwegische Inselgruppe nördlich der Lofoten) angebaut. Dort habe ich Erdbeerpflanzen als Zierpflanzen in Blumengeschäften gesehen, zu über 8 € pro Pflanze. Mittlerweile gibt es dort auch einen ersten Erdbeerzüchter.
Brunner erwähnt natürlich die historischen südamerikanischen Gärten der dortigen Herrscher und ihre Früchte, mit für mich vielen neuen Informationen. Nur die Erdbeere wollte ich noch ergänzen.

Von mir gibt es eine unbedingte Leseempfehlung!

(Die meisten Illustrationen stammen nicht aus Brunners Buch, sondern sind Netzfunde)

Bernd Brunner: Von der Kunst, die Früchte zu zähmen – Eine Kulturgeschichte des Obstgartens

13.6 x 21.0 cm, gebunden mit Lesebändchen, 288 Seiten mit 100 farbigen Abbildungen
22,00 €
ISBN 978-3-95728-566-9

Kommentare (11)

  1. #1 thomas
    4. August 2022

    “Diese Kulturäpfel stammen wahrscheinlich aus Wildäpfeln im zentralasiatischen Raum, Malus pumila ist wohl ihre ihr Urahne.”

    Malus sieversii aus Kasachstan ist damit gemeint.

    Malus pumila ist der Kulturapfel, auch als M. domestica bekannt.

    Sehr zu empfehlen ist auch Rosie Sanders’ Apfelbuch.

  2. #2 Aginor
    4. August 2022

    Danke für die Rezension, sie macht auf jeden Fall Lust auf das Buch!

    zur Kulturgeschichte der Obstbäume:
    So rein von der Idee her finde ich es auch naheliegender, dass der Anbau von Obstbäumen älter ist als der Getreideanbau, anstatt umgekehrt. Dass aus den Kernen Bäume wachsen die genau jene Früchte produzieren ist sehr schnell intuitiv erfassbar, ohne irgendwelches großartiges Wissen über Biologie. Wenn man also mehr solche Früchte haben will pflanzt man die Samen in die Erde und passt darauf auf.

    Bis aus irgendwelchen Gräsern das Getreide wird, das man so richtig verwenden kann dauert es länger und wenn sich der Ertrag auch lohnen soll dann ist Züchtung erforderlich. Beim Felder bestellen kann man mehr falsch machen als wenn man so halbwild eine Streuobstwiese anlegt, und ein schon einigermaßen großer Baum ist weniger empflindlich und erfordert weniger Arbeitszeit zur Pflege, im Vergleich zu einem Getreidefeld.
    Wenn man sich die Lebensweise der Menschen in jener Zeit anschaut dann leuchtet es schon ein, finde ich.

    Gruß
    Aginor

  3. #3 Bettina Wurche
    4. August 2022

    @thomas: Dankeschön! Ich habe es korrigiert.

  4. #4 Bettina Wurche
    4. August 2022

    @Aginor: Da bin ich hin- und hergerissen. Mit Getreide bekommt man halt viele Menschen schnell satt und es lässt sich lange lagern. Darum denke ich, dass Getreideanbau die Entwicklung von größeren Siedlungen ermöglicht haben dürfte.
    Mit Obst wäre das schwieriger.

  5. #5 rolak
    4. August 2022

    selbst sammelnd

    Oh ja! Zur Zeit ua Brombeeren, die vom Nachbargrundstück in die Firmeneinfahrt wachsen – MI-FR naschen nach Feierabend, DI WochenendErnte. Letzte Woche gabs einen BrombeerMichel, gestern zum Kaffeeklatsch die Beeren zusammen mit Äpfeln in Blätterteig, saure Sahne dabei^^

    Selbst anbauen eher in der Größenordnung Balkon, aber das Buch werde ich mir trotzdem mal ansehen, alte Gentechnik in alten Kulturen ist halt schon ziemlich interessant…

  6. #6 Bettina Wurche
    4. August 2022

    @rolak: Oh ja, das hört sich lecker an! Brombeeren schmecken auch toll im Käsekuchen und überhaupt fast allem : )
    Gentechnik kommt eher nciht vor, es geht eher um tradierte Zucht durch Auslese, Pfropfen,…

  7. #7 nix
    4. August 2022

    Eckart Brandt

  8. #8 Bettina Wurche
    4. August 2022

    @nix: qué?

  9. #9 Ales
    Köln
    4. August 2022

    Kleiner Literaturtipp zum Thema:
    Patrick Roberts: “Die Wurzeln des Menschen” in dem u.A. darum geht, wie der Mensch zu seiner Nahrung kam:
    https://www.spektrum.de/rezension/buchkritik-zu-die-wurzeln-des-menschen/1949143

  10. #10 rolak
    4. August 2022

    geht eher um tradierte Zucht

    ..die halt letztlich ebenfalls den Gensatz abändert(e) – wenn auch deutlich unkontrollierter als es heutzutage möglich ist, sowohl bei klassischer Zucht als auch bei neueren Techniken.

    Imho/zeitlich erlebt dürfte ‘enthält rekombinante’ aka selbstgestrickte DNA mehr ein MarketingDing sein, um großzügig zwischen ‘natürlich’ und ‘GMO’, zwischen gut&böse abgrenzen zu können, inklusive dergleichen.

  11. #11 thomas
    6. August 2022

    Musikalisch passt Ian Dury’s Titel “Apples” gut.