Beim Vergleich der Proben von „stinky“ und „non-stinky whales“ fand das interdisziplinäre Team Bromphenole als Hauptquelle des üblen Geruchs. Deren Geruch entspricht genau dem beschriebenen „medizinischen“, „iodartigen“ Gestank. Die Konzentrationen waren bei den „Stinkern“ auffallend erhöht: Im Lungengewebe um das bis zu 590-fache!.
Die zweite spannende Frage ist die Ursache der erhöhten Bromphenol-Werte. Untersuchungen an Fischen, die vorwiegend Meeresalgen und Würmer fraßen und auch Bromphenole enthielten, zeigten im Magen eine wesentlich höhere Konzentration als im restlichen Körpergewebe, das ist ein klarer Hinweis auf die Aufnahme mit der Nahrung. Hatten auch die Wale die Geruchsursache mit der Nahrung aufgenommen?
Grauwale sind die einzigen Bartenwale, die überwiegend am Meeresboden fressen: Jeden Sommer ziehen sie in die Tschuktschen-See und das Bering-Meer, wo sich im Laufe des arktischen Sommers besonders fette Flohkrebse in großen Konzentrationen im Meeresboden anreichern. Die Walschnauzen bohren sich dann in einer Seitenrolle ins weiche Sediment und nehmen ein Maul voll Schlick auf, der voller Flohkrebse und Würmer steckt. Mit halb geöffnetem Riesenmaul spülen sie den Schlick wieder heraus, Krebse und Würmer bleiben in den kurzen Barten des Oberkiefers wie in einem Sieb hängen. Die meisten Grauwale rollen dabei übrigens über die rechte Seite, nur wenige bevorzugen die linke – die bevorzugte Seite ist an der Barten-Abnutzung erkennbar. Dabei wühlen sie große Mulden auf, die vom Flugzeug aus sichtbar sind. Warum dort so große Mengen Amphipoden vorkommen, hatte ich für Spektrum hier aufgeschrieben, es hat mit den langen Sonnentagen der Arktis und den Eisalgen zu tun. Im Spektrum-Artikel habe ich allerdings die ebenfalls fetten und im Schlamm lebenden Borstenwürmer nicht weiter vorgestellt. Die sind aber der springende Punkt für die Bromphenol-Belastung: Bromphenole sind nämlich in manchen marinen Arten weit verbreitet, etwa bei Meeresalgen und in vielen wirbellosen Tieren, unter anderem bei Meereswürmern. Bromphenole sind Toxine mit antibakteriellen Eigenschaften. Gerade am Boden lebende, nicht sehr schnelle Tiere haben sicherlich erheblichen Bedarf an solchem Schutz vor Bakterienbefall. Flohkrebse und Borstenwürmer machen den größten Teil des Walmahls in der östlichen Tschuktschen-See aus, sie kommen in 90-100 % der Magenproben vor und sind fast 90 % des Gewichts der der Proben. Dabei sind Bromphenole bislang nur in Würmern, nicht aber in Krebsen nachgewiesen.

Da die Zusammensetzung der benthischen (im Schlamm lebenden) Artengemeinschaft lokal sehr unterschiedlich sein kann und Grauwale oft beim Sommerbuffet sehr ortstreu sind, kann es also sein, dass die „Stinker“ eine Stelle mit besonders vielen Würmern erwischt hatten. Ob sie das Bromphenol nicht wahrnehmen oder warum sie bevorzugt solche belastete Nahrung aufnehmen, ist noch nicht bekannt.

Warum sich die Tschuktschen langfristig nach anderer Nahrung umschauen sollten

Dass sich durch die Klimakrise gerade das arktische Ökosystem rasend schnell ändert und die Grauwale dort offenbar hungern, hatte ich für Spektrum recherchiert. Die Grauwale hatten diese Nahrungswanderung nach dem Ende der letzten Eiszeit entwickelt, vorher gab es die flachen Wasserbereiche nicht. In den letzten Jahren ist es dann zu Grauwal-Massensterben gekommen. Gleichzeitig haben die Walexperten beobachtet, dass immer mehr Grauwale offenbar nicht mehr bis in die Arktis ziehen, sondern statt der langen Wanderung für besonders fette Nahrung nur einen kurzen Abstecher nach Norden machen und sich dort mit weniger konzentrierter und fetter Nahrung begnügen: Mit Plankton aus der Wassersäule und kleinen Schwarmfischen. Sollten immer mehr Grauwale ihr Verhalten der Klimakrise anpassen, müssen sich vielleicht in absehbarer Zeit auch die Tschuktschen nach neuen Nahrungsquellen umsehen. Diese Transformation dürfte aber vermutlich einige Generationen dauern, bei Walen und Menschen.

Dass der Verzehr von Walen und anderen Meeressäugern wegen ihrer hohen Belastung mit Persistent Organic Pollutants (POPs) fragwürdig ist und trotz des guten Nährwerts mit Fetten und Proteinen die Gesundheit ihrer Konsumenten bedroht, sei hier nur am Rande angemerkt. Russische WissenschaftlerInnen empfehlen darum, den Walblubber und die Leber nicht zu essen, da hier die höchste Schadstoffbelastung konzentriert ist. Andere WissenschaftlerInnen raten vom Verzehr von Walfleisch darum ab.

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Kommentare (4)

  1. #1 Sascha
    19. Oktober 2022

    Gewagte Hypothese: Die Wale fressen entsprechend belastetes Futter, damit/weil sie weniger oft erlegt werden.

  2. #2 Bettina Wurche
    19. Oktober 2022

    @Sascha: Ausgesprochen gewagte Hypothese. Grauwale leben einzeln, gemeinsame Aktionen schaffen sie z. B. nicht mal gegen Orca-Angriffe. Anders als Buckelwale, die Orcas mobben:https://scienceblogs.de/meertext/2017/02/03/mobben-buckelwale-orcas/
    Von Pottwalen ist bekannt, dass sie Walfängern im 18. Jahrhundert vermutlich ausgewichen sind
    https://scienceblogs.de/meertext/2021/03/21/haben-pottwale-gelernt-walfaengern-auszuweichen/
    Orcas versenken kleine Boote, weil sie verstanden haben, dass von denen Schaden (Verletzung, Tod) ausgehen kann:
    https://www.spektrum.de/news/orca-angriffe-wale-die-yachten-rammen/2029864
    Solche Vermeidungen bzw. Angriffe als Reaktion auf einen einfachen kausalen Zusammenhang wären auch bei anderen Arten vorstellbar.

    Aber Deine Hypothese würde bedeuten, dass Grauwale
    1. verstehen, dass stinkende Wale seltener harpuniert werden
    2. die Wale den Gestank durch die Würmer aufnehmen
    3. aktiv wurmfreie Nahrung suchen.
    Das sind schon ziemlich viele kognitiv anspruchsvolle Leistungen, die als kausale Kette verknüpft werden müssen.
    Solche komplexen Zusammenhänge und eine daraus resultierende Reaktion würden wahrscheinlich die meisten Menschen überfordern : )
    Das würde ich nicht mal Orcas zutrauen udn schon gar nicht Grauwalen

  3. #3 Sascha
    20. Oktober 2022

    Das war auch nicht ernsthaft als kognitive Leistung gemeint.
    Es könnte aber eine evolutionäre Folge werden, wenn diese Wale weniger oft erlegt werden. Kommt halt drauf an, wie groß der Selektionsdruck durch die Bejagung ist.

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