Schon länger brennt in mir die Frage “Wie erkennt man dysfunktionale Organisation?”. Also, von außen; mit Blick auf eine Verwaltung, eine Stabsstelle, eine Firma oder Abteilung. Wer innerhalb der Organisation leidet, weiß um deren Dysfunktionalität. Organisationen hierzulande sind selten bösartig. Aber wie kann man sich sicher sein, dass die Organisation, mit der man gerade zu tun hat, dysfunktional ist – oder man einfach nur an inkompetente MitarbeiterInnen geraten ist – und man besser nicht auf die Leute schimpft?
Ausgehend von einer kleinen Anekdote postuliere ich als ein erstes Zeichen für die Dysfunktionalität von Organisationen:
Zeichen 1: MitarbeiterInnen, die keine Stellung beziehen mögen (obwohl sie es könnten)
So geschehen, als ich eine konkrete Frage zur Landescoronabekämpfungsordnung hatte. Die freundliche und hörbar kompetente Mitarbeiterin der kommunalen Verwaltung am Telefon wusste offenbar die Antwort, verwies mich aber an ihren Chef.
Wenn MitarbeiterInnen, die offenbar Auskunft geben können, die entsprechende Information nicht weitergeben wollen und einen Verweis auf die Hierarchie geben, ist das oftmals ein Indiz für Hierarchiekonflikte in der Vergangenheit: Beispielsweise bei mangelnder Fehlerkultur persönlich für Fehlkommunikation nach außen verantwortlich zu sein, statt zu überlegen, wie man Fehler gemeinsam vermeiden kann. Oder ein Indiz für starkes Mikromanagement. Diese Hierarchiekonflikte münden nicht selten das Pochen von Vorgesetzten über alle Kommunikation nach Außen aufgeklärt zu werden – was bei Stadtverwaltungen und anderen Dienstleistern eine “glänzende Idee” ist.
Gelegentlich gerät man auch an MitarbeiterInnen, die überrascht sind, wenn sie etwas von Außenstehenden über Interna Ihrer Organisation erfahren. Bei großen Organisationen (Firmen, Universitäten, große Behörden) ist niemand überrascht, dass nicht alle (Stabs-)MitarbeiterInnen alles wissen. Aber bei kleineren Einheiten sollte Informationsgleichheit zwischen den MitarbeiterInnen gegeben sein, wobei wir uns selbstverständlich um Unterschiede in Kompetenz- und Arbeitsschwerpunkten im Klaren sind.
Ein Beispiel für Informationsungleichgewichte ist, wenn von der Organisation ein Formular ausgegeben, ein Produkt oder ein Service eingeführt wird. Das ist nicht möglich, ohne dass ein Teil des Personals daran mitarbeitet. Wenn man als Dritter davon erfährt und Rat zum Formular oder Info zum Produkt haben möchte und an OrganisationsmitarbeiterInnen gerät, die erst durch die Nachfrage von der Neuerung erfahren, dann liegt solch ein Ungleichgewicht innerhalb der Organisation vor. Beispielsweise kann ich mich auch an eine Verwaltungseinheit und ein überraschtes “Oh, ich wusste gar nicht, dass hierfür ein Kollege eingestellt wurde” erinnern.
Es ergibt sich das zweite Postulat zur Erkennung von Dysfunktionalität durch Außenstehende:
Zeichen 2: Starke Informationsungleichheit zwischen MitarbeiterInnen der Organisation
Die Ursache hierfür liegt abermals häufig in der Hierarchie. Dort wo Vorgesetzte wirken, wirken Menschen und Menschen ziehen einige Menschen anderen vor. Soweit so normal. Dort wo Vorgesetzte keinen Ausgleich in ihre Organisationseinheit implementieren (z. B. durch allg. einsehbare Planungstools, regelmäßige Meetings, etc.), schleicht sich sehr schnell Informationsunwucht ein. Kleine Organisationseinheiten können dem (fehlendes Mobbing vorausgesetzt) durch Kaffeepausen und Flurfunk entgegenwirken. In diesen Zeiten sind derartige Kanäle jedoch eng (gemeinsame Videochats sind kein vollwertiger Ersatz). Da treten Informationsungleichheiten stärker zutage.
Wird die Organisation groß genug, so läuft die Außenkommunikation mitunter über Kommunikationsbeauftragte bzw. KollegInnen in PR-Abteilungen. Ziel ist es oftmals ein einheitliches Bild abzugeben. Das Ziel ist nicht verwerflich. Ein Seiteneffekt lässt mich jedoch mein drittes Postulat formulieren:
Zeichen 3: Spärliche Information an BürgerInnen/StudentInnen/KundInnen/NutzerInnen
Nicht selten sind MitarbeiterInnen selber über die Wahrnehmung ihrer Organisation durch Dritte enttäuscht und wollen durch Information nach außen daran etwas ändern. Doch wo das Vieraugenprinzip unter BürokollegInnen erweitert wird, um x-fache Freigabevorbehalte und die Pflicht zu dreifachen Durchschlägen (bzw. das elektronische Äquivalent des cc an entsprechend viele Stellen), überlegen sich engagierte MitarbeiterInnen oftmals, ob eine bessere Information des eigenen Kundenkreises die persönlichen Mühen wert sind: Warum Rüffel einstecken, wenn am Ende doch wieder Mist herauskommt? (Mitunter bemerkt man als Beobachter auch eine zeitliche Änderung der Inhalte der Organisationskommunikation, z. B. nach Wechsel in der Chefetage, die sich in beide Richtungen – Verbesserung oder Verschlechterung – auswirken kann.). So entstehen unüberlegte Erwartungshaltungen gegenüber Verwaltungen und Stabsstellen: Woher sollen wir als BürgerInnen wissen, dass die Verwaltung sich bereits eines Anliegen angenommen hat? Wie stellen wir uns als NutzerInnen eines Services auf Änderungen ein, wenn es eben keine/kaum Ankündigungen gibt?
Es gib/gab da ein mir bekanntes Krankenhaus mit einem sehr großen Arzt/Oberarzt/Chefarzt- zu Pflegepersonal-Verhältnis. Ergibt sich daraus das vierte Postulat?
Zeichen 4: Großes Häuptling zu Indianer-Verhältnis
Nun, ich denke schon, aber gemäß Peter-Prinzip kann es auch Zeichen einer gesunden Organisation sein. Nämlich dann, wenn eine große Organisation hochrangige, aber inkompetente MitarbeiterInnen abschiebt: Zu einer Teil-Organisation, wo kein Schaden mehr angerichtet werden kann. Man muss hier also genauer hinschauen: Das Krankenhaus hat als Gesamtorganisation nicht profitiert.
Und zu guter Letzt eine besonders perfide Wirkung der Dysfunktionalität – häufig angetroffen in Behörden und Stabsstellen (auch innerhalb von Unternehmen). Dort arbeiten zum Teil MitarbeiterInnen, mit dem Ziel Arbeit durch hierarchische Eskalation zu vermeiden. Was das heißt? Zuerst das fünfte Postulat:
Zeichen 5: Häufige Nachträge/Nachreichungen durch andere Teile der Organisation
Auf die Idee hat mich eine Freundin gebracht, die erzählt, dass sie in Vertretungspositionen zwei Erfahrungen gemacht hat:
- Während zeitweiser Arbeit in einer Nachbarabteilung: Bearbeitung eines Antrags (sie arbeitet in einer Verwaltung), wonach der Nachbarabteilungvorgesetzte kam und sagte: “Das bearbeiten wir hier nicht, das ist zum Weitergeben an Abteilung X.” Nach außen sichtbare Konsequenz: Ein(e) zweite(r) SachbearbeiterIn musste sich denselben Antrag nochmal vornehmen, obwohl die Arbeit schon erledigt war und einschlägige Kommunikation bereits erfolgte.
- Noch doller: Bei Vertretung einer Kollegin der eigenen Abteilung wurde ein Antrag bewilligt. Bei Rückkehr der Kollegin rügte diese, dass in dem fraglichen Antrag bestimmt noch eine Unstimmigkeit zu finden sein müsse (der Servicegedanke ist manchen Menschen fremd, der Ego-Boost kommt davon anderen das Leben schwer zu machen) und somit der Antrag abgelehnt werden könne.
Als BürgerIn / KundIn können wir nicht unterscheiden, ob der zweite Brief/Anruf/Mail wegen Unwillen oder Nörgelwut erfolgt (wenn der Nachtragt berechtigt erfolgt, beispielsweise zur Korrektur eines Fehlers, ist das meist erkennbar). Aber wenn der Fall wiederholt auftritt und ein Muster erkennbar ist (Namen der SachbearbeiterInnen, Abteilungen, etc.), dann ist das doch ein starkes Indiz zur Dysfunktionalität der Organisation. Ihr Fehler liegt dann konkret darin, freidrehende MitarbeiterInnen oder Vorgesetzte nicht in die Schranken zu weisen.
Denkbar ist natürlich auch eine Verschmelzung der Zeichen 2 und 5: Dort wo die linke Hand nicht weiß, womit die rechte beschäftigt ist, kann es selbstverständlich auch zu einer Nachricht an Nutzer oder Kunden kommen mit dem Tenor: “Kommando zurück: Was KollegIn A erzählte ist leider unzutreffend.”
Zeichen 6: Beißender Stallgeruch
“I – am – the – king!” an diesen Ruf eines bösartig-narzisstischen Charakters aus Game of Thrones erinnert sich jeder Fan. Dass der Ton die Musik macht, ist keine neue Erkenntnis. Und so können wir aus mancher Besprechung mitnehmen, wie sich manche Alphamännchen aufplustern (und wir uns gefragt haben, ob sie denn neben der Selbstbeweihräucherung auch zu “Management” fähig sind). Ich habe auch so manches Mal erlebt, wie ohne anwesende Frauen sexistische Witze gerissen wurden (und mich gefragt wie es den Frauen in der Abteilung so geht). Nicht nur haben mitlesende Männer bestimmt häufiger schon ähnliche Erfahrungen gemacht (und Frauen auf der anderen Seite), auch das verbale Abgrenzen von anderen Gruppen scheinen manche Egos einfach zu brauchen.
Dort also, wo sich Autorität nicht aus Qualität ergibt, leidet früher oder später das Klima. Ein Einfluss auf die Funktionalität der Organisation ist wahrscheinlich.
Zum Schluss
Meine Erhebung erfolgt weder systematisch noch mit Anspruch auf Vollständigkeit. Zwischen völliger Funktionalität (alles klappt immer) und völliger Dysfunktionalität (ein Saftladen, in dem absolut gar nichts gelingt) liegen viele Zwischenstufen. Dass eine Organisation eines der Extreme erreicht, scheint mir hochgradig unwahrscheinlich. Klar auch, dass meine Indikatorenliste alleine nicht ausreichend ist, um den Grad der Dysfunktionalität einer Organisation zu ermitteln. Aber diese – und vielleicht weitere? – Indikatoren können schon zur Frage anregen, ob einem die Menschen innerhalb eines Saftladens leidtun können.
Das ist ja ein Wissenschaftsblog – und der Autor muss hier kein Wissen versprühen oder auf Autorität pochen. Als Wissenschaftler vermute ich: Die Erfassung von Funktionalität ist bestimmt schon irgendwo untersucht worden. Doch was ist ein gutes Maß hierfür (und nicht für Effizienz, die ist verhältnismäßig leicht zu erfassen)? Als Naturwissenschaftler habe ich bestimmt falsch gesucht (Businessliteratur und psychologische Forschung sind mir ziemlich fremd), jedenfalls habe ich keine gute Methodik (für die Erfassung innerhalb oder außerhalb einer Organisation gleichermaßen) finden können. Vielleicht kennt hier jemand einschlägige Literatur oder weiß noch mehr, noch bessere Kriterien für die Erfassung? Mich würde es freuen.
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