Der letzte Frühling versprach schön zu werden. Anfang März 2020 war es schon relativ warm und “Corona” erst eine diffuse Bedrohung. Als ich am 12. März die Schulsachen meines Kindes holen wollte, der Lockdown hatte sich schon angekündigt, bat mich der Lehrer diese in der Schule zu lassen, schließlich würde man all die Dinge in der nächsten Woche ja noch in der Schule benötigen. Alles Reden war sinnlos. Am nächsten Tag, die Schließung der Schulen wurde am Morgen verkündet, zeitig vor Schulschluss bei der Schule gewesen (ich war rekonvaleszent und hatte Zeit). Wollte abermals hinein und die Sachen holen (Grundschulkinder dort tragen sehr wenig Material nach Hause, es lagert in der Schule und die Eltern haben die Möglichkeit ab und an nach dem Rechten zu schauen). Die herbeieilende Kommunikationsbeauftragte der Schule hat mich mit 2 anderen Elternteilen aus der Schule geschickt: Es sei schließlich Pandemie und da sollen nicht so viele Leute auf engem Raum zusammen sein. Wir sollten bitte vernünftig sein und hinausgehen.
Zehn Minuten später: Mütter und Väter aller(!) Kinder stürmen die Schule und holen die jeweiligen Schulsachen ab, man will ja schließlich für die Zeit zu Hause gewappnet sein. Eine Szene mit mehr als hundert Menschen in einem kleinen Bereich vor Klassen und Spinden. Misschief managed!
Warum schreibe ich das?
Kontakte sind die Nahrung des Virus. Das haben wir alle so oft gehört, es ist banal geworden. Und dennoch wartet die hiesige Kultusministerin unmittelbar nach Verkündung der letzten Verschärfungen (Homeoffice für alle(!) wenn möglich – und wenn nicht “zwingende Gründe” dagegen sprechen) mit einem Schreiben an die Schulen auf (siehe hier, dürften alle Eltern in RLP per elektronischem Brief erhalten haben), die es erlauben für die kleinen und größten Schüler Wechselunterricht einzuführen. Ist ja schließlich Wahlkampf und nichts ist gefährlicher für eine Regierungspartei, als wütende Eltern.
Unsere Schule hat das Konzept aus der Zeit nach dem ersten Lockdown beibehalten: Gruppen einer Klasse wechseln sich täglich ab. Am einen Tag die eine Hälfte, am anderen die andere. Auf diese Weise ist garantiert, dass alle potentiell Infizierten auch die größtmögliche Chance haben, die Stafette weiter zu geben. Wir erinnern uns: Bei SARS-CoV-2 sind Infizierte ein paar Tage symptomfrei (wie bei anderen Erkrankungen auch), aber potentiell infektiös. Da bei – häufig symptomfreien – infizierten jungen Kindern selten genug überhaupt getestet wird, ist die Nachverfolgung in Schulen auch bei niedriger Inzidenz schwierig. Ein Wechsel im Wochenrhythmus erhöht die Chance, dass Infektionsherde erkannt werden, bevor ein Superspreading-Ereignis daraus wird – weitergehende Elemente, wie Trennung zwischen Klassen und Kontaktvermeidung zwischen Lehrern vorausgesetzt. (In dieser Einschätzung mag ich mich irren: Bitte in die Kommentare – ich lerne gerne dazu. Und ich habe gerade während des Schreibens gelernt, dass die fragliche Schule zumindest Teilweise ein anderes Wechselmodell als angekündigt praktizieren wird. “Konsequenterweise” verbleiben die Kinder in Notbetreuung stetig in der Klasse und vermitteln so den Kontakt zwischen den Gruppen – vielleicht liege ich mit meinem Befürchtungen </sarcasm>)
Auch andere Szenen zeigen jetzt, im Januar 2021, dass die Risikowahrnehmung eher gering ist: Viele Kinder in den Kitas und Erzieherinnen ohne Masken, die auch über Gruppengrenzen hinweg den Austausch pflegen. Gerade erst heute morgen von draußen reingeschaut. 5 junge Leute an einem Tisch – noch ohne Kinder, aber auch ohne Masken und ohne Abstand. Eine Uni-Sporthalle in denen mehr als ein Dutzend Spielerinnen und Spieler Badminton spielen – immerhin bei offenem Fenster. Familien, die auf dem Supermarktparkplatz eine Begegnung mit Umarmungen und Küsschen zelebrieren. Etcetera, etcetera, … Alles sehr verständlich, ist doch klar, das das individuelle Risiko für jeden kleinen Moment klein ist. Und man sehnt sich nach Aktivität und Nähe. Nicht wenige können es zu Hause nicht mehr aushalten.
Aber nicht aufregen – wie schreibt es Kollege Reinboth doch so schön:
— Frau Elster (@Frau_Elster) January 27, 2021
Die Infektionszahlen jedoch sprechen eine deutliche Sprache: Das Virus hungert nicht. Zugegeben, es lebt gerade nicht in Saus und Braus und die Infektionszahlen gehen zurück, aber es hungert nicht. Doch das sich heraus schälende Bild ist schwer zu interpretieren: Pandemiemüdigkeit? Mangel an Umsicht? Gruppendruck? Die Politik der konsequenten Inkonsequenz und das Unverständnis von uns, der Bevölkerung?
Wer trägt die Verantwortung?
Ist es die Politik, die versucht es allen recht zu machen, dabei zu wenig erklärt und zu widersprüchliche Signale sendet? Sind es die Schulen, die zwischen den Stühlen sitzen? Sind es die Aufsichtsbehörden, die nicht eingreifen und die schlimmsten Hygienekonzepte zurückweisen? Die gut ausgelasteten Gesundheitsämter? Unaufgeklärte und gestresste Eltern? Doch mag das eben skizzierte Durchreichen von Verantwortung und mangelnde Information auch stören, das ist zu einfach:
Schon zu “normalen Zeiten” geht im politischen Alltag so viel schief, dass die (digitalen) Stammtischler genug Aufregestoff haben. Schon zu normalen Zeiten wird versäumt Kanäle zwischen Behörden und von unten nach oben einzurichten, die wirklich effektiv sind und ein Präventiv zu gut gemeinten, aber schlecht umzusetzenden Gesetzen und Verordnungen schaffen könnten. “Normalerweise” nur Stoff für den Stammtisch und politische Gegner. Jetzt rächt es sich vollends.
Und weiter?
Vor einer Woche wurden die “Coronadiskussionen” noch von Impflicht und jetzt vom Fortgang bei den Impfungen dominiert. Bis heute ist das Resultat Argwohn zwischen Alters- und Berufsgruppen und viel heiße Luft in Talkshows. Aber eigentlich müssten wir uns dem globalen Süden zuwenden. Denn von Aluhutträgern und Querdenkern abgesehen hat jetzt jeder begriffen, dass eine Pandemie ein weltweites Problem ist. Das werden wir nicht mit nationalen oder EU-weiten Programmen lösen. So lange es in den Ländern des Südens grassierendes SARS-CoV-2 gibt, haben wir ein Problem.
Die Regierungen der OECD sind dem zweifelhaften Vorbild des America First gefolgt und kauften mit viel Geld Impfstoffe für uns, ihre Bürger. Ungeachtet der COVAX-Initiative der WHO, EU und mancher Staaten wird in absehbarer Zeit zu wenig Impfstoff in ärmeren Ländern ankommen.
Lassen wir uns mal spekulieren: Wie sieht die Welt am Ende diesen Jahres aus? Mit ein wenig Glück, haben die Länder des Westens und die asiatischen Tiger großteils ihre Bevölkerungen geimpft und sind der Herdenimmunität wenigstens nahe (die Bretter, die es dazu in Ländern wie Frankreich und Deutschland noch zu bohren gilt, sind allerdings nicht dünn). Vielleicht können wir in diesen Regionen somit die Pandemie stoppen. Doch in Afrika wird nur ein kleinerer Teil der Menschen geimpft sein. Wahrscheinlich wird die Pandemie länger dauern. Was folgt daraus? 2022 wird die Ungleichheit auf dieser Erde noch mal angefeuert durch die Länderprädikate “coronafrei” und “durchseucht”. Wir können uns denken welche Länder in welche Kategorie fallen werden.
In der Zwischenzeit werden munter weitere Mutationen angehäuft. Glücklicherweise scheint der BioNTech/Pfizer-Impfstoff gegen die Variante B.1.1.7 Schutz zu bieten. Doch es ist nur eine Frage der Zeit, bis immer neue Mutationen den letzten Satz Makulatur werden lassen – für jeden entwickelten Impfstoff. Die Impfstoffe von morgen werden nicht ganz genau wie Impfstoffe von heute sein.
Und wo stammen diese Mutationen her?
Die Welt wird sich nicht wohl fühlen, sollte immerzu neue, potentiell das Risiko erhöhende, Mutationen über den Erdball schwappen. Das wird ohnehin geschehen, ein Virus ist kein statisches, immer gleiches Ding. Es verändert sich und die Chance besteht in jedem infizierten Menschen.
Normalerweise dauert eine SARS-CoV-2-Infektionen ein paar Wochen. Bei einigen, vor allem Menschen mit unterdrücktem Immunsystem, kann das Virus länger nachgewiesen werden. Mutationen können in jeder Population entstehen; vor allem Menschen mit schwachem Immunsystem bieten dem Virus jedoch mehr Zeit sich zu verändern. Allein Afrika mit seinen beständig hohen HIV-Fallzahlen und Millionen von Menschen ohne Zugang zu Medikamenten bietet mit den vielerorts dürftigen Gesundheitssystemen somit ein riesiges Reservoir von geschwächten Wirten.
Wir können Druck aus dem Kessel nehmen
Wir finden also Zeitgenossen, die sorglos darauf zusteuern, dass das 100.000-Infizierte-im-Sommer-Szenario Realität wird. Währenddessen streitet die große Politik darum die Versäumnisse von gestern aufzuarbeiten und sieht die Herausforderungen von morgen nicht. Und die besteht darin für uns alle mit zu denken und darin hierzulande möglichst viele Menschen geimpft zu sehen und für die Politik auch über den Tellerrand der Tagesaktualität zu blicken.
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