Eine Studie der Charité zeigt jetzt: Die Zahl der schweren Nebenwirkungen liegt in der Praxis immerhin deutlich höher als die offiziellen Meldezahlen. Studienleiter Harald Matthes sagte dem MDR, dass etwa 0,8 Prozent der Geimpften über schwere Nebenwirkungen klagten – das sind deutlich mehr als die schweren Verdachtsfälle, die dem zuständigen Bundesinstitut bislang gemeldet wurden. Matthes fordert nun Anlaufstellen für Betroffene.
Diese Meldung (das Zitat ist aus der Morgenpost) machte in den letzten Tagen die Runde, auf Twitter war #Impschaeden ein beliebter Hashtag und Kommentare der Querdenker voller Häme. Die zitiere Meldung findet sich mehrfach in der Presselandschaft und unter dem Interview, dass alles in Rollen brachte, findet sich schön reißerisch “Impfkomplikationen? Mehr schwere Nebenwirkungen als gedacht?”.
Keine Frage, die Erfassung von Impfnebenkomplikationen ist wichtig. Gemeint sind hier natürlich nicht irgendwelche Impfungen, sondern Anti-SARS-CoV-2-Impfungen, insbesondere mRNA-basierte. Also ein wirklich wichtiges Thema, schließlich sind hierzulande bislang Millionen Dosen verabreicht worden. Aber dazu gibt es doch ein Meldeformular? Und das Paul-Ehrlich-Institut veröffentlicht in regelmäßigen Abständen einen Report (hier Link zur letzten Ausgabe)? Was ist also das Besondere dieser Studie?
Weitere Forschung ist immer gut. Doch, wenn darüber hinaus so stark die Pressetrommel gerührt wird, sollte man mal näher hinschauen:
Die Studie und ihr Initiator
Initiator besagter Studie ist Prof. Harald Matthes, Ärztlicher Leiter des Krankenhauses “Havelhöhe” in Berlin und Inhaber einer Stiftungsprofessur Integrative und Anthroposophische Medizin. Offenbar Gastroenterologe und kein Epidemiologe. Und so listet sein Forschungsprofil eine beachtliche Reihe von Publikationen – jedoch keine mit dem Schwerpunkt Epidemiologie, gleich welcher Art.
Und die “Studie” selber? Sie ist überhaupt keine Studie im engen Sinn, sondern eine Onlinebefragung von Auskunftswilligen. Wer will, kann hier teilnehmen. Bevor wir also auf Details eingehen, können und sollten wir festhalten: Es erfolgten keine medizinischen Untersuchungen und die Teilnehmer sind in keiner Weise ausgewählt.
Probleme der Studie
Vorab dürfen wir feststellen, dass es noch keine veröffentlichten Ergebnisse zu geben scheint. Jedenfalls sind keine in den einschlägigen Datenbanken, der Studienhomepage oder in Pre-Print-Ausgaben von Journals zu finden. (§) Noch also kann die Gemeinschaft der WissenschaftlerInnen keine Daten in Augenschein nehmen, die das gegenüber der Presse geschlussfolgerte Risiko für Impfkomplikationen bewerten könnte. Noch gibt es nur die Aussagen gegenüber der Presse und man muss sich sehr sicher sein, wenn dann eine “bessere Betreuung” für die Betroffenen gefordert wird.
Wer epidemiologisch forscht, lernt schnell verschiedene Möglichkeiten, die es später erlauben, aus den Befunden einer Studie Schlussfolgerungen zu ziehen. Möglicherweise sogar solche, die sich auf die Allgemeinbevölkerung übertragen lassen bzw. die Studie “repräsentativ” zu machen. Unter anderem wählt man bei Umfragen dieser Art, die Teilnehmenden zufällig aus und stellt sicher, dass es genügend viele Teilnehmenden gibt. Das ist hier nicht der Fall. Dadurch, dass alle Menschen teilnehmen können, die es wollen und gezielt nach Beschwerden nach eine “COVID-Impfung” gefragt wird, dürften die Autoren einer späteren Veröffentlichung es schwer haben, eine gewisse Voreingenommenheit der Teilnehmer auszuschließen.
Wer sich nun durch die “Studie” klickt (++) sieht sich einigen allgemeinen Fragen gegenüber und als einziger Datenpunkt, den man bestimmten Personen zuordnen könnte geht die E-Mail-Adresse ein. Eingangs steht die Frage, ob man je an COVID erkrankte und ob ein Antikörpertest gemacht wurde. Weiter wird gefragt, welche “COVID-Impfung” man wann zuletzt erhalten hat und – zunächst ganz allgemein – ob man danach Beschwerden hatte. Dann folgen unter anderem Fragen zur persönlichen Einschätzung der Corona-Krise:
Durchaus soziologisch interessant zu wissen, was Menschen so denken. Und vielleicht dienen diese Fragen in der Umfrage auch dazu, abschließend zu kontrollieren, ob bei Impfskeptikern mehr Nebenwirkungen auftreten oder nicht. Diesen Fragen schließen sich einige Fragen über den Familienstand und Kinder an, dann geht es weiter mit Fragen zur psychischen Gesundheit:
Es folgen – keine weiteren Fragen zur körperlichen Gesundheit, sondern weitere Fragen zur psychischen Gesundheit:
Und … noch mehr Fragen zum psychischem Hintergrund.
Das alles ist nicht ungewöhnlich, Fragen zum psychischen Wohlbefinden sind essenziell, wenn es gilt, psychosomatische Effekte einer Impfung oder Medikamentengabe einordnen zu wollen. Und so werden solche und ähnliche Fragen Teilnehmern von Medikamentenstudien regelmäßig präsentiert.
Allerdings sind dies die einzigen Fragen zu den Auswirkungen der Impfung. Und diese Antworten sind nicht in einen eindeutigen Zusammenhang mit einer Impfung zu bringen, da sich die Fragen auf die Gefühle in den letzten zwei Wochen beziehen, die letzte Impfung länger zurückliegen kann und es keinerlei Kontrollfragen zum Befinden vor den Impfungen gibt. So kommt zur schlechten Auswahl der Teilnehmerschaft auch noch ein schlechtes Design der Umfrage.
Die Umfrage lässt außerdem zwei große Fragenkomplexe vollständig vermissen:
- alle Fragen nach den körperlichen Auswirkungen
- alle Fragen nach ärztlicher Bestätigung (ob es je irgendeine Untersuchung gab, wird in diesem Eingangfragebogen überhaupt nicht erfragt)
Aber am Schluss des Fragebogens steht:
Sie bekommen in den kommenden Wochen automatisch eine Einladung für eine Folgebefragung.
Ich bin gespannt. Vielleicht werden noch Fragen nach ärztlichen Einschätzungen präsentiert.
Fazit
Im Interview – das dramatisch eingeleitet wird – spricht Professor Matthes jedoch von einer Beobachtungsstudie, bei der “Personen, die sich haben impfen lassen” direkt nach dem Zeitpunkt der Impfung eingeschlossen wurden.
Es kann sein, dass es diese Beobachtungsstudie über die gezeigte Befragung hinaus gibt und alle Schlussfolgerungen, ob die Herr Matthes referiert, valide sind. Insbesondere die vielen körperlichen Reaktionen, die angeblich von Ärzten nicht ernst genommen wurden, aber klar in einen kausalen Zusammenhang mit der Impfung gegen SARS-CoV-2 gebracht werden können, sollten schnellstmöglich auf den Tisch!
Dadurch, dass teilnehmen kann, wer will, kann die Häufigkeit schwerwiegender Nebenwirkung überschätzt werden. Doch wenn es unerfasste Dunkelfälle gibt, wäre es sehr wichtig, diese Fälle sauber zu dokumentieren, um zu einer besseren Risikobewertung zu gelangen. Wer unterstellt, dass es keine hierzulande keine saubere Erfassung des Risikos gibt, aber auf Studiendaten sitzt, die dieses Argument untermauern könnten, sollte seinen Daten so schnell wie möglich veröffentlichen – im Interesse aller.
Fernsehinterviews stillen vielleicht das Geltungsbedürfnis. Als Gesellschaft haben wir das Recht auf gute Daten. So zeigt zum Beispiel die Zulassungsstudie für den Impfstoff von Biontech, dass es schwere Nebenwirkungen in der Kontrollgruppe (mit Kochsalzlösung geimpft) etwa ebenso häufig gab, wie in der Impfgruppe. Die Studie des Herrn Matthes dürfte – jedenfalls was den sichtbaren Teil betrifft – nicht in der Lage sein, etwaige körperliche Reaktionen in einen Zusammenhang mit der Impfung zu bringen.
Zum Schluss sehe ich, dass während des Beitragschreibens ein Artikel zum Thema bei ZEIT-Online erschien. Offenbar distanziert sich nunmehr auch die Charité von der “Umfragestudie” – so etwas kann ein kleiner Blogger nicht erreichen. Ich freue mich aber darüber, dass der Artikel unmittelbar bestätigt, dass es über die Umfrage hinaus wenig Substanz gibt.
Vielleicht brauchen wir ein “Zentralblatt für tiefergelegte Wissenschaft”, wie von Joseph Kuhn unlängst “gefordert”. Bestimmt brauchen wir besseren Journalismus, in dem nicht jeder mit Autorität akademischer Grade “wissenschaftliche Fakten” völlig ungeprüft und unhinterfragt kundtun darf. Sich einfach vorher mal ein paar Resultate zeigen lassen? Kurz erfragen, was wirklich gemacht wurde? Wenigstens 15 Minuten im Hintergrundgespräch vorab? Mir scheint, das wurde beim MDR unterlassen.
Denn wenn die kolportierte Zahl von 0.8 % schwerer Nebenwirkungen der Anti-Coronaimpfungen viel zu hoch und durch keine Daten belegt ist, dann sollte sich auch nicht wieder und wieder verteilt werden. Hier auf Scienceblogs gibt es die Serie “Schlechte Schlagzeilen” – vielleicht ist das auch eine Idee für manche Zeitung? So leicht und billig könnte man über die Konkurrenz herziehen und dazu noch aufklären!
§ Sollte ich eine Vorveröffentlichung übersehen haben, bitte ich um Hinweise: Ich werde den Artikel sofort korrigieren.
++ inzwischen habe ich selber teilgenommen.
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