Wissenschaft soll unser Wissen über die Welt erweitern. Wir wollen mehr wissen, um zu verstehen, „was die Welt im Innersten zusammenhält“ und um damit unser Leben auch sicherer und angenehmer zu machen. Kompliziert, zumindest strittig, wird es, wenn Wissen, das Licht der Aufklärung, Schatten wirft.
Zwei aktuelle Beispiele will ich hier ansprechen – eher assoziativ als systematisch miteinander verbunden:
1. Zurzeit geht wieder einmal die Meldung durch die Medien, dass sich das Wernher von Braun-Gymnasium im bayerischen Friedberg nicht umbenennen will. Wernher von Braun war in der deutschen Öffentlichkeit lange nur als brillanter Raketeningenieur bekannt, der die Menschheit auf den Mond gebracht hat. Dass seine Raketen in Dora-Mittelbau, einem Außenlager des KZ Buchenwald gebaut wurden und er in Kauf nahm, dass dies mutmaßlich bis zu 20.000 Zwangsarbeiter unter die Erde gebracht hat, wussten viele nicht und viele wollen bis heute nichts davon wissen. „Die Wissenschaft hat keine moralische Dimension“, so Wernher von Braun. Darf man nach so einem Menschen Schulen und Straßen benennen? Kann so jemand Vorbild sein? Kann man seine mörderische Seite ausblenden und nur „das Positive“ sehen? Oder lernen Schüler von so einem Vorbild eine sehr prekäre Sicht des Verhältnisses von Wissenschaft und Moral? Zum Vergleich: Was würden wir denn zu einem „Ottmar von Verschuer-Lehrstuhl“ in Humangenetik sagen?
2. Im British Medical Journal ist im Oktober (Volume 347, Seite 8) ein Editorial erschienen, in dem die Herausgeber führender gesundheitswissenschaftlicher Zeitschriften (BMJ, Heart, Thorax, BMJ Open) erklären, dass sie dem Vorbild von PLoS Medicine, PLoS One, PLos Biology, dem Journal of Health Psychology, den Blättern der Amerikanischen Torax-Gesellschaft und der Zeitschrift Tobacco Control folgen werden und keine Artikel zu Studien mehr annehmen, die ganz oder teilweise von der Tabakindustrie finanziert wurden. Hier geht es also nicht um eine Person, sondern um Produkte mit unsauberer Vergangenheit. Ist das eine sinnvolle Strategie, den Wissenschaftsmanipulationen der Tabakindustrie zu begegnen? Die Tabakindustrie hat schließlich nicht nur Studien gefälscht oder unterdrückt, also junk science produziert, sie hat auch sehr gute Grundlagenforschung etwa zur Krebsentstehung finanziert (um Material zu sammeln, dass beim Krebs längst nicht alle Fragen geklärt sind, also doch sicher auch der Beitrag des Rauchens zur Krebsentstehung nicht geklärt sein kann) oder zu arbeitsbedingten Herzkreislauf-Risiken (um Material über konkurrierende Risiken zum Rauchen als Ursache für den Herzinfarkt zu sammeln). Solche Studien haben somit zwar ihren Zweck in der „Scientific doubts must remain-Strategie“ der Tabakindustrie erfüllt, waren aber an sich wissenschaftlich integer. Oder doch nicht immer? Die Herausgeber der gesundheitswissenschaftlichen Zeitschriften weisen darauf hin, dass es oft nicht möglich ist, durch ein peer review Verzerrungen und wissenschaftliches Fehlverhalten in Studien zu entdecken und dass die Finanzierung das Outcome von Studien sehr subtil, in „invisible ways“, beeinflussen kann. Das ist inzwischen auch für Studien im Auftrag der Pharmaindustrie nachgewiesen. Die Studien sind methodisch unauffällig, nur die Ergebnisse weisen merkwürdigerweise eine industriegeneigte Schlagseite auf.
Wenn Wissenschaft unser Wissen über die Welt erweitern und unser Leben besser machen soll, muss es Trennlinien zwischen der hellen und der dunklen Seite der Macht geben. Dazu gehört eine Kultur der wissenschaftlichen Integrität, die nicht allein durch individuell korrektes Verhalten geschützt werden kann, sondern die auch institutionelle Leitplanken braucht. Die Wissenschaft hat durchaus eine moralische Dimension.
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