Was ist denn auf einmal los in der Homöopathie-Szene? Da werden allerorten mehr oder weniger gut getarnte Werbeartikel platziert; ein wahrlich hyperaktiver Herr Becker ploppt auf und randaliert verbal täglich auf allen Kanälen, die ihn noch nicht sediert haben; ein Bundesverband „Patienten für Homöopathie e.V.“ erwacht plötzlich aus seinem Untotenzustand und schreibt fleißig an die Politik, bevorzugt im Wahlkampf; in allen möglichen medizinischen Zeitschriften versucht man abenteuerliche Beiträge unterzubringen, manchmal mit Erfolg; man erfindet die Wissenschaftlichkeit neu und sieht in den etablierten wissenschaftlichen Standards paulfeyerabendverhunzend eine „totalitäre Ideologie“ – will aber selbst homöopathiekritische Vorträge an Hochschulen unterbinden oder zumindest – spielfeldverfehlend – das Prinzip des „ausgewogenen Journalismus“ zur guten wissenschaftlichen Praxis erklären: kein homöopathiekritischer Vortrag ohne homöopathieaffines Coreferat. Die übliche Vortragsdiskussion reicht nicht, sonst ist man nicht auf Augenhöhe, darum geht es.
Der eben erwähnte Herr Becker würde hinter alldem bestimmt eine Verschwörung vermuten. Ich glaube eher, die haben ihren Beruhigungstee zu stark verdünnt. Jedenfalls scheint es eine kontagiöse Verschränkung zu geben, quantentheoretisch natürlich, es macht mich nämlich auch ganz hippelig und ich kann nicht wie geplant noch etwas Homöopathie-Blogpause machen.
Um was geht es? Natalie Grams, ehemalige Homöopathin, jetzt Aktivistin beim Informationsnetzwerk Homöopathie und daher bei der Homöopathielobby als Verräterin besonders verhasst, ähnlich wie der vom Saulus zum Paulus gewandelte Edzard Ernst, wurde für die kommende Woche an die Uni Mainz eingeladen. Die „Hahnemann-Gesellschaft“, ein homöopathischer Ärzteverein, will das um jeden Preis verhindern, sie sieht darin den Untergang des wissenschaftlichen Abendlandes:
“Offener Protestbrief der Hahnemann-Gesellschaft
Sehr geehrter Herr Präsident Univ.-Prof. Dr. Krausch
am kommenden Mittwoch, den 14.11.2018 wird im Philosophicum P2 Frau Dr. Natalie Grams als selbsternannte „Sachkundige“ der Homöopathie eine Bühne gegeben werden, um irreführende, wissenschaftlich falsche und polemische Aussagen über ein wissenschaftliches Therapieverfahren vorzutragen.
Eine Universität, die sich den Werten und Regeln der guten wissenschaftlichen Praxis verpflichtet hat, darf solch eine flache Veranstaltung nicht zulassen.
Am 06. 07.2018 fand ebenfalls auf akademischem Boden eine solche Veranstaltung durch das Institut für Bioethik an der Universität Münster statt, hier jedoch war eine Gegendarstellung des erfahrenen Arztes Andreas Holling zugelassen. Frau Dr. Grams fiel auf akademischem Boden vernichtend unter.
Im Namen der Hahnemann-Gesellschaft, der Arbeitsgemeinschaft jener Ärztinnen und Ärzte, die sich auf die Homöopathie spezialisiert haben, fordere ich Sie dazu auf, diese Veranstaltung nicht zuzulassen!
Unsere Ziele sind die Förderung von Forschung und Wissenschaft, sowie Fort- und Ausbildung in der Homöopathie. Durch solch einen einseitigen Lobby-Vortrag werden Studierende unsachgemäß informiert.
Ich bin ein Kind dieser Universität und mir wurde ein lebendiges Interesse an akademischen Fragestellungen mitgegeben. Ich werde es nicht widerspruchslos hinnehmen, dass unsere wissenschaftliche Kultur derart beschädigt wird.
Unsere Universität beteiligt sich aktiv an der wissenschaftlichen, künstlerischen, gesellschaftlichen und politischen Diskussion und leistet damit einen Beitrag zur gesellschaftlichen Weiterentwicklung.
Anstelle solch einer einseitigen Grams-Lobbyveranstaltung würde ich mich als wirklichen Expertin der Homöopathie für eine Pro-Contra-Diskussionsveranstaltung mit Frau Dr. Grams zur Verfügung stellen.
Dieser offene Brief wird ebenso an die lokalen Medien und die FAZ gegeben werden.
In tiefer Verbundenheit
Ulrike Fröhlich
ÄrztinVorstand Hahnemann-Gesellschaft
www.hahnemann-gesellschaft.de
Sekretariat Caro Korsch
Biebricher Allee 59 – 65187 Wiesbaden
Fon 06118420303 – fax 06118420301
vorstand@hahnemann-gesellschaft.de
www.hahnemann-gesellschaft.de“
Um nicht falsch verstanden zu werden: Natürlich darf die Hahnemann-Gesellschaft Protestbriefe schreiben, ich bin auch nicht gegen Podiumsdiskussionen, obwohl das ein anderes Format ist als ein Vortrag und Homöopathen das nicht gut können. Das zeigt der Brief einmal mehr. Da wird Frau Grams schon im ersten Satz als „selbsternannte Sachkundige“ denunziert, ihr werden vorab „wissenschaftlich falsche und polemische Aussagen“ unterstellt, die Homöopathie dagegen einfach als „wissenschaftliches Therapieverfahren“ ausgegeben (wo doch sonst immer gerne eingeräumt wird, man wisse selbst nicht, wie sie funktioniert, nur dass sie funktioniere, dessen sei man sich aus Erfahrung heraus sicher), man weiß hellseherisch auch schon, dass es eine „flache Veranstaltung“ wird, gibt vor, sich für die „Förderung von Forschung und Wissenschaft“ einzusetzen, ist aber selbst Lobbyverein, zudem einer, der Anstoß an einer angeblichen „Grams-Lobbyveranstaltung“ – so wirbt man nicht für eine Podiumsdiskussion, so stimmt eine Lobby ihre Anhänger auf ein Tribunal gegen Homöopathiekritiker ein, wie es vor einem Jahr bei der „Ringvorlesung“ an der LMU München gelaufen ist.
Da interessiert mich eher, ob ein Brief mit Sätzen wie „Ich bin ein Kind dieser Universität“ oder „Frau Dr. Grams fiel auf akademischem Boden vernichtend unter“ mit Ritalin normaler aus- oder untergefallen wäre.
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Edit 12.11.2018: In der ersten Version schrieb ich versehentlich, Frau Grams sei nach Münster eingeladen, statt nach Mainz. Ein klarer Fall von Unterfall.
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