Spätestens hier ist der Hinweis fällig, dass auch die Süddeutsche Zeitung erst einmal lesen sollte, worüber sie schreibt. Dann hätte man sich die Frage mit den Verdachtsdiagnosen sparen können. Ausgewertet wurden nämlich nicht alle Diagnosen einschließlich der Verdachtsdiagnosen, sondern nur gesicherte Diagnosen. Dabei gibt es natürlich auch eine Fehlerrate. Dass die ADHS-Diagnostik nicht sonderlich gut ist, ist bekannt. Aber warum schreibt der Autor des Beitrags erst, die Hausärzte würden hyperaktiv Diagnosen stellen, die die Fachärzte dann vielleicht nicht bestätigen, und einen Satz später, dass eben jene gerade noch als Verifikationsinstanz angeführten Fachärzte jedes Kind als ADHS-Kind etikettieren, das sie in die Finger kriegen? Was nun? Hatte der Autor hier eine Konzentrationsstörung? Und die Vermutung mit den weit hergereisten Eltern ist auch weithergeholt. Ausgewertet wurde nach dem Wohnort der Patient/innen. Dass die extra nach Würzburg ziehen, weil man hier leichter an eine ADHS-Diagnose kommt, dürfte wohl auszuschließen sein.
Ein paar Sätze weiter kann man dann noch lesen, dass die Nachricht zum Anstieg der ADHS-Diagnosen in Deutschland die ganze Aufregung nicht wert sei. Schließlich hätte das Robert Koch-Institut in der KIGGS-Studie festgestellt, dass 4,8 % der Kinder eine ärztliche ADHS-Diagnose hätten, der Barmer-GEK-Arztreport käme jetzt auf 4,14 %, so what. Von der Sache her durchaus stimmig, aber der Autor lag hier nur zufälligerweise richtig. Bei KIGGS ging es um die Altersgruppe 3-17 Jahre, im Barmer-GEK-Report um die Altersgruppe bis 19 Jahre. Macht angesichts des Altersverlaufs der Diagnosen nicht viel aus, aber war das dem Autor des SZ-Artikels bewusst?
Schon ein paar Tage vorher, am 30. Januar, konnte man in der SZ das Ergebnis einer hyperaktiven Recherche lesen, und zwar dass die Diagnoseraten dort erhöht seien, wo es viele Kinder- und Jugendpsychologen gäbe. Falsch. Auch das hätte man im Barmer-GEK-Report nachlesen können. Die Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutinnen und -therapeuten, wie sie korrekt heißen, haben in Würzburg nicht mehr F90-Fälle als andernorts.* Auffällig F90-diagnosefreudig waren dagegen die Kinder- und Jugendpsychiater und die Hausärzte (und von da führt die Spur zum Universitätsklinikum, das sich beim Thema ADHS engagiert, was möglicherweise nicht ohne Einfluss auf die regionale Ärzteschaft und Elterngruppen ist). Die Süddeutsche hat dann in einer Korrekturmeldung am 1. Februar ihren Irrtum mit den Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten eingeräumt, den Würzburg-Befund mit den Kinder- und Jugendpsychiatern aber gleich für ganz Deutschland verallgemeinert: „Richtig ist, dass dieser Zusammenhang in Regionen besteht, in denen es viele Kinder- und Jugendpsychiater gibt“. Leider wieder falsch. Solche Regionen gibt es kaum, daher auch nicht den behaupteten Zusammenhang.
Damit etwas mediale Ausgewogenheit hergestellt wird: Andere Zeitungen haben es auch nicht viel besser gemacht. In der ZEIT ONLINE konnte man z.B. am 29. Januar eine ausführliche Kritik am Barmer-GEK-Arztreport lesen. Die Autorin stellt die Nachricht zum Anstieg der F90-Diagnosen in Deutschland ebenfalls erst einmal unter Studienartefaktverdacht. Sie verweist darauf, dass es sich bei den Daten ja nicht um eine repräsentative Studie handele, sondern nur um die Versicherten „einer einzigen Krankenkasse“. Stimmt, aber das bedeutet nicht, dass die Sache damit erledigt wäre. Auch hier hätte man im Barmer-GEK-Arztreport nachlesen können, wie einschränkend dieser Sachverhalt ist. Sehr wahrscheinlich ist es ja nicht, dass bei einer Allerweltsdiagnose die gut 8 Mio. Versicherten von Barmer-GEK so ganz anders ticken wie der Rest der Bevölkerung, und die Autorin hätte auch leicht im Internet nachrecherchieren können, dass andere Krankenkassen ähnliche Anstiege melden.
Man hat den Eindruck, dem Thema hätte etwas mehr journalistische Sorgfalt gut getan. Es ist, wie gesagt, ein Thema, bei dem man über vieles streiten kann, darüber, ob zu viel oder zu wenig diagnostiziert wird, ob der Anstieg nur früher übersehene oder ignorierte Fallhäufigkeiten aufdeckt, ob zwischen den Geschlechtern zu große diagnostische Unterschiede gemacht werden (ein Thema für unsere neuen Blogkolleg/innen von „Epi goes Gender“), ob zu viel medikamentös und zu wenig psychotherapeutisch bzw. zu wenig multimodal therapiert wird (was eigentlich gar nicht zulässig wäre), warum es auch in einer kinder- und jugendlichenpsychotherapeutisch vergleichsweise gut versorgten Region wie Würzburg monatelange Wartezeiten auf einen Therapieplatz für ein ADHS-Kind gibt und vieles mehr. Aber immerhin: Der Barmer-GEK-Report hat eine wichtige Debatte angestoßen und macht auf die Problematik der Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie insgesamt aufmerksam. Abgesehen davon, dass er auch sonst viele interessante Daten enthält und ein sehr lesenswertes Stück Versorgungsepidemiologie darstellt.
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