Vor ein paar Tagen hat die Barmer-GEK Krankenkasse ihren neuen „Arztreport“ veröffentlicht. Darin werden Auswertungen zum ambulant-ärztlichen Behandlungsgeschehen der Barmer-GEK-Versicherten für das Jahr 2011 vorgestellt, verbunden mit einer Schwerpunktsetzung, in diesem Jahr ADHS, also die berühmt-berüchtigte Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung, im Volksmund „Zappel-Philipp-Syndrom“ genannt.
Damit sind nicht die mentalen Zustände des FDP-Vorsitzenden Philipp Rösler gemeint, sondern eine vor allem im Kindes- und Jugendalter diagnostizierte psychische Störung, bei der Probleme mit der Impulskontrolle, dem Bewegungsdrang und der Aufmerksamkeitsfokussierung im Mittelpunkt stehen. Im Klassifikationsschema der Krankheiten wird ADHS in der Diagnosegruppe F90 dokumentiert.
Über ADHS kann man prima streiten. Man hat genetische Dispositionen und Besonderheiten der Hirnfunktionen nachgewiesen, aber so etwas muss für sich genommen noch kein klinisches Krankheitsbild nach sich ziehen, es kommt auf das Zusammenspiel mit der Umwelt an. Hyperaktive Kinder haben mehr Probleme, wenn die Schule ihren Bewegungsdrang einschränkt. Kein Zufall also, dass die Diagnoseraten mit der Einschulung zunehmen. So hat man hier ein tolles Anwendungsgebiet für die alte Anlage-Umwelt-Diskussion. Weiter ist bekannt, dass die Pharmaindustrie ein Interesse daran hat, die Indikationen der Medikamente, hier geht es vor allem um Methylphenidat (Ritalin), auszuweiten – logisch, es geht auch um das Geschäft. Auch Scientology mischt mit, auf der Gegenseite. Sie versprechen Hilfe ohne Medikamente. Ist ADHS also eine Erfindung der Pharmaindustrie, oder ein Einfallstor für findige Sektenwerber? Dann ist auffällig, dass mehr Jungen als Mädchen behandelt werden, so dass man streiten kann, ob es bei den einen zu viel oder bei den anderen zu wenig ist. Und lange hat man auch darum gestritten, ob es ADHS noch im Erwachsenenalter gibt oder ob es sich „auswächst“. Es wächst sich zumindest nicht immer aus.
Um all das geht es mir aber nicht. Mir geht es vielmehr darum, was in den Medien aus den Daten des Barmer-GEK-Arztreports geworden ist. Das waren nicht immer Höhepunkte des Medizinjournalismus.
Im Barmer-GEK-Arztbericht wird neben einem starken Anstieg der F90-Diagnosen und der Medikamentenverordnungen eine interessante Auffälligkeit der regionalen Diagnoseverteilung berichtet, dass nämlich Unterfranken weitaus höhere Diagnose- und Verordnungsraten aufweist als der Rest der Republik. Während in Deutschland in der hauptsächlich betroffenen Altersgruppe der 10-12-Jährigen 11,3 % der Jungen und 3,7 % der Mädchen eine F90-Diagnose haben, sind es in Unterfranken 18,8 % der Jungen und 8,8 % der Mädchen. Auch in Bayern insgesamt liegen die Diagnose- und Verordnungsraten übrigens über dem Bundesdurchschnitt. Die blaue Färbung in der Karte kennzeichnet Regionen mit überdurchschnittlich hohen Diagnoseraten, die grüne Färbung Regionen mit niedrigeren Diagnoseraten.
Das regionale Verteilungsmuster ist zeitlich recht stabil, 2006 sah es in Unterfranken fast genauso aus. Das spricht dagegen, dass man es mit einem Zufallseffekt oder einem einmaligen Ausreißer zu tun hat.
Gleiches lässt sich aus dem Sachverhalt ableiten, dass die Kurve mit den altersspezifischen Diagnoseraten in Unterfranken für Jungen und Mädchen strukturerhaltend nach oben verschoben ist – Zufall wirkt anders.
Damit die Augen nicht wehtun: Die Grafik zeigt drei Kurven, oben die altersspezifischen Raten des Jahres 2011 für Unterfranken und etwas dicker gezeichnet eine geglättete Kurve mit dem Mittelwert aus drei Jahren, ebenfalls für Unterfranken, und darunter die Kurve für Deutschland. Links für die Jungen, rechts für die Mädchen.
Was steht nun dazu in der Süddeutschen Zeitung, die sich eigentlich durch eine qualifizierte Medizinberichterstattung auszeichnet? In der heutigen Wochenendausgabe kann man unter der Überschrift „Zappelt der Philipp“ zu den hohen Raten in Unterfranken Folgendes lesen:
„Spätestens hier ist der Hinweis fällig, dass es sich bei der Krankenkassen-Studie um eine zwar interessante Bestandsaufnahme handelt, die weitere Nachforschungen anstoßen sollte. Aber es ist keine nach den Regeln der Wissenschaft in einer Fachzeitschrift publizierte Studie, die vor der Drucklegung wie in der Forschung üblich von Fachkollegen begutachtet wurde. Die hätten nämlich viele kritische Fragen gestellt. Zum Beispiel: Ist es nicht plausibel, dass angesichts der verstärkten Aufmerksamkeit für ADHS in den letzten Jahren Hausärzte verhaltensauffällige Kinder häufiger mit der Verdachtsdiagnose ADHS zum Facharzt schicken? (…) Stimmt also der Verdacht, dass solche Erstdiagnosen in die Statistik eingehen, selbst dann, wenn Kinder- und Jugendpsychiater sie letztlich nicht bestätigen? Würzburg ist als Zentrum der Kinder- und Jugendpsychiatrie bekannt. Muss man nun vermuten, dass übereifrige Fachärzte jedes Kind mit dem ADHS-Etikett versehen, so sie es in die Finger kriegen? Oder könnte es sein, dass das dortige große Ärzte-Aufgebot Eltern mit besonders schwierigen Kindern aus weiter entfernten Teilen Deutschlands anzieht?“
Spätestens hier ist der Hinweis fällig, dass auch die Süddeutsche Zeitung erst einmal lesen sollte, worüber sie schreibt. Dann hätte man sich die Frage mit den Verdachtsdiagnosen sparen können. Ausgewertet wurden nämlich nicht alle Diagnosen einschließlich der Verdachtsdiagnosen, sondern nur gesicherte Diagnosen. Dabei gibt es natürlich auch eine Fehlerrate. Dass die ADHS-Diagnostik nicht sonderlich gut ist, ist bekannt. Aber warum schreibt der Autor des Beitrags erst, die Hausärzte würden hyperaktiv Diagnosen stellen, die die Fachärzte dann vielleicht nicht bestätigen, und einen Satz später, dass eben jene gerade noch als Verifikationsinstanz angeführten Fachärzte jedes Kind als ADHS-Kind etikettieren, das sie in die Finger kriegen? Was nun? Hatte der Autor hier eine Konzentrationsstörung? Und die Vermutung mit den weit hergereisten Eltern ist auch weithergeholt. Ausgewertet wurde nach dem Wohnort der Patient/innen. Dass die extra nach Würzburg ziehen, weil man hier leichter an eine ADHS-Diagnose kommt, dürfte wohl auszuschließen sein.
Ein paar Sätze weiter kann man dann noch lesen, dass die Nachricht zum Anstieg der ADHS-Diagnosen in Deutschland die ganze Aufregung nicht wert sei. Schließlich hätte das Robert Koch-Institut in der KIGGS-Studie festgestellt, dass 4,8 % der Kinder eine ärztliche ADHS-Diagnose hätten, der Barmer-GEK-Arztreport käme jetzt auf 4,14 %, so what. Von der Sache her durchaus stimmig, aber der Autor lag hier nur zufälligerweise richtig. Bei KIGGS ging es um die Altersgruppe 3-17 Jahre, im Barmer-GEK-Report um die Altersgruppe bis 19 Jahre. Macht angesichts des Altersverlaufs der Diagnosen nicht viel aus, aber war das dem Autor des SZ-Artikels bewusst?
Schon ein paar Tage vorher, am 30. Januar, konnte man in der SZ das Ergebnis einer hyperaktiven Recherche lesen, und zwar dass die Diagnoseraten dort erhöht seien, wo es viele Kinder- und Jugendpsychologen gäbe. Falsch. Auch das hätte man im Barmer-GEK-Report nachlesen können. Die Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutinnen und -therapeuten, wie sie korrekt heißen, haben in Würzburg nicht mehr F90-Fälle als andernorts.* Auffällig F90-diagnosefreudig waren dagegen die Kinder- und Jugendpsychiater und die Hausärzte (und von da führt die Spur zum Universitätsklinikum, das sich beim Thema ADHS engagiert, was möglicherweise nicht ohne Einfluss auf die regionale Ärzteschaft und Elterngruppen ist). Die Süddeutsche hat dann in einer Korrekturmeldung am 1. Februar ihren Irrtum mit den Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten eingeräumt, den Würzburg-Befund mit den Kinder- und Jugendpsychiatern aber gleich für ganz Deutschland verallgemeinert: „Richtig ist, dass dieser Zusammenhang in Regionen besteht, in denen es viele Kinder- und Jugendpsychiater gibt“. Leider wieder falsch. Solche Regionen gibt es kaum, daher auch nicht den behaupteten Zusammenhang.
Damit etwas mediale Ausgewogenheit hergestellt wird: Andere Zeitungen haben es auch nicht viel besser gemacht. In der ZEIT ONLINE konnte man z.B. am 29. Januar eine ausführliche Kritik am Barmer-GEK-Arztreport lesen. Die Autorin stellt die Nachricht zum Anstieg der F90-Diagnosen in Deutschland ebenfalls erst einmal unter Studienartefaktverdacht. Sie verweist darauf, dass es sich bei den Daten ja nicht um eine repräsentative Studie handele, sondern nur um die Versicherten „einer einzigen Krankenkasse“. Stimmt, aber das bedeutet nicht, dass die Sache damit erledigt wäre. Auch hier hätte man im Barmer-GEK-Arztreport nachlesen können, wie einschränkend dieser Sachverhalt ist. Sehr wahrscheinlich ist es ja nicht, dass bei einer Allerweltsdiagnose die gut 8 Mio. Versicherten von Barmer-GEK so ganz anders ticken wie der Rest der Bevölkerung, und die Autorin hätte auch leicht im Internet nachrecherchieren können, dass andere Krankenkassen ähnliche Anstiege melden.
Man hat den Eindruck, dem Thema hätte etwas mehr journalistische Sorgfalt gut getan. Es ist, wie gesagt, ein Thema, bei dem man über vieles streiten kann, darüber, ob zu viel oder zu wenig diagnostiziert wird, ob der Anstieg nur früher übersehene oder ignorierte Fallhäufigkeiten aufdeckt, ob zwischen den Geschlechtern zu große diagnostische Unterschiede gemacht werden (ein Thema für unsere neuen Blogkolleg/innen von „Epi goes Gender“), ob zu viel medikamentös und zu wenig psychotherapeutisch bzw. zu wenig multimodal therapiert wird (was eigentlich gar nicht zulässig wäre), warum es auch in einer kinder- und jugendlichenpsychotherapeutisch vergleichsweise gut versorgten Region wie Würzburg monatelange Wartezeiten auf einen Therapieplatz für ein ADHS-Kind gibt und vieles mehr. Aber immerhin: Der Barmer-GEK-Report hat eine wichtige Debatte angestoßen und macht auf die Problematik der Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie insgesamt aufmerksam. Abgesehen davon, dass er auch sonst viele interessante Daten enthält und ein sehr lesenswertes Stück Versorgungsepidemiologie darstellt.
* Nachtrag 17.3.2013: Beim Nochmallesen des Eintrags ist mir aufgefallen, dass meine eigene Argumentation an dieser Stelle auch etwas hyperaktiv war. Der im Barmer-GEK-Report ausgewiesene Anteil der F90-Fälle bei den Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten alleine hilft hier natürlich nicht weiter, man braucht auch das Mengengerüst der einzelnen Therapeutengruppen.
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