* Nachtrag 17.3.2013: Beim Nochmallesen des Eintrags ist mir aufgefallen, dass meine eigene Argumentation an dieser Stelle auch etwas hyperaktiv war. Der im Barmer-GEK-Report ausgewiesene Anteil der F90-Fälle bei den Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten alleine hilft hier natürlich nicht weiter, man braucht auch das Mengengerüst der einzelnen Therapeutengruppen.

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Kommentare (80)

  1. #1 Dr. Webbaer
    3. Februar 2013

    Die Qualitätsmedien, hier die Süddeutsche, sind nun einmal der Blog-Berichterstattung unterlegen. Der Blogger weiß in der Regel mehr, ist fachlich firmer und interessiert. Zudem darf der Leser nachfragen und sogar auf eine Antwort hoffen. – Webbaeren konsumieren idR Blogs (neben namentlich gekennzeichneten Artikeln der “Qualitätsmedien” und Agenturmeldungen).

    BTW, zu ‘in Unterfranken 18,8 % der Jungen [eine F90-Diagnose]’: Da ist er wieder, der alltägliche Sexismus einer feminisierten deutschen Gesellschaft!, gell?

    MFG
    Dr. W

  2. #2 Anwalts_Liebling
    3. Februar 2013

    mmhhh…. denk dir mal die Masern-Karte dadrüber… dann könnte man das Gefühl haben, die Bayrischen Ärzte machen insgesamt alles irgendwie anders…

  3. #3 Joseph Kuhn
    3. Februar 2013

    @ Dr. Webbär:

    Die Jungen sind in der Schule auffälliger als die Mädchen, bei ihnen sind es meist Fälle mit hyperaktiver Ausprägung, sie können nicht sitzenbleiben, gehen z.B. über Bänke usw. Bei den Mädchen ist der Anteil derer, die nur Aufmerksamkeitsprobleme haben (ADS) höher, was dazu führt, dass es oft später erkannt wird. Im Umgang mit ADHS spielt sicher eine Rolle, dass in der Vorschulerziehung und in der Grundschule überwiegend Frauen tätig sind. Aber für Männer scheinen erzieherisch geprägte Berufe eben nicht sehr attraktiv zu sein. Insofern ist die Grundschule tatsächlich “feminisiert”, stellt sich nur die Frage, wie man von da zur Aussage eines “alltäglichen Sexismus einer feminisierten Gesellschaft” kommt. Die Gesellschaft insgesamt ist sicher nicht feminisiert, so normal wie sich jedes Brüderle bei uns an der Bar fühlt und so wenig Frauen in Spitzenpositionen kommen.

    @ Anwalts_Liebling:

    Ich hoffe, Sie sind nicht aus Christian Udes Büro? Bei der Masernimpfung ist Unterfranken nicht auffällig. Unterfranken ist die Ecke links oben in Bayern, da wo Udes Aschaffenburg liegt, die niedrigen Masernimpfraten sind unten, wo die Berge kommen.

  4. #4 Anwalts_Liebling
    3. Februar 2013

    nene… ist mir tatsächlich nur so ins Auge gesprungen…. und – nein! Ich sehe da keinen Zusammenhang oder würde einen konstruieren! Im Gegenteil… unser Sohn hat alles ordentlich nach Pass und das trotz ganzheitlich praktizierender Ärztin….

  5. #5 Dr. Webbaer
    3. Februar 2013

    Die Jungen sind in der Schule auffälliger als die Mädchen, bei ihnen sind es meist Fälle mit hyperaktiver Ausprägung, sie können nicht sitzenbleiben, gehen z.B. über Bänke usw.

    Lassen Sie sich bitte gesagt sein, lieber Herr Kuhn, gesagt sein von jemandem, dessen Familie seit mehreren Generationen zu einem beträchtlichen Teil aus Pädagogen besteht, dass Sie hier ungünstige Sichtweisen annehmen, die so eben “nicht ganz” richtig sind.

    Korrekt ist, dass ein bereits feminisierter Unterrichtsstil [1] Jungen zum Autoritätsabbau anleitet, eine vermutlich genuine Funktion, die so abrufbar wird.

    Wenn an die 20% der Jungen heutzutage im ADHS-Sinne und auch anders als “verhaltensauffällig” (das Auffallen liegt immer im Auge des Betrachters) diagnostiziert werden, ist der Murks erkennbar im System; ablesbar auch am Abbau bei den Familien und an der Fertilitätsrate.

    MFG
    Dr. W (der für den Themenwechsel dankt, es ist ja immer schön, wenn was rauskommt, wenn sozusagen alles rauskommt – sachlich/fachlich bleiben Sie natürlich erste Wahl, jedenfalls vor dem Hintergrund sog. Qualitätsmedien)

    [1] eine gewisse Gradlinigkeit wird dort benötigt, das Erinnern an Standards, wie bspw. an das Aufrechterhalten der pädagogischen Autorität

  6. #6 Ludger
    3. Februar 2013

    Joseph Kuhn am Februar 2, 2013: Aber warum schreibt der Autor des Beitrags erst, die Hausärzte würden hyperaktiv Diagnosen stellen, die die Fachärzte dann vielleicht nicht bestätigen, […]

    Ich nehme mal an, dass die Diagnose ADHS beim Risikostrukturausgleich der Krankenkassen berücksichtigt wird. Das hieße, dass eine Krankenkasse für einen Patienten mit einer solchen Diagnose extra Geld aus dem Gesamttopf bekommt, wenn dieselbe Diagnose von zwei Ärzten als “gesichert” mit dem Buchstaben “G” versehen wird und nicht mit “V” (Verdacht) oder “Z” (Zustand nach) oder “A” (Ausschluss). Ich bekomme von Zeit zu Zeit Besuch von einer netten Mitarbeiterin der AOK, die mich anhand einer Liste mit bei mir behandelten AOK-Versicherten beraten will, bei welchen Patientinnen ich vielleicht das “V” gegen ein “G” hätte austauschen können, weil die AOK die ihr zustehenden Zuweisungen aus dem Risikostrukturausgleich nicht verlieren wolle. Gibt es in der statistisch auffälligen Gegend auch solche netten Mitarbeiterinnen? Krankenkassen sind keine wissenschaftlichen Institute, ihre “wissenschaftlichen” Untersuchungen fehlt die “Freiheit der Wissenschaft” und bei ihren Publikationen gehe ich von einem erheblichen Publikationsbias aus – so wie bei anderen kommerziellen Unternehmen auch. In diesem Fall ist es eine Publikation mit dem Ziel, die Medikamentenausgaben zu senken. Das ist für ein Unternehmen legitim – es folgt nur nicht den Regeln des Kritischen Rationalismus.

  7. #7 Mithrandir
    3. Februar 2013

    Das Thema ADHS ist halt immer ein Quotenbringer, weil eines der Themen ist, die polarisieren und sachlich kaum zu diskutieren ist (Kritik an den eigenen Kindern wird eben mal schnell emotional interpretiert).
    In dem Sinne ist es auch klar, dass sich die Zeitung nicht sachlich an die Studie heranmacht sondern versucht eine reißerische Schlagzeile zu bekommen. Dann wird über den Artikel diskutiert und die Auflage geht hoch.
    Dein guter Wille den Artikel auseinanderzunehmen ist lobenswert, aber im Prinzip hast du damit genau das ziel erfüllt. Publicity für die Zeitung, kostenlos.

  8. #8 Dr. Webbaer
    3. Februar 2013

    Dein guter Wille den Artikel auseinanderzunehmen ist lobenswert, aber im Prinzip hast du damit genau das ziel erfüllt. Publicity für die Zeitung, kostenlos.

    Antiwerbung ist für das sterbende Print-Wesen Werbung, korrekt!, aber auch eine angemessene Verabschiedung. – Mit Artikeln wie diesen wird der Betrieb nicht gerechtfertigt werden können.

    MFG
    Dr. W

  9. #9 BreitSide
    3. Februar 2013

    @mithrandir: Da machst Du aber ein catch22 auf.

    Nach Deiner Forderung sollte also überhaupt keine Publikation mehr kritisiert werden?

    Ja, ich kenne auch den Zusammenhang, dass der alte Spruch “any promotion is good promotion” insofern bestätigt wurde, als dass tatsächlich Verrisse eines Produktes dieses uns noch eher im Gedächtnis bleiben lässt – und es uns im zeitlichen Abstand umso positiver erscheinen lässt, nämlich als “besonders” und nicht als “besonders schlecht”.

    Würde man aber konsequent so weiter denken, müsste man SB schließen, besonders eben “gesundheits-check” oder “kritisch gedacht”.

    Das kann es aber dann wohl auch nicht sein.

  10. #10 Joseph Kuhn
    3. Februar 2013

    Noch etwas google-Nachlese:

    Der Bayerische Rundfunk schließt sich auf seiner Internetseite der oben schon diskutierten Verdachtsfälle-Hypothese an: “Auch wenn ähnliche Studien anderer Krankenkassen die gleiche Tendenz aufweisen, werfen Kritiker ein, dass ein Krankenkassen-Bericht keine empirisch geplante Studie ersetze, zumal bereits auch Verdachtsfälle in die Statistik der Krankenkasse mit einfließen: Eine ADHS-Diagnose bedeutet nicht unbedingt, dass ADHS tatsächlich gegeben ist.” Der letzte Satz ist richtig, das davor trifft hier nicht zu.

    In der Berliner Morgenpost wird Gerald Hüther bemüht: “Die Kinder seien heute überbehütet, hätten keine Pflichten mehr, und die Eltern nähmen ihnen alle Probleme ab. So hätten sie nicht mehr wie früher die Chance, Gehirnstrukturen aufzubauen, die helfen, die spontanen Impulse zu kontrollieren. Noch vor zwei Generationen dagegen hätten sich Kinder um Aufgaben des Alltags kümmern müssen, dabei Erfahrung gesammelt und gelernt, auf eine gesunde Weise Impulse zu kontrollieren.” Ob es dafür empirische Belege gibt? Die Morgenpost hätte ja mal nachfragen können. Der im Barmer-GEK-Arztreport nachlesbare Befund, dass die Diagnosehäufigkeit bei Kindern aus gutbehüteten Elternhäusern seltener ist, liefert jedenfalls keinen Anfangsverdacht für diese These.

    Sehr interessant ist auch, was die Frankfurter Rundschau zum Thema beizutragen hat. Sie zitiert ein paar scharfe Sätze aus der Süddeutschen, z.B. dass die Eltern doch erst einmal selbst Ritalin schlucken sollten, bringt dann eine Leserstimme von FOCUS-online und schließt mit Ratschlägen der Internetseite ritalin-kritik.de ab, einer Seite, die im Internet mehrfach mit Scientology in Verbindung gebracht wird. Wie es sich damit verhält, hätte die Frankfurter Rundschau, die ja mal ein kritisches Blatt war, doch erst einmal nachrecherchieren können, statt nur eine Collage daraus zu machen, was google so ausspuckt. So einen Journalismus braucht man nicht.

  11. #11 Joseph Kuhn
    3. Februar 2013

    @ Ludger: ADHS und Morbi-RSA: Andersherum wird ein Schuh daraus: Seit 2011 ist ADHS nicht mehr im Morbi-RSA:
    https://www.bptk.de/presse/pressemitteilungen/einzelseite/artikel/ab-2011-adh.html, d.h. Krankenkassen bekommen keinen Extra-Ausgleich mehr, wenn sie besonders viele ADHS-Patienten haben. Warum ist das so: Die ADHS-Behandlung war unter dem Gesichtspunkt des Risikostrukturausgleichs finanziell nicht bedeutsam genug.

    Was die Neutralität des ISEG-Instituts angeht: Dazu müssen sich die Kollegen dort selbst äußern, ich weiß nicht, welche Motive hinter der Auswahl des Schwerpunkts ADHS standen. Die Datenlage ist aber erst einmal unabhängig von der Motivlage so, wie sie ist.

  12. #12 Ludger
    3. Februar 2013

    Joseph Kuhn 3. Februar 2013
    @ Ludger: ADHS und Morbi-RSA: Andersherum wird ein Schuh daraus: Seit 2011 ist ADHS nicht mehr im Morbi-RSA: […]

    OK, falscher Verdacht meinerseits. Na ja, der eine hat halt eine besondere Aufmerksamkeit bei Veröffentlichungen seitens der Krankenkassen, der andere scheint seine Aufmerksamkeit besonders Herrn Rösler zuschenken. 🙂

    • #13 Joseph Kuhn
      3. Februar 2013

      @ Ludger: Ist wohl so, aber Sie müssen zugeben, die Assoziation Rösler und Zappelphilipp drängt sich angesichts der Dauerdiskussion um die Führung in der FDP einfach auf.

  13. #14 Statistiker
    3. Februar 2013

    Kommentar gelöscht. Pöbelkommentare dieser Art sind hier nicht erwünscht. Beim nächsten Kommentar dieser Art setze ich Sie auf die Spamliste.

  14. #15 CM
    3. Februar 2013

    Sehr interessanter Beitrag – vielen Dank!

    Wo kann man an die regionalen Daten der Kinder- und Jugendpsychotherapeuten-Niederlassungszahlen und apparente ADHS/F90 Zahlen aufgeschlüsselt nach Kreisen kommen? Am besten auch noch vervollständigt, durch Bevölkerungszahlen und Informationen zum Bildungsgrad.

    Mein Ziel wäre es mal nachzurechnen, wie regionale Häufungen u. U. detaillierter erklärt werden können als es ohnehin im Report steht.

    Jede Info hierzu fände ich toll.

    Danke,
    Christian

  15. #16 Ponder
    3. Februar 2013

    Vielleicht ist Folgendes als Hintergrundinfo aufschlussreich:

    https://www.neurologen-und-psychiater-im-netz.de/npin/npinaktuell/show.php3?id=1958&nodeid=4
    ,,,Herberhold bezieht sich auf den KBV-Mustervertrag, der bislang nur in Baden-Württemberg und Bremerhaven von zwei Krankenkassen umgesetzt wurde. Ziel des Vertrages ist eine Verbesserung der Genauigkeit von ADHS-Diagnosen und die Schaffung erweiterter Therapiemöglichkeiten durch die intensive Zusammenarbeit von Kinder- und Jugendpsychiatern und –psychotherapeuten, Kinderärzten und Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten. Dieser Vertrag ist in dieser Form einmalig und soll insbesondere auch die von der Barmer Ersatzkasse zu recht geforderten, aber in der Realität nicht finanzierten nicht-medikamentösen Behandlungsmöglichkeiten wie Elterntrainings und Gruppentherapien stärken…
    …„Sollte der Arztreport der Barmer ein erstes Zeichen des Umdenkens seitens der Krankenkasse hinsichtlich der Wichtigkeit einer kooperativen und vielfältigen ADHS-Therapie bedeuten, begrüßen wir dieses. Dazu hätte es aber nicht eines grobschlächtigen ‚Eltern-Bashing‘ bedurft – wir sind gerne bereit, erneut mit den Krankenkassen in einen wissenschaftlich fundierten Dialog zur Verbesserung der Versorgung einzutreten. Der Barmer GEK stünde es nun gut an, hierzu bundesweit Vorreiter zu werden.“ appelliert Dr. Herberhold.

    Pressemitteilung BKJPP

    Schon bezeichnend, dass der seit mehreren Jahren ausgearbeitete KBV-Mustervertrag nirgendwo erwähnt wird…

  16. #17 rolak
    3. Februar 2013

    Welcome back, Ponder, nice to read you again.

  17. #18 Ponder
    3. Februar 2013

    😉

  18. #19 Joseph Kuhn
    4. Februar 2013

    @ CM: Die Daten der Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut/innen in Bayern nach Landkreisen und kreisfreien Städten können Sie dem Indikator 8.13 des bayerischen Gesundheitsindikatorensatzes entnehmen. Diese Daten liegen aber nicht identisch für alle Bundesländer vor. Regionaldaten nach Facharztgruppen stellen die KVen zur Verfügung, in Bayern über den Versorgungsatlas der KVB. Allerdings ist der Abruf hier nicht sehr komfortabel. Regionaldaten zu den F90-Diagnosen gibt öffentlich zugänglich gar nicht. Warum: Weil die Datenbereitstellung für die Versorgungsforschung aus finanzpolitischen Gründen blockiert wurde, wir hatten hier erst kürzlich darüber diskutiert. Mit dem einfachen Nachrechnen wird es also nichts, weder in Bayern und erst recht nicht bundesweit.

    Ach ja, da war doch noch was: Regionaldaten zur Bevölkerung und zur Bildung sind über die Statistischen Ländesämter wiederum recht einfach zu bekommen (außer deutschlandweit, dann muss man alles 16 mal herunterladen). Ein bißchen einfacher ist es über die Daten-CD INKAR des Bundesinstituts für Bau-, Stadt- und Raumforschung, wenn man keine altersdifferenzierten Daten braucht (die aber nötig sind, wenn man altersstandardisieren will).

  19. #20 Ponder
    4. Februar 2013

    Ein neuer, erfreulich differenzierter Artikel in der WELT:
    https://m.welt.de/article.do?id=gesundheit%252Farticle113348472%252FWarum-so-viele-Kinder-in-Deutschland-ADHS-haben

    Der KBV-Versorgungsvertrag wird auch erwähnt.
    Wenn sich die Kassen entschließen könnten, diesem Vertrag beizutreten, wäre nicht zuletzt auch eine bessere Diagnosesicherheit gewährleistet sowie eine flächendeckendere multimodale Therapie.

    Allerdings würden sich dadurch zunächst auch die geographischen Versorgungslücken drastisch offenbaren:
    beispielsweise in Niedersachsen – mit Schwerpunkt Südniedersachsen. Warum das gerade dort so ist, könnten die Journalisten dann auch mal recherchieren…

  20. #21 Ponder
    4. Februar 2013

    Und hier ein Kommentar von ADHS Deutschland zum Barmer GEK Report, in dem man sich u.a. mit der Aufbereitung der Daten beschäftigt:

    https://www.adhs-deutschland.de/Portaldata/1/Resources/pdf/1_1_aktuelle_infos/Zu_viel_zu_wenig_zu_einseitig_-_Kommentar_zum_Bericht_der_Barmer_Ersatzkasse_31_01_2013.pdf

  21. #22 Joseph Kuhn
    4. Februar 2013

    @ Ponder: Danke für die Infos, trotzdem etwas Medienkritik auch zu diesen beiden Links. Der Beitrag in der WELT ist in der Tat ganz informativ, auch wenn dort einmal mehr die Meinung in die Welt gesetzt wird (kleines Wortspiel ;-)), dass die Häufung der Fälle in Würzburg mit der überregionalen Attraktivität des ADHS-Schwerpunkts an der Uni zusammenhänge, der Leute von weither anziehe. Prof. Romanos wird so zitiert. Vermutlich hat er auch nie in den Barmer-GEK-Report geschaut. Dass so die Häufung der Fälle in Würzburg nicht zu erklären ist, habe ich schon im Blogbeitrag gesagt. Da schließt der gute Professor von den Fällen in seiner Ambulanz auf die Daten im Barmer-GEK-Report, sozusagen ein “Klinikerblick-Fehlschluss” – falls er denn korrekt zitiert wurde.

    Ziemlich verwegen sind die Ausführungen der Selbsthilfevereinigung “ADHS Deutschland e.V.” im zweiten Link.

    Da steht z.B., es seien “(…) nur rund 60.000 Kinder und Jugendliche im Alter von 3 bis 19 Jahren bei der BARMER GEK versichert, bei welchen eine gesicherte ADHS-Diagnose vorliegt (…), d.h. weniger als 0,5 Prozent der 3-19-Jährigen in Deutschland. Zu wenig, um beispielsweise soziale Charakteristika der Betroffenen valide auszuwerten.” Da hätte man sich vorher einmal kundig machen sollen, wie viele Fälle normalerweise in ADHS-Studien enthalten sind, ich wette, es gibt kaum Studien mit so vielen Fällen. Das Datenmaterial im Barmer-GEK-Report ist im Gegenteil ausgesprochen gut geeignet, um bestimmte soziale Charakteristika der Betroffenen zu beschreiben, weil die Versichertenstammdaten zur Verfügung stehen. Und der Prozentanteil der F90-Betroffenen an der Bevölkerung spielt für solche Auswertungen übrigens gar keine Rolle.

    Des Weiteren kann man da lesen, “dass aus den Daten nicht hervorgeht, ob die Diagnose (…) einer bestimmen Person zugeordnet wird (…),” das sei “(…) sowohl aus datenschutzrechtlichen wie kassenverrechnungstechnischen Gründen nicht der Fall (…)”, es bleibe ” (…) daher unklar, wie viele der Summe absoluter Diagnosen einzelne Patienten mehrfach zählen (…).” Das ist eine Mischung aus Report nicht gelesen und frei erfunden. Den Auswertungen im Barmer-GEK-Report liegt ein eindeutiger Personenbezug zugrunde, es geht nicht um “Fälle”, die mehrfach von einer Person stammen könnten. Das steht so auch im Report. Die Krankenkassen können, anders als z.B. die Kassenärztlichen Vereinigungen, personenbezogen auswerten. Dem stehen weder “datenschutzrechtliche” noch “kassenverrechnungstechnische” Gründe entgegen. Wie die Selbsthilfe-Leute auf die Idee gekommen sein mögen?

    Und es stimmt auch nicht, “(…) dass die Zahlen vor der Fusion von BARMER und Gmünder Ersatzkasse (GEK) zu Beginn des Jahres 2010 sich auf die Daten der deutlich kleineren GEK stützen (…)”. Die Daten sind ab 2006 Daten von Barmer und GEK. Auch das hätte man im Report nachlesen können.

    Nun ist eine Selbsthilfevereinigung keine Zeitung und muss nicht die gleichen journalistischen Sorgfaltspflichten beachten, aber ein Fall von hyperaktiver Berichterstattung mit Aufmerksamkeitsstörungen ist es trotzdem.

  22. #23 Andreas
    www.batterien-welt.de
    4. Februar 2013

    Sehr interessanter Artikel, als Vater zweier kleinen Jungen wird mir sowieso oft viel zu schnell die Diagnose ADHS gestellt. Da kann jede kritische Betrachtung nur helfen.

  23. #24 Elle
    5. Februar 2013

    Vielen Dank für Ihren gründlichen Artikel! Gerade Versuche ich die Aussage des Ärztereports besser zu verstehen in Kapitel 5.4 , S.179, die auch in den Medien rauf und runter zitiert wurde.
    “Etwa ein viertel aller Männer und ein Zehntel aller Frauen erhält einmal in ihrem Kinder-und Jugendalter die Diagnose ‘hyperkinetische Störung'”.
    Sehen Sie das auch so, dass die zwischen 2006 und 2011 erhobenen Datensätze so eine Auswertung unterstützen? Ich bin wirklich für jede Verständnishilfe dankbar.

  24. #25 Elle
    5. Februar 2013

    Wäre dann eine entsprechende Formulierung, 17.2% aller Kinder, Jugendlichen und jungen Erwachsenen (zwischen 0 und 22 Jahren) erhält eine Erstdiagnose Hyperkinetische Störung? Und 13.2% der gleichen Altergruppe erhält eine Zweitdiagnose? Und mit was für einem Spielraum muss ich mir diese Ergebnisse vorstellen, weil die Autoren doch im Vorfeld begrenzende Faktoren in Hinsicht auf die Ergebnisse ihrer Studie nennen? (Z.b. Gewisse Überschätzung der Betroffenenrate…) Ich bitte um Verzeihung, falls meine Fragen alle Murks sind. Freue mich über Rat. Viele Grüße, Elle

  25. […] berichten Journalisten über den neuen Barmer-GEK-Arztreport, das war Thema meines letzten Blogbeitrags vor ein paar Tagen. Dabei war ich unter anderem auf den Artikel „Nicht jedes Kind ist gleich“ […]

  26. #27 Joseph Kuhn
    5. Februar 2013

    @ Elle: Die Aussage im Report auf S. 179 bezieht sich auf kumulative Raten, die aus einer Modellrechnung resultieren. Hier hat man versucht, über die Lebensspanne hochzurechnen, wie viele der Versicherten bis zum Alter von 22 Jahren eine F90-Diagnose bekommen. Was vielleicht etwas beim Verständnis hilft: Auf S. 141 kann man z.B. lesen, dass bei ca. 12 % der 10-jährigen Jungen im Jahr 2011 eine F90-Diagnose diagnostiziert war, das ist schon fast die Hälfte dieses Viertels. Jetzt muss man – etwas vereinfacht gesagt – den Anteil der Jungen dazuzählen, die in jüngerem Alter eine F90-Diagnose hatten, sie aber mit 10 nicht mehr haben und den Anteil derer, die sie erst später bekommen werden. Das aufaddiert ergibt (allerdings im Modell anders gerechnet) die kumulative Diagnoserate von einem Viertel der männlichen Versicherten.

    Diese kumulative Rate zählt Zweitdiagnosen nicht mit (es geht ja darum, wie viele Versicherte überhaupt einmal eine F90-Diagnose bekommen haben).

  27. #28 Elle
    6. Februar 2013

    Hallo Herr Kuhn, dankesehr für Ihre schnelle Antwort! Ok, jetzt kann ich mir das Ergebnis glaube ich etwas besser vorstellen. Das ist toll, danke.
    Wegen der Zweitdiagnosen: Leider habe ich die Frage nicht gut gestellt und habe nicht klar gesagt, dass ich damit die nächste Rechnung darauf (S.181) meine. Entschuldigung! Ihre Erklärung des ersten Ergebnisses hilft mir aber auch hier :).
    Viele Grüße, Elle

  28. #29 Joseph Kuhn
    13. Februar 2013

    Update: In der Würzburger Lokalzeitung “Mainpost” gibt es ein Interview mit Prof. Marcel Romanos, dem Leiter der Kinder- und Jugendpsychiatrie am Uniklinikum Würzburg. Er sagt dort viel Vernünftiges, z.B. dass man ADHS als Krankheit nicht in Zweifel ziehen soll, dass die Diagnoseraten trotz des Anstiegs im internationalen Mittelfeld liegen, dass Eltern mit betroffenen Kindern oft nicht weiterwissen und dass man die Ursachen nicht einfach in elterlichen Erziehungsfehlern suchen darf.

    Aber er sagt auch Befremdliches. Nachdem es im Interview um das Versorgungsangebot in Würzburg ging, wird ihm die Frage gestellt: “Und mit der guten Versorgung geht auch keine erhöhte Verordnung von Ritalin einher?” Romanos antwortet:

    “Sicher nicht. Die Daten im Barmer-Report bestätigen dies. In Unterfranken wird wie in anderen Regionen Deutschlands der gleiche Prozentsatz von ADHS-Kindern mit einem Medikament behandelt.”

    Bei dieser Antwort stutzt man erst, denn im Barmer-GEK-Arztreport findet man auf S. 170/171 die gleichen altersspezifischen Verlaufskurven für die Methylphendatverordnungen wie sie oben im Blogbeitrag für die F90-Diagnosen gezeigt sind. Unterfranken liegt deutlich über dem Bundesdurchschnitt. Dann liest man den Satz noch einmal und stutzt wieder. Hat er die Frage, die ihm gestellt wurde, überhaupt beantwortet, oder verneint er die Frage, indem er sie bejaht? Er sagt nämlich nicht, dass in Unterfranken gleich viele Kinder wie in Deutschland mit Methylphenidat behandelt werden, sondern dass der gleiche Anteil an ADHS-Kindern mit Methylphenidat behandelt wird, d.h. bei deutlich erhöhten F-90-Diagnoseraten gibt es dann logischerweise auch deutlich mehr Methylphenidat-Verordnungen, genau wie es die Kurven im Report auf S. 170/171 zeigen. Der Reporterin scheint das nicht aufgefallen zu sein. Vielleicht hat sie die entsprechenden Passagen im Barmer-GEK-Report nicht gelesen, aber beim Schreiben dieser Interviewpassage hätte sie auch so nachdenklich werden können. Einmal mehr eine Medien-Berichterstattung mit Aufmerksamkeitsstörungen.

    Weniger raffiniert sind Romanos Ausfälle gegen den Barmer-GEK-Report:

    “Die Daten beruhen auf einer Sekundärdatenanalyse, der Report erfüllt nicht die Kriterien einer wissenschaftlichen Studie und ist auch keine epidemiologische Untersuchung. Es stellt sich eher der Verdacht, dass diese Datenauswertung als politisches Instrument dienen soll und möglicherweise psychische Erkrankungen generell in Zweifel gezogen werden sollen.”

    Warum ist das keine epidemiologische Untersuchung? Noch nie etwas von Versorgungsepidemiologie gehört? Und was ist daran “unwissenschaftlich”? Und wo werden in dem Report “psychische Erkrankungen generell in Zweifel gezogen”? Es ist im Gegenteil nicht zuletzt ein Verdienst der Krankenkassenreporte und ihrer jahrelangen Hinweise auf steigende Krankschreibungen infolge psychischer Störungen, dass wir heute einen so breiten Diskurs über dieses Thema haben. Könnte es also sein, dass eher dieses Interview als “politisches Instrument” dienen soll, um Kritik an der Diagnose- und Verordnungspraxis in Würzburg abzuwehren? Und könnte es sein, dass die Mainpost ihrem Würzburger Professor dafür etwas unkritisch eine öffentliche Bühne geboten hat?

  29. #30 Elle
    13. Februar 2013

    Ich hatte jetzt auch beim ersten Lesen die Frage der Reporterin so verstanden, als meinte sie “Verschreiben immer mehr Ärzte Methylphenidat als Therapie bei einer ADHS – Diagnose?”… sie sagt ja nicht was sie mit dem “mehr” in ihrer Frage meint… (Allerdings ist so eine “Überverschreibung” ja nicht das Ergebnis des Reports, sondern die regionale Häufung der Diagnosestellung. )
    Toll fände ich, wenn mal jemand statt auf die jährlichen Diagnoseraten, auf diese kummulative Diagnose-Berechnung des Reports eingehen würde. Denn die entspricht in ihrem Ergebnis keinen internationalen Ergebnissen und Schätzungen zur ADHS Vorkommen in der Bevölkerung.
    Und auf die hier im Blog hervorgehobene regionalen Häufung der Diagnose-Stellung. In der Süddeutschen wurde vor kurzem bezweifelt das Eltern den Wohnort wechseln, um ihr Kind bei ADHS behandeln zu lassen. Auch wenn ich nicht weiß wieviel das in Zahlen ausmachen würde- bei starken Symptomen und Unterversorung von spezialisierten Ärzten vor Ort kann ich mir so einen Umzug schon sehr gut vorstellen.

  30. #31 Ponder
    13. Februar 2013

    @Elle:

    Und auf die hier im Blog hervorgehobene regionalen Häufung der Diagnose-Stellung. In der Süddeutschen wurde vor kurzem bezweifelt das Eltern den Wohnort wechseln, um ihr Kind bei ADHS behandeln zu lassen. Auch wenn ich nicht weiß wieviel das in Zahlen ausmachen würde- bei starken Symptomen und Unterversorung von spezialisierten Ärzten vor Ort kann ich mir so einen Umzug schon sehr gut vorstellen.

    Das kann ich mir auch vorstellen und weiß es aus entsprechenden Diskussionen in Betroffenenforen.
    In Regionen mit Unterversorgung gibt es ja nicht nur keine entsprechend qualifizierten Ärzte, Psychotherapeuten etc, sondern meistens ist auch in den Kindergärten und Schulen das Wissen um die Besonderheiten und Bedürfnisse von ADHS-Kindern und ihren Familien mangelhaft.
    Dann sind diese ohnehin geplagten Eltern womöglich auch noch mit Vorwürfen und Stigmatisierungen konfrontiert bzw Kinder werden unkritisch einfach in Förderschulen abgeschoben – obwohl sie womöglich ganz normal begabt sind.
    Also ist es eine durchaus nachvollziehbare Entscheidung, wann immer sich die Möglichkeit bietet, in eine Region mit besserer, ADHS-freundlicherer Infrastruktur zu ziehen.

  31. #32 Ponder
    13. Februar 2013

    Ergänzung:

    Hier stzt sich Martin Winkler (einer der Initioatoren der Aufklärungsplattform http://www.adhs.ch) mit den Hintergründen der Medienkampagne, aber eben auch des Barmer Reports auseinander:

    https://adhsspektrum.wordpress.com/2013/02/09/ritalin-negativ-presse-2013/

    …Die Barmer möchte Kunden vergraulen. Das klingt paradox. Aber die Botschaft ist klar. Wenn ihr Kinder mit einer neuropsychologischen Besonderheit habt, bleibt uns bitte vom Hals. Ihr seid uns zu teuer im Gesamtpaket. Natürlich sind die Kosten für Methylphenidat als Ritalin oder Medikinet dabei vernachlässigbar. Aber die Begleitkosten aufgrund der erhöhten Unfallgefährdung, die Ergotherapie, Logopädie und weitere Gesamtkosten summieren sich schon.
    Ähnlich argumentiert ungeschickt häufig die Techniker-Krankenkasse. Und auch die AOK hat sich schon mit der angeblichen Förderung von Ritalin-frei Projekten aus dem Fenster gewagt. Krankenkassen wollen nur gesunde Klienten. Deshalb nennen sie sich ja auch zunehmend wie die AOK Gesundheitskasse.

    Multimodale Versorgungsnetzwerke der Kinderärzte in Musterverträgen werden eben auch nicht bezahlt. Sprich : Es soll kein Geld kosten oder ANDERE Institutionen sollen zahlen…

    Tja, das ist seit Jahrzehnten die bittere und zynische Realität der Versorgungssituation von ADHS-Betroffenen! 🙁

    Versorgungsforschung, wo bist du??

  32. #33 ThomasGrobe
    13. Februar 2013

    Hintergründe und Anmerkungen
    (vom Autor der Studie)

    Die Wahl des Schwerpunktthemas ADHS erfolgte, da es auf einer Pressekonferenz zum vorausgehend publizierten Arztreport 2012 mit dem Thema „Kindergesundheit“ Nachfragen zum Thema ADHS von Journalisten gab, zu denen seinerzeit keine Auswertungen vorlagen.

    Man darf der BARMER GEK also unterstellen, dass in Reporten vorrangig Themen abgehandelt werden, bei denen ein gewisses öffentliches Interesse zu erwarten ist – mit dem Vergraulen von Versicherten hat das sicher nichts zu tun.

    Auf Auswertungen und Darstellungen von Ergebnissen im Report hat die Krankenkasse keinen Einfluss genommen (dies kann ich als Autor hier nur versichern, ohne es den letzten Zweiflern allerdings stichhaltig belegen zu können).

    Die grundlegenden Ziele/Fragen des Reportes waren einfach: Wie häufig wird ADHS in der alltäglichen ambulanten Versorgung in Deutschland diagnostiziert? Wie oft wird Ritalin (Methylphenidat) verordnet? Gibt es Unterschiede zwischen einzelnen Subpopulationen, gibt es zeitliche Veränderungen? Die Beantwortung solcher Fragen ist aus meiner Sicht übrigens typische Versorgungsforschung.

    Gefunden haben wir unter anderem einen deutlichen Anstieg von kalenderjährlich ermittelten Diagnoseraten von 2006 bis 2011 sowie ausgeprägte regionale Unterschiede der Diagnose- und Verordnungsraten – bei beiden Aspekten sehe ich einen erheblichen Diskussionsbedarf hinsichtlich möglicher Ursachen. An keiner Stelle wird im Report dabei die Existenz einer ggf. auch medikamentös behandlungsbedürftigen ADHS bestritten. Insofern ging es im Report keinesfalls darum, Betroffene zu disqualifizieren.

    Thomas Grobe

  33. #34 ThomasGrobe
    13. Februar 2013

    Noch mal etwas ausführlicher zur Abschätzung der „Lebenszeitprävalenz“ im Report:

    Um Veränderungen zwischen 2006 und 2011 darstellen zu können haben wir uns zunächst Daten zu einzelnen Kalenderjahren angeschaut und ermittelt, bei wie vielen Personen innerhalb dieser einzelnen Jahre (mindestens einmalig) eine ADHS-Diagnose dokumentiert wurde.

    In epidemiologischen Studien werden die Teilnehmer demgegenüber jedoch oft (und ohne die Beschränkung auf ein Jahr) gefragt, ob eine bestimmte Erkrankung im bisherigen Leben bis zum Befragungszeitpunkt JEMALS diagnostiziert worden ist, was dann der sogenannten Lebenszeitprävalenz entspricht.

    Entsprechend haben wir versucht abzuschätzen, welcher Anteil der Kinder und Jugendlichen bis zum frühen Erwachsenenalter mindestens einmalig im Rahmen der ambulanten Versorgung eine ADHS-Diagnose erhält. Sofern ein Arzt alle dokumentierten Diagnosen mit seinen Patienten oder deren Eltern bespricht, sollte genau dieser Anteil der Kinder und Jugendlichen bis zum frühen Erwachsenenalter schon einmal mit einer ADHS-Diagnose konfrontiert gewesen sein.

    Daten zu einzelnen Kindern waren im Rahmen der Studie jedoch nur über maximal 6 Jahre von 2006 bis 2011 verfügbar. Allein in diesem Zeitraum von 6 Jahren wurde bereits bei 19,4 Prozent der Jungen aus dem Geburtsjahrgang 2000 (also im Alter zwischen 6 und 11 Jahren) mindestens einmalig eine ADHS-Diagnose in den Daten dokumentiert.
    Der von uns zudem genannte Schätzwert von ca. 25 Prozent Betroffenen bei Männer resultiert sinngemäß dann, wenn man ergänzend berücksichtigt, dass zusätzlich einige Kinder und Jugendliche ausschließlich im Alter zwischen 0 und 5 bzw. 12 bis 21 Jahren betroffen sind.

    Thomas Grobe

  34. #35 Joseph Kuhn
    13. Februar 2013

    @ Thomas Grobe: Danke für die Klarstellung zum Zustandekommen des Schwerpunkts ADHS.

    @ Ponder: Worin soll diese “ADHS-freundlichere Infrastruktur”, die zu einem Umzug nach Würzburg motiviert, konkret bestehen? Wer nur eine gute Diagnostik oder ein Ritalinrezept braucht, wird deswegen gleich nicht nach Würzburg ziehen. Und ob eine noch so gute Selbsthilfegruppe Anlass für eine Umzug ist? Weiter, gibt es irgendeinen Beleg, dass es diese hypothetisch denkbaren Umzüge auch wirklich und in nennenswerter Zahl gibt, so dass es ein Erklärungsansatz für die höheren Diagnoseraten in Würzburg wäre?

    Nachtrag 14.2.2013 zum Stichwort Versorgungsforschung: Der Barmer-GEK-Report ist Versorgungsforschung. Er gibt wieder, wie sich ADHS-Diagnosen und Methylphenidat-Verordnungen bei Barmer-GEK-Versicherten soziodemografisch und geografisch verteilen. Auf anderer Datenbasis kommt bei den zentralen Befunden eine aktuelle Studie des Bremer Instituts für Präventionsforschung und Epidemiologie übrigens zu ganz ähnlichen Befunden: https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC3544568/. Eine regionalisierte Auswertung dieser Daten wäre mit Blick auf die Situation in Würzburg sehr interessant, vielleicht kommt das ja noch. Es ist eine versorgungsepidemiologisch interessante Frage, ob infolge dessen, dass Würzburg lt. Prof. Romanos “sicherlich international zu den aktivsten und führenden Zentren im Bereich der ADHS-Forschung” gehört (was ich nicht bestreiten will), in Würzburg die wahre Prävalenz in den Diagnoseraten deutlicher zum Ausdruck kommt als im Rest der Republik und dort also zu wenig ADHS diagnostiziert wird, oder ob es doch auch eine “Nebenwirkung” eines international führenden Zentrums der ADHS-Forschung sein kann, dass in der Region zuviel ADHS diagnostiziert wird. Es könnte ja sein, dass in Würzburg sozusagen die “Sensitivität” des Testens auf ADHS höher ist (und somit weniger betroffene Kinder übersehen werden, was positiv ist), dies aber auf Kosten der “Spezifität” geht, d.h. nichtbetroffene Kinder häufiger auch eine ADHS-Diagnose bekommen (was je nach Art der Fehlklassifikation gesondert zu bewerten wäre). Ein Vergleich der Diagnosegüte bei Ärzten in Würzburg und einer Vergleichsregion wäre daher ein schönes Anschlussprojekt, lohnender jedenfalls, als den Barmer-GEK-Report als “unwissenschaftlich” zu kritisieren, um solche Fragestellungen abzuwehren.

  35. #36 Ponder
    15. Februar 2013

    Eine Analyse der tatsächlichen Versorgungslage findet man im aktuellen Kommentar zum 10 Jahre alten Eckpunktepapier von ADHS Deutschland e.V.:

    https://www.adhs-deutschland.de/Portaldata/1/Resources/pdf/1_1_aktuelle_infos/Eckpunkte_Resumee_2012_1220.pdf

  36. #37 Ponder
    15. Februar 2013

    Ein typisches Beispiel miserabler, tendenziöser und realitätsverdrehender Medienberichterstattung zu ADHS gab es im Januar an dieser Stelle:

    https://m.faz.net/frankfurter-allgemeine-zeitung/beruf-und-chance/gerald-huether-hinaus-ins-weite-12021156.html

    …Zwischen Uniklinik und Vortragssaal

    Nun springt er hin und her zwischen seinem Büro an der Uniklinik in Göttingen, wo er Professor ist, Fernsehsendungen und Vortragssälen. Es war ihm wohl wie dem Faust gegangen, in den neunziger Jahren – er wusste immer mehr und verstand doch nicht, worauf es ankam. Der Hirnforscher: sezierte das Hirn, kannte schon jede Windung darin – und hatte keine Ahnung, wie, oder besser, warum es funktioniert. Hüther schnitt Hirne von Tieren auseinander und erwarb sich in Wissenschaftskreisen einen Ruf als Kenner spezieller Funktionsbereiche des Rattenhirns.

    Dann reichte es ihm. Hüther wechselte weg von dieser Hirnforschung und wurde Professor für Psychiatrie an der Uniklinik Göttingen

    …Neider und Spötter ließen ihn in Ruhe. Die sind sonst schnell da, wenn jemand über den Tellerrand blickt und damit Erfolg hat. Hüther hat Charisma. Das erzeugt bei den anderen oft Aversionen. Wieso nicht gegen Hüther? Weil er die Leute in Ruhe lässt? Nur einmal, als er sinngemäß sagte, ADHS gebe es nicht, sei er von der „ADHS-Mafia“, der Pharmaindustrie, attackiert worden, sagt er. Sie stellten seine Seriosität in Frage und ihn in die esoterische Ecke. Seine Bücher stehen dort auch manchmal im Buchladen. „Das gibt mir sehr zu denken – und zwar über das Verständnis von Esoterik, das wir haben“, sagt Hüther…

    Der Mythos vom “Psychiater”, gar “Psychiatrieprofessor” Hüther geistert seit Jahren durch die Medienlandschaft und wird immer wieder aufgefrischt.
    Hintergründe zu dieser kollossalen Medien-Ente gibt es bei Psiram:

    https://psiram.com/ge/index.php/Gerald_H%C3%BCther

    Warum sich die Universität Göttingen nicht dagegen verwahrt, bleibt im Dunkeln.

  37. #38 Steffmann
    17. Februar 2013

    @Ponder

    Mir ist immer noch nicht klar, was ADHS sein soll, und warum Kinder deswegen mit Psychopharmarka vollgepumpt werden.

    Von Anfang an haben Sie sich der Diskussion dadurch entzogen, dass sie ADHS nicht in Zweifel ziehen, sondern stattdessen eine Unterversorgung anprangern. Ausgerechnet in Unterfranken gäbe es die aber nicht ? Vielleicht ist aber auch gerade dort “Mode” die Kinder zu “versorgen” ?

    ADHS ist keine Krankheit. Es ist noch nicht mal eine Diagnose. Kinder, bei denen diese angebliche Krankheit diagnostiziert wird, sollten im Gegenteil besonders gefördert und gefordert werden.
    Man gebe sich das nochmal: Kinder sind (im subjerktiven Empfinden der Erwachsenen) zu sehr aktiv, hippelig und schwer zu kontrollieren. Deswegen gibt man den Kindern Psychopharmaka, anstatt darüber nachzudenken, wie ich die Kinder besser beschäftigen kann.

    @Ponder: Du kannst deine Lobby noch so gut verteidigen wollen, aber mir als Vater von 2 Töchtern kannst du das nicht weiss machen. Es gibt kein ADHS, nur einen Markt dafür. Punktum.

  38. #39 Ponder
    17. Februar 2013

    @ Steffmann:

    Hilft alles nichts, was Sie sich da zusammenreimen:
    http://www.zentrales-adhs-netz.de
    Vom Bundesgesundheitsministerium geförderte Infoplattform.

  39. #40 rolak
    17. Februar 2013

    Das kann doch einen Steffmann nicht erschüttern, Ponder – dann ist Deine Lobby eben bundeszentralgesteuert, vielleicht sogar von der EU, wenn nicht gar WHO (oder hieß das NWO?) 😉

  40. #41 Joseph Kuhn
    17. Februar 2013

    @ Steffmann: Man muss zwei Diskussionen auseinanderhalten. Die eine, was ist ADHS, ist das ein konsistentes Störungsbild, die andere, wie gut ist die ADHS-Diagnostik und wird ADHS in der jüngeren Zeit zu häufig diagnostiziert.

    Die erste Frage muss man wohl angesichts des Forschungsstands als beantwortet ansehen: Ja, ADHS ist eine ernstzunehmende psychische Störung mit einem hohen genetischen Anteil (was immer das im Zusammenspiel mit der Umwelt für die Ausprägung klinischer Erscheinungsbilder im Einzelnen auch bedeutet).

    Die Antwort auf die zweite Frage ist m.E. weniger klar. Einerseits wurde ADHS lange übersehen, d.h. der Anstieg der Diagnoseraten ist ein auch ein diagnostischer Nachholprozess. Andererseits darf man natürlich nicht darüber hinweggehen, dass hier ein Markt für die Pharmaindustrie mit einer eigenen Dynamik entstanden ist.

    Viele Kinder durchlaufen nur eine unzureichende Diagnostik.
    Die Diagnostik ist in der Praxis leider nicht so gut, dass man ganz eindeutig sagen könnte, die mit der Diagnose ADHS versehenen Kinder haben auch alle ADHS, und erst recht kann man nicht sagen, alle Kinder, die ADHS haben, sind auch mit einer Diagnose versehen.

    Eine nochmal ganz eigene Frage ist die, ob in Unterfranken zu viel ADHS diagnostiziert wird und z.B. in Südhessen zu wenig, wie es der Barmer-GEK-Report nahelegt. Dem muss man nachgehen. Möglicherweise führt, wie bereits oben angesprochen, der ADHS-Forschungsschwerpunkt an der Universität Würzburg mit einer vermutlich sehr guten Diagnostik bei den niedergelassenen Ärzten in der Region zu einer Überdiagnostik. Ob dem so ist und wie das zu bewerten wäre (einerseits werden dadurch mehr betroffene Kinder gefunden und können behandelt werden, andererseits werden eben auch mehr nicht betroffene mit einer ADHS-Diagnose versehen), wäre zu untersuchen.

    @ rolak: “NWO”? Nebelwaldorganisation? Naturwüstenorte? Nebenwirkungsoszillation?

  41. #42 Dr. Webbaer
    17. Februar 2013

    @Kuhn
    Wenn Sie mal einen Blick auf diese der deutschsprachigen Wikipedia entnommenen Merkmalsliste werfen:
    1.) Einschränkung des Arbeitsgedächtnisses (hier vor allem des visuell-räumlichen Arbeitsgedächtnisses im Gegensatz zum verbalen)
    2.) Beeinträchtigung der Exekutivfunktionen mit mangelnder Hemmungskontrolle (Impulsivität)
    3.) Aversion gegenüber Aufschub von Belohnung
    4.) Motorische Überaktivität
    5.) Gestörte Verarbeitung von Reizen hinsichtlich verfügbarer Zeitfenster zur Erledigung von Aufgaben, bei erhöhter inter- und intraindividueller Variabilität der Reaktionszeit
    6.) Dysfunktionale Regulierung der Anstrengungsbereitschaft in Hinblick auf zielbezogenes Verhalten (kurzfristige/entfernte Ziele)

    … dann scheint hier ein Diagnosespielraum gegeben, der sozusagen jeden erwischen kann.

    Zumal die genannten Merkmale jeweils bezogen auf ein bestimmtes Sozialverhalten bezogen Sinn machen können, sozial oder evolutionär Sinn machen können.

    Der Schreiber dieser Zeilen bspw. würde sich auf alle Punkte bezogen jeweils zeitweise einordnen wollen, wenn nicht generell bestimmte Anforderungslagen betreffend.
    Zudem kann gerade das Kind seine Anforderungslagen oft nicht wählen.

    MFG
    Dr. W (der hofft, dass das hiesige System die Liste korrekt darstellt)

  42. #43 Joseph Kuhn
    17. Februar 2013

    @ Dr. Webbär: Die von Ihnen zitierte Merkmalsliste beschreibt das Störungsbild allgemeinverständlich, gibt aber nicht die Diagnostikkriterien nach ICD 10 bzw. DSM IV wieder. Diese sind auch bei Wikipedia aufgeführt:
    https://de.wikipedia.org/wiki/Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivit%C3%A4tsst%C3%B6rung. Wenn Sie sich das ansehen und die dazu durchzuführenden Diagnoseverfahren, dann ist der Diagnosespielraum nicht mehr so groß, dass es jeden erwischen kann. Trotzdem hat die Diagnostik ihre Unschärfen und produziert falsch positive und falsch negative Fälle.

  43. #44 Bartimaeus
    17. Februar 2013

    @Webbaer
    Für die genauen Diagnosekriterien siehe hier:
    DSM IV:
    https://www.ldawe.ca/DSM_IV.html
    DSM 5:
    https://www.adhdbasics.org/ref/DSM-V.pdf

    Einige der Symptome treffen wohl auf jeden irgendwann einmal zu.
    Zu beachten ist, dass immer mehrere der Symptome über einen Zeitraum von sechs Monate in mehreren Umgebungen vorhanden sein müssen. Weiterhin müssen die Symptome zu einer deutlichen Beeinträchtigung führen.

  44. #45 Steffmann
    18. Februar 2013

    @Joseph Kuhn:

    Man muss zwei Diskussionen auseinanderhalten. Die eine, was ist ADHS, ist das ein konsistentes Störungsbild, die andere, wie gut ist die ADHS-Diagnostik und wird ADHS in der jüngeren Zeit zu häufig diagnostiziert.

    Ok, das kann ich unterschreiben. Dann korrigiere ich mich. Ich bezweifle nicht, dass es ADHS gibt, ich zweifle nur an der Qualität der Diagnostik im EInzelfall.

    @rolak:

    Ja klar, danke. Ich poste ja auch andauernd irgendwelchen VT-Nonsens.

  45. #46 Elle
    18. Februar 2013

    @Joseph Kuhn:
    ” Ein Vergleich der Diagnosegüte bei Ärzten in Würzburg und einer Vergleichsregion wäre daher ein schönes Anschlussprojekt, lohnender jedenfalls, als den Barmer-GEK-Report als “unwissenschaftlich” zu kritisieren, um solche Fragestellungen abzuwehren.”

    Fast genauso wichtig fände ich es zu erfassen: Wieviele Patienten beginnen nach einer Diagnose eine Behandlung und wieviele brechen eine multimodale ADHS-Therapie wieder ab, da sie ihnen nicht weiterhilft und versuchen etwas anderes? (Und umgekehrt, wieviele kommen nach Jahren fehlgeleiteter Behandlungen mit einer ADHS -Therapie zum ersten mal weiter?)

    Wenn es immer noch schwer ist ADHS zu diagnostizieren, und einer der Wege die Diagnose weiter zu testen ist, auszuprobieren ob und/oder wie verschiedene Therapien einem helfen, dann würde doch dieses Therapie anfangen/und wieder abbrechen ebensoviel wichtiges über die ADHS Verbreitung in Deutschland aussagen wie die bisher betrachtete Diagnoserate.

  46. #47 Joseph Kuhn
    18. Februar 2013

    @ Elle: Therapieerfolge bei unterschiedlichen Behandlungsvarianten zu untersuchen, ist natürlich wichtig und das wird auch gemacht. Aus solchen Therapiestudien resultiert ja die Empfehlung, multimodal zu therapieren und auch die für 2013 angekündigte S3-Leitlinie zu ADHS wird sich auf solche Studien stützen. Mit Krankenkassendaten geht das allerdings aus vielen Gründen nicht. Ihren letzten Satz, dass Therapieabbrüche viel über die Verbreitung von ADHS aussagen, habe ich nicht verstanden.

  47. #48 Elle
    19. Februar 2013

    @ Danke für Ihre schnelle Antwort und für Ihre Erklärung was mit welchen Daten nur möglich ist bzw. bereits auch getan wird. Ich glaube im Grunde beschäftigt mich die Frage, wenn derzeit so hohe Diagnoseraten gemessen werden, und es sich warscheinlich bei einigen Diagnosen um Fehldiagnosen handelt, wie schnell wird es beim einzelnen Patienten entdeckt, dass es sich um eine ADHS Fehldiagnose handelt? Ist es vielleicht eine Frage von Wochen oder Monaten, wenn die Medikamente evtl. nicht so wirken wie sie sollen und der behandelnde Arzt zusätzlich auf Grund von weiteren Beobachtungen in der Zeit die Diagnose in Frage stellt? Oder dauert es vielleicht viel länger? Oder zweifeln manche Patienten bzw. deren Familien so sehr an der Diagnose, dass es vielleicht gar nicht erst zu einer entsprechenden Behandlung kommt (ob nun richtig oder fehldiagnostiziert)?
    Aber das sind Fragen, die vielleicht sehr schwer zu erforschen sind und womöglich ebenfalls nicht aus Krankenkassendaten zu ermitteln sind. Ich komme nur darauf, wenn ich mir versuche vorzustellen was die tatsächlichen Auswirkungen einer so hohen Diagnoserate im Einzelnen sind.

  48. #49 Ponder
    20. Februar 2013

    @Elle:

    Du schneidest ein sehr zentrales Thema an, welches oft in Betroffenenforen diskutiert wird:

    Wie viel Zeit vergeht und wie viele Fehldiagnosen inclusive falscher Pharmakotherapie müssen ADHS- Betroffene ( besonders Erwachsene) über sich ergehen lassen, bis endlich ein Spezialist auf die zündende Idee kommt, dass einer schlecht behandelbaren Depression, einer sozialen Phobie oder sogar einer scheinbaren Borderline- Störung eine bis dato unerkannte ADHS zugrunde liegt?!

    Und um wieder On Topic zu kommen:

    Hier ein Einblick in eine Selbsthilfe-Plattform und die Reaktionen auf die diesjährige/ alljährliche Medienkampagne:

    https://www.tokol.de/forum/index.php/topic,19237.0.html

    Vielleicht hilft dieser Blick, um ein wenig Verständnis dafür aufzubringen, wie sehr die völlig verzerrte Berichterstattung Menschen stigmatisiert und verletzt.

    @Joseph Kuhn:
    Selbst wenn Kinder lege artis diagnostiziert und medikamentös gut eingestellt sind, bedeutet dies noch lange nicht, dass die anderen Bausteine einer multimodalen
    Therapie ortsnah zur Verfügung stehen.
    Ein ganz wesentliches Problem besteht darin, dass man sich immer wieder neu mit dem verständnislosen Umfeld auseinander setzen muss, da ja ErzieherInnen, Lehrer, Großmütter etc mittlerweile allesamt ADHS-“Experten” sind dank der universalen Medienpräsenz eines Gerald Hüther…

    Das ist ein starkes Argument, in eine ADHS-“freundliche”
    Region zu ziehen, weil man dann nicht jedem skeptischen Lehrer neu von Adam und Eva an das Störungsbild und die besonderen pädagogischen Herausforderungen erklären muss.
    In der Pädagogik und besonders der Sonderpädagogik sind die Denialisten nämlich besonders aktiv vertreten.

  49. #50 Joseph Kuhn
    20. Februar 2013

    @ Ponder: Dass eine gute Diagnose noch keine optimale Therapie bedeutet, ist klar, schon allein die Wartezeiten auf einen Psychotherapieplatz betragen auch in statistisch gut versorgten Regionen oft mehrere Monate bis zu einem Jahr. An die “Umzugshypothese” glaube ich bis zum konkreten Nachweis trotzdem nicht, da halte ich meine “Spill-over-These”, dass ein gutes universitäres Zentrum (erwünschte) Sensibilisierungseffekte mit leider auch unerwünschten Nebenwirkungen im Umfeld hat, für plausibler.

  50. #51 Ponder
    20. Februar 2013

    @Joseph Kuhn:
    Um das zu klären, müsste man vermutlich konkrete Feldforschung betreiben und ermitteln, mit welchen Alltagswidrigkeiten und stereotypen Vorurteilen die Familien besonders in den “unaufgeklärten” Regionen tagein- tagaus zu kämpfen haben – insbesondere in den Schulen.

    Ein weiterer Confounding Factor in den Krankenkassendaten der letzten Jahre:
    Bis vor ca einem Jahr wurde MPH generell nur bis zum 18. Lebensjahr erstattet. Das bedeutet konkret: die Jugendlichen fielen mit Erreichen der Volljährigkeit in ein medikamentöses Versorgungs-Nirvana – und dies ausgerechnet zu einem kritischen Zeitpunkt: Abitur, Ausbildung, eigenständiges Wohnen… Es gab Kassen, die auf dem Kulanzweg das MPH offlabel weiter erstattet haben, evtl bis zum 21. Lebensjahr.
    Andere haben sich da strikt verweigert; dazu gibt es auch ein Sozialgerichtsurteil.
    Man müsste also auch überprüfen, ob es im Rahmen der vom Gesetzgeber erwirkten Möglichkeiten zum Wechsel der Krankenkassen Verschiebungen gegeben hat:
    also prophylaktische Wechsel hin zu Kassen mit einer großzügigeren, den Notwendigkeiten dieses Störungsbildes angemesseneren Erstattungspraxis.

  51. #52 Ponder
    20. Februar 2013

    @Joseph Kuhn:

    Hier ein Beispiel für einen gewichtigen Grund, seinen Wohnsitz in die Nähe von Würzburg zu verlegen:

    https://www.kjp.uk-wuerzburg.de/fileadmin/uk/kinder_jugendpsychiatrie/_dokumente/danube-poster-studieninfo.pdf

    Diese Studie, in der von ADHS betroffene Mütter ebenfalls behandelt wurden, lief über den Zeitraum von 12 Monaten.
    Womöglich stellte sie damals für manche Mütter die einzige Option dar, eine entsprechende Diagnostik und Therapie zu bekommen.

  52. #53 Ponder
    20. Februar 2013

    Nachtrag:

    Hier die Presseankündigung der Mutter-Kind-Studie:

    https://www.presse.uni-wuerzburg.de/einblick_archiv/archiv_2009/uni_intern4309/studie/

    Nach einer ausführlichen Diagnostik von Mutter und Kind erfolgt die Therapie in zwei Phasen: Die erste Behandlungsphase findet mit der von ADHS betroffenen Mutter statt, in der zweiten Phase wird ein intensives Elterntraining zur Therapie der ADHS des Kindes durchgeführt. Aufgrund des intensiven und umfangreichen Therapieprogramms finden ein bis zwei Termine pro Woche statt.
    Da es sich um eine ambulante Therapiestudie handelt, sollten die Teilnehmer wegen der zahlreichen Behandlungstermine in der Umgebung von Würzburg wohnen.

  53. #54 Ponder
    20. Februar 2013

    @Thomas Grobe (#34):

    Vielleicht lesen Sie ja noch mit und teilen uns Ihre Einschätzung des GEK-Arzneimittelreports 2003 mit:

    https://www.gesundheitspolitik.org/02_ambulante_versorgung/wirtschaftlichkeit/gek-arzneimittelreports/GEK-ArzneimittelReport-2003.pdf

    Ab ~ S. 185

    Würden Sie sagen, dass die dort von Gerd Glaeske vertretene Auffassung, insbesondere zum “Wanderzirkus von ADHS- Experten” (gemeint ist u.a. Prof. Russell Barkley…), der gebotenen sachlichen Dikition eines neutralen Gutachtens entspricht?

  54. #55 Dr. Webbaer
    20. Februar 2013

    @Bartmaus

    Einige der Symptome treffen wohl auf jeden irgendwann einmal zu.
    Zu beachten ist, dass immer mehrere der Symptome über einen Zeitraum von sechs Monate in mehreren Umgebungen vorhanden sein müssen. Weiterhin müssen die Symptome zu einer deutlichen Beeinträchtigung führen.

    Sie dürfen weiterhin davon ausgehen, dass es den Schreiber dieser Zeilen als Kind heute erwischen würde.

    Zumal die ‘deutlichen Beeinträchtigungen’ betreffend. Hier sind oder wären normalerweise ernsthafte Zweifel angebracht, wenn in einer anscheinend feminisierten Pädagogenwelt zunehmend derartige Diagnosen und Therapien (“Ritalin”) angeleitet werden.

    Bei Diagnosequoten um die 20% müsste eigentlich auch die vielleicht bodenständig gebliebene bayerische Gesellschaft aufmerken, aber OK…

    MFG
    Dr. W

  55. #56 Ponder
    20. Februar 2013

    @ Webbaer:

    Zum Glück dürfen ja LehrerInnen weder Diagnosen stellen noch MPH verschreiben. 😉
    Der KBV- Versorgungsvertrag, dem die Kassen eben leider nicht beitreten, hat doch gerade zum Ziel, die Diagnosesicherheit zu erhöhen, die Voraussetzungen für eine multimodale Therapie sicherzustellen – und natürlich den beteiligten Ärzten und Therapeuten endlich eine angemessene Vergütung für die langwierige und arbeitsaufwändige Betreuung der ADHS- Familien zukommen zu lassen.

    So wie es ausschaut, wird ja bislang noch nicht einmal das Elterntraining ( Psychoedukation) bezahlt – wenn denn überhaupt qualifizierte Elterntrainer verfügbar sind.
    So weit ich weiß, sind Elterntraining und ADHS- Coaching für junge Erwachsene bislang nur über Beantragung eines persönlichen Budgets zu haben.

    Das ist es doch, was die Betroffenen seit Jahren an
    den GEK- und Barmer etc pp “Reporten” so ärgert:
    obwohl es genügend gute Ansätze für eine verbesserte Versorgung gibt, kommt äußerst wenig bei den Betroffenen an.
    Alljährlich geht aber das Lamento wieder durch den Blätterwald – eine scheinheilige Debatte, die zu Lasten der ADHS- Betroffenen geführt wird.
    Es gäbe an unserem Bildungssystem sehr viel zu reformieren – dazu benötigt man aber nicht die ADHS- Kinder und ihre Eltern sowie die Ärzte als Strohmann oder Sündenbock 🙁

  56. #57 Dr. Webbaer
    20. Februar 2013

    @Ponder
    Glücklich Therapierte und Konsumenten dürfen natürlich auch darüber nachdenken, ob sie wirklich hyperaktiv sind.
    Denn der Webbaer ist im Zweifel immer hyperaktiver.

    SCNR
    Dr. W

  57. #58 Ponder
    20. Februar 2013

    @Webbaer:

    Die Zuschreibung ADHS= “hyperaktiv”= “Zappelphilipp” ist mit Schuld an vielen Missverständnissen über das Störungsbild.
    Ich selbst habe die unaufmerksam- impulsive Variante und bin höchstens in Mikrobewegungen “motorisch unruhig”.

    Weil stereotyp nach “Hyperaktiver Verhaltensstörung” gesucht und lt ICD 10 auch kodiert wird, geraten die wirklich problematischen Aspekte der Störung ( Reizfilter- und -Verarbeitungsstörung, Unfähigkeit Daueraufmerksamkeit zu halten oder flexibel zu wechseln, Störungen der Impulskontrolle und emotionale Dysregulation) völlig aus dem Blickfeld. Diese sind es aber, die ein defizitäres Selbstbild bis hin zu einer dauerhaften Erfahrung von Selbstunwirksamkeit in einem Kind anlegen. Die Hyperaktivität selbst könnte man sogar als eine Folge dieser anderen Beeinträchtigungen ansehen. Sie stellt eigentlich das geringste Problem dar.

    Allmählich nähern wir uns dem Kern des Problems…

  58. #59 Dr. Webbaer
    20. Februar 2013

    @Ponder
    Mal was zur “Daueraufmerksamkeit”, die Daueraufmerksamkeit ist die Befähigung entweder Reizmuster fortlaufend zu erfassen oder in die Tiefe gehend, quasi wie ein Bergarbeiter, sich in bestimmte Problemlagen einzudenken und dort zu “schaufeln”. Dabei auch lange Zeit auf einem bestimmten Niveau zu verharren. Mehrere Stunden.

    Ein gestörter Bemühter kann sehr schnell aus seinem Kontext gerissen werden und muss sich nach einer Störung erst wieder sehr mühsam in die Denkmuster einarbeiten, ins “Bergwerk” hineingehen.

    Ein typischer Fall ist die Arbeit an Algorithmen, die es jeweils neu aufzuarbeiten gilt nach einer Störung, und die es in der Folge mit einigem Zeitversatz weiter zu bearbeiten gilt.

    Nun ist diese Arbeit, die doch recht anspruchsvoll ist, nicht jedem gegeben, nicht in der hiesigen Argumentatorik und nicht in der hiesigen Kommentatorik.

    D.h. einige werden zu bestimmten Themen, eine gewisse Komplexität und Mehrschichtigkeit überschreitend, nur lauen Quark absondern oder Allgemeinplätze.

    Es sei denn, man “münzt nach”, nimmt irgendwelche Präparate, die kognitiv leistungsfördernd wirken. [1]

    Nur: War der anfänglich nicht dbzgl. Fähige krank bzw. “ADHS”?

    MFG
    Dr. W

    [1] die Erfolge sind durchaus mäßig, wie sich der Schreiber dieser Zeilen anzumerken erlaubt, Neuro-Enhancer wirken zwar, aber nicht sehr stark, und eigentlich sollten nur ohnehin komplex Denkende dbzgl. einwerfen, wenn überhaupt (der Schreiber dieser Zeilen ist demzufolge konsequent abstinent 😉 )

  59. #60 Ponder
    20. Februar 2013

    @Webbaer:
    Die Neuroenhancement- Debatte sollte nicht – wie es leider auch oft geschieht – mit der ADHS- Thematik vermischt werden, denn dies sind zwei Paar Stiefel.
    Eine lesenswerte Betrachtung dazu gibt es hier:

    https://www.translating-doping.de/sites/td/files/dokumente/TD_PG%20Scientology-ADHS.pdf

    Dr. Webbaer, wie wäre in diesem Zshg. eine Betrachtung vom anderen Ende her:
    Wenn Sie an sich feststellen würden, dass Ihre Daueraufmerksamkeit und Ihre Fähigkeit, “ins Bergwerk hinabzusteigen” rapide nachlassen; wenn Sie Ihren impulsiven Durchbrüchen hilflos ausgeliefert wären, wenn Sie auf dem Weg in den Keller vergessen, was Sie dort suchen wollten… und wenn es dann ein Medikament gäbe, welches Sie in Ihren “gewohnt zuverlässigen Normalzustand” versetzt:

    Würden Sie sich ein solches Medikament verweigern, weil es eine Art Neuroenhancement darstellt? – Würden Sie eine (hypothetisch durch ein Medikament vermeidbare) Altersdemenz als schicksalhaft auf sich nehmen?

  60. #61 Ponder
    21. Februar 2013

    @Joseph Kuhn:

    Sach mal, Joseph … was hältst du eigentlich von diesem ISEG Institut?
    Ich konnte meinem alten Hobby nicht widerstehen und habe versucht, eine aussagekräftige Webpräsenz zu finden.

    Dabei ergaben sich folgende Fakten:
    Jede Menge Google-Treffer mit der Suchwort-Kombi Barmer Arztreport ISEG

    Der Versuch, eine entsprechende Institutshomepage aufzuspüren, scheiterte jedoch.

    Gefunden habe ich nur:
    https://www.mh-hannover.de/bitzer.html
    Die angekündigte Weiterleitung zu Frau Bitzers ISEG Webpräsenz endet blind.
    Es gibt dann Reste von iseg.org, welche auf internationale Verbindungen, aber nichts in der Sache Relevantes verweisen.

    Zu Thomas Grobe gab es immerhin noch:

    https://www.tk.de/centaurus/servlet/contentblob/346904/Datei/3164/TK-Pressemappe.pdf

    Wer macht eigentlich genau WAS mit Krankenkassendaten, wenn sich ein Institut wie das ISEG anscheinend innerhalb weniger Wochen von der Bildfläche verabschiedet??

    Oder habe ich da was falsch verstanden?
    Vielleicht beehrt uns Thomas Grobe ja doch noch mal mit seiner Anwesenheit in den Blogkommentaren…

  61. #62 Joseph Kuhn
    21. Februar 2013

    Warum das ISEG bei google nicht auftaucht, weiß ich auch nicht. Hier die URL: https://www.iseg.org/

  62. #63 Ponder
    21. Februar 2013

    @Joseph Kuhn:
    Vielen Dank!
    Gehe ich zu weit, wenn ich dieses IZEG als eine Art private Firma des MHH Sozialmediziners (Emeritus) Prof. Schwartz und seiner wissenschaftlichen Mitarbeiterin Prof. Bitzer betrachte?
    https://www.mh-hannover.de/schwartzfw.html

    Die Firma hat einen weiteren Sitz in Witten, und die Frau Bitzer hat irgendwie auch noch einen Lehrauftrag an der PH Freiburg:
    https://www.ph-freiburg.de/institut-fuer-alltagskultur-bewegung-und-gesundheit/fachrichtungen/gesundheitspaedagogik/mitglieder.html

    Ich muss gestehen, der Gedanke, dass sensible Patienten- und Krankenkassendaten von einer privaten Firma aufbereitet und anschließend über eine Medienkampagne “unters Volk” gebracht werden, ist mir maximal unsympathisch!!

    Hat man sich heutzutage generell so ” Versorgungsforschung” vorzustellen?

  63. #64 Ponder
    21. Februar 2013

    Ausgangspunkt des Blogpost war ja die “Hyperaktive Berichterstattung”.

    Hier ein weiteres schönes Beispiel, in dem sowohl Gerald Hüther als auch der Autor der Studie zu Wort kommen:
    https://jungle-world.com/artikel/2013/06/47090.html

    Man widmet sich zunächst der Datengewinnung über den ICD10 Schlüssel:

    …Da die Ärzte ihre Abrechnungen immer mit Diagnosen belegen müssen, handelt es sich, wenn hierbei der Begriff ADHS auftaucht, nicht bloß um Ratschläge oder Vermutungen der Mediziner, sondern um ausdrücklich gestellte Diagnosen. Diese sind jedoch nicht unumstritten. Es handelt sich bei ADHS strenggenommen gar nicht um eine Krankheit, wie oft fälschlich behauptet wird, weil sie nämlich weder heilbar noch schulmedizinisch im Gehirn eindeutig lokalisierbar ist. Es handelt sich – wie der Name schon sagt – viel mehr um eine Störung, die in der »Internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme« (ICD 10) unter »F 90« als »Störung von Aktivität und Aufmerksamkeit« beschrieben wird. Im »Diagnostischen und Statistischen Handbuch Psychischer Störungen« (DSM) wird sie ebenfalls angeführt. Hier wird Kindern mit dieser Störung der Schlüssel »314.01« zugewiesen. Nur ob es »F 90« oder »314.01« überhaupt gibt, da sind sich die Fachleute nicht einig, denn die Ärzte gelangen zur Diagnose von ADHS nicht durch einen Blut-, Gen- oder anderen Schnelltest, sondern durch ein anhand eines Fragebogens geführtes Gespräch mit den Angehörigen, in der Regel mit den Eltern…

    Dann hören wir den Experten Nr.1:

    …Für den Göttinger Neurobiologen Gerald Hüther ist ADHS daher keine Krankheit oder Hirnstörung. Er führt die größere Zahl von unruhigen Kindern auf einen Mangel an Erfahrungen zurück, die das kindliche Gehirn für seine Entwicklung braucht. Seiner Ansicht nach ist die Diagnose ADHS schlichtweg bequem, da die Eltern mit einem angeblich genetischen Defizit entlastet werden, die Ärzte froh sind, dass sie mit einer einfachen Medikamentengabe alles regeln können, und die Lehrer aufatmen können, weil sie nicht verantwortlich für die Störungen sind…

    Danach kommt Experte Nr.2 zu Wort:

    …Egal, wie gründlich die vermeintliche Diagnose gestellt wird, die therapeutische Maßnahme ist häufig ein und dieselbe. Den Kindern werden Psychopharmaka mit dem Wirkstoff Methylphenidat verschrieben. Am bekanntesten dürfte wohl das Medikament Ritalin sein. Auch beim Verschreiben dieses Medikaments verzeichnet die Studie der Barmer GEK sehr hohe Steigerungsraten. Im Beobachtungszeitraum von 2006 bis 2011 stieg die Verordnung von Präparaten der Methylphenidat-Gruppe bei unter 19jährigen um 35 Prozent. »Wenn man sich anschaut, welche Aufregung es um Doping im Sport gibt, dann erstaunt es schon, warum diese Medikamente so häufig und leichtfertig Kindern und Jugendlichen verschrieben werden«, meint Thomas Grobe, denn diese Medikamente wirken ähnlich wie Doping, nur treiben sie die Kinder nicht zu Höchstleistungen, sondern stellen sie ruhig, so dass ihre Unruhe und ihre Unkonzentriertheit zumindest scheinbar verflogen sind…

  64. #65 Ponder
    21. Februar 2013

    Ergänzung:

    Auf den entsprechenden Seiten des ZDF gibt es auch ein Video-Interview mit dem Studienautor Thomas Grobe:

    https://m.zdf.de/ZDF/zdfportal/xml/object/26349850

  65. #66 Dr. Webbaer
    22. Februar 2013

    Würden Sie sich ein solches Medikament verweigern, weil es eine Art Neuroenhancement darstellt? – Würden Sie eine (hypothetisch durch ein Medikament vermeidbare) Altersdemenz als schicksalhaft auf sich nehmen?

    Die Antwort auf diese Frage lautet, wie man sich vielleicht denken mag: ‘It depends.’
    Zumal ein gewisser Abbau die kombinatorischen Fähigkeiten betreffend mit ca. 40 Jahren regelmäßig einsetzt, meist aber durch Erfahrung oder “Überblick” kompensiert werden kann. Der Ältere kann dann zwar nicht mehr (so gut), könnte aber sozusagen, so dass er – Dilbert oder Lawrence Peter folgend – zwingend Leitungsaufgaben übernehmen sollte.
    Etwas ernsthafter: Die Medikation soll, jedenfalls nach Kenntnis des Schreibers dieser Zeilen, in ihrer Wirkung nach einiger Zeit deutlich nachlassen und zudem oft auch nur den pers. Eindruck erwecken, dass die Leistung wieder stimmt.

    Ein wichtiger Exkurs. – Aber bei Heranwachsenden mit mangelhafter Konzentrationsfähigkeit könnte auch eine natürliche Veranlagung vorliegen, die durch Medikation nicht sinnhaft behandelt wird. Dann wäre die Behandlung (durch Neuro-Enhancer) vermutlich schädlich. Das ist ja alles zurzeit noch weitgehend unverstanden.

    MFG
    Dr. W

  66. #67 Joseph Kuhn
    22. Februar 2013

    @ Ponder: Ob das ISEG als “private Firma” von Schwartz richtig betitelt ist, weiß ich nicht. Es ist rechtlich ja als gemeinnütziger Verein organisiert. Private Institute sind in der Versorgungsforschung relativ stark, aber sofern sie mit Kassendaten arbeiten, unterliegen sie und die Kassen dem Sozialdatenschutz. Versorgungsforschung findet ansonsten z.B. an den Universitäten statt, bei wissenschaftlichen Instituten der Krankenkassen selbst (z.B. dem WIdO der AOK) usw. Im Übrigen sind andere Bereiche der Versorgungsforschung, z.B. die Arzneimittelforschung, seit langem fast ganz in privater Hand, nämlich bei der Pharmaindustrie, das ist mir “maximal unsympathisch”.

  67. #68 ThomasGrobe
    24. Februar 2013

    Zur Frage von @Ponder (#54):

    Gerd Glaeske spricht sich direkt vor der von Ihnen zitierten Stelle für einen differenzierten Umgang mit ADHS aus und betont explizit noch mal, dass es ihm beim Thema Ritalin nicht darum geht, “diese Therapie bei ADHS-Kindern grundsätzlich in Frage zu stellen.” Seine nachfolgenden “Eindrücke” zu einem Teil der Experten-Auftritte sind sicher zugespitzt formuliert, aber auch damit wird von ihm weder ADHS als Diagnose noch Ritalin als ggf. sinnvolle Therapie grundsätzlich angezweifelt.

    @Ponder (#64): Zum Hintergrund meiner eigenen Äußerungen zu Ritalin und Doping:

    Während der Arbeit am Arztreport hab ich – zumindest “gefühlt” – mehr als 50 Beiträge zur UV-Bestrahlung von Blut bei Leistungssportlern abendlich in meinem Lieblingsradiosender ertragen – und mich ständig geärgert, da ich genau dieser Maßnahme zumindest keinerlei leistungssteigernde Wirkung zubilligen würde, und dies in den Beiträgen nie gesagt wurde (obwohl das wohl auch wissenschaftlich weitgehend Konsens sein dürfte).
    Im Vergleich dazu halte ich eine Diskussion über regionale Differenzen bei Ritalinverordnungsraten und die Wirkungen von Ritalingaben für erheblich relevanter.

    Zur “Unauffindbarkeit” des ISEG (in eigener Sache ;-):
    Leider haben wir selbst erst aktuell realisiert, dass unsere Hompage im Netz kaum auffindbar ist (die eigene Hompage muss man schießlich nur selten googeln).

    Ursache ist der Meta-Tag-Eintrag “noindex,nofollow”, der bei einer Umstellung der Homepage von der verwendeten Software wohl – ev. schon vor vielen Wochen – auf alle einzelnen Seiten des ISEG gesetzt worden ist.

    Ich hoff, dass dieses Problem bald behoben ist.
    Eigentlich gibt es die Seiten schon seit vielen Jahren, wobei das Design zugegebener Maßen bislang nie einen Eyecatcher-Status erreicht hat und gelegentlich selbst die Zeit für inhaltliche Updates fehlt, da anderes intern meist wichtiger erscheint.

    Thomas Grobe

  68. #69 Joseph Kuhn
    26. Februar 2013

    Der Blogbeitrag wurde gerade in der “Rosa Beilage” vom 11.2.2013 nachgedruckt.

    Bevor falsche Assoziationen aufkommen: Die “Rosa Beilage” ist das (rosafarbene) Supplement der Zeitschrift Verhaltenstherapie & Psychosoziale Praxis. Es enthält Aktuelles aus der psychosozialen Fach- und Berufspolitik.

  69. #70 Joseph Kuhn
    27. Februar 2013

    Und noch ein Nachtrag aus der Medienwelt: Auf der Internetseite “gerechte.gesundheit.de” kann man jetzt darüber abstimmen, was man von der Nachricht über die gestiegene Häufigkeit der ADHS-Diagnosen hält:
    https://www.gerechte-gesundheit.de/debatte/umfragen/16.html

    Die Resonanz ist allerdings bescheiden (Stand 27.2.2013, 18.51 Uhr):

    “Die Diagnosen steigen nur deshalb so drastisch an, weil Ärzte und Eltern zu schnell mit der Diagnose bei der Hand sind”: 45 Stimmen.

    “Früher war die Krankheit extrem unterdiagnostiziert, insofern ist der Anstieg ganz normal”: 10 Stimmen.

    “Dazu habe ich keine Meinung”: 2 Stimmen.

  70. #71 Elle
    13. März 2013

    Stellungnahme des zentralen adhs netzes zum Barmer Arztreport 2013

    https://www.zentrales-adhs-netz.de/regional/aktuelles/article/arztreport-2013-der-barmer-gek.html

  71. #72 Ponder
    13. März 2013

    Nicht hundertprozentig zum Thema “Hyperaktive Berichterstattung zu ADHS”, aber immerhin zum Thema Medienpräsenz dubioser “ADHS-Aufklärer” :

    https://adhsspektrum.wordpress.com/2013/03/12/warnung-vor-sinn-stiftung-und-prof-huther-von-sektenbeauftragten/

  72. #73 Ponder
    13. März 2013

    Im Vergleich zu den Daten im Barmer Arztreport ist diese aktuelle Studie interessant:
    https://www.zi-mannheim.de/institut/news-detail/artikel/aktuelle-untersuchungsergebnisse-zum-adhs-medikament-methylphenidat.html

    …Ziel der vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) geförderten Untersuchung war es, die Häufigkeit (Prävalenz) der medikamentösen Behandlung sowie die Anzahl der Erstmedikation (Inzidenz) bei ADHS in Deutschland zu ermitteln…

    …Die Ergebnisse der Auswertung zeigen, dass im Jahr 2005 in Deutschland bei insgesamt 1,5% aller Kinder und Jugendlichen Methylphenidat als medikamentöse Intervention bei ADHS verabreicht wurde. Dabei offenbarte der Geschlechtervergleich, dass Jungen viermal häufiger Methylphenidat erhielten als Mädchen. Ein Anstieg der Methylphenidat-Gabe wurde bei beiden Geschlechtern im Alter von sechs Jahren nachgewiesen. Am häufigsten wurde Methylphenidat im Alter von zehn Jahren (bei Jungen) und elf Jahren (bei Mädchen) verschrieben. Im Vergleich zu Mädchen wurde im Jahr 2006 bei Jungen mehr als dreimal häufiger mit der Behandlung von Methylphenidat begonnen. Die Erstbehandlung im Alter von neun Jahren war bei beiden Geschlechtern am häufigsten…

  73. #74 Joseph Kuhn
    13. März 2013

    @ Ponder:

    Die Publikation zu dieser Studie hatte ich in Kommentar 35 verlinkt: https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC3544568/

    Was findest Du daran denn im Vergleich zu den Daten des Barmer-GEK-Reports so interessant?

  74. #75 Ponder
    14. März 2013

    @Joseph Kuhn:
    Danke, das war mir entgangen, dass du die Studie schon mit anderer url verlinkt hattest.
    Interessant finde ich u.a. den etwas anderen Blickwinkel der ZI-Mannheim-Studie. Dort wird besonders auf den Aspekt der sehr häufigen psychiatrischen Komorbiditäten abgezielt.

    Seltsamer Weise gibt es im Barmer Arztreport einen Hinweis auf die vermutlich unterdiagniostizierten Angststörungen im Kindesalter mit ihrer schwer wiegenden Langzeitprognose (ab S.134), aber diese Anmerkungen werden nicht in Beziehung zu ADHS gesetzt.
    Das gilt auch für die im Report berichteten Daten zu psychiatrischen Komorbiditäten, die aber leider unkommentiert bleiben – im Vergleich etwa zu den mangels Datenbasis eher spekulativen Auslassungen über

    Elternabhängige Faktoren und regionale Unterschiede
    Die Wissenschaftler aus Hannover ermittelten erstmals einige elternabhängige Faktoren, die das Risiko für eine ADHS-Diagnose und die Verordnung von Medikamenten mit Methylphenidat bei Kindern beeinflussen.

    (Im Report auf S.211 kommentiert ohne den wichtigen Hinweis darauf, dass die Störung eben leider “durch die Generationen” läuft und daher Auswirkungen auf den sozialen Status der Eltern störungsbedingt zu erwarten sind)

    Derart selektive Wahrnehmung bzw Positionierung hat mich schon mehrmals an den Barmer Veröffentlichungen gewundert:
    so wurde in einem Report ausdrücklich begrüßt (Quelle müsste ich suchen), dass die Verschreibung von Antidepressiva und Schlafmitteln bei Kindern zurückgegangen sei, aber leider die MPH-Verschreibungen gestiegen. Es kam aber niemand auf die Idee, dies in einen immerhin möglichen Zusammenhang zu bringen.
    Es gäbe noch einiges zu ergänzen.

    Thema “Versorgungsforschung ADHS”:
    da hat das Zentrale ADHS-Netz eigentlich die Schwerpunkte des benötigten Forschungsbedarfs im Jahr 2010 recht präzise formuliert:
    https://www.zentrales-adhs-netz.de/fileadmin/ADHS/Newsletter/Doepfner_et_al___2010__Stellungnahme_zent_adhs_netz__ZKJPP__1_.pdf

    Im Barmer Arztreport vermisse ich einen Bezug zu diesen Empfehlungen.

  75. […] […]

  76. #77 Elle
    21. März 2013

    Verzeihung, nur zum Verständnis, in #35 wurde eine Studie verlinkt, welche zu ähnlichen Ergebnissen wie der Barmer Arztreport gekommen ist. Mich führt der Link zu einer Studie über Mph Verordnung bei Komorbitäten “Comorbidities in ADHD children treated with methylphenidate: a database study”- diese Studie ist gemeint?

    Bin gespannt auf die neuen Ergebnisse der Kiggs Studie, die anscheinend ab Ende des Jahres verfügbar werden. Anscheinend wurde auch hier weiter zu ADHS befragt. Inwiefern diese Ergebnisse aber dazu geeignet sind den Daten des Arztreportes gegenübergestellt zu werden, oder sie zu ergänzen weiß ich leider nicht.

  77. #78 Joseph Kuhn
    21. März 2013

    @ Elle: Ja, genau diese Studie war gemeint. Nicht von der scheinbar viel niedrigeren Prävalenz dort verwirren lassen: da geht es ums Jahr 2005, die Barmer-GEK-Daten für 2006 liegen nicht viel höher.

    KIGGS: Der Gewinn der KIGGS-Daten liegt vor allem in den vielfältigen Verknüpfungsmöglichkeiten zwischen den erfragten Merkmalen. Man kann dann sehr viele “ADHS und XY-Auswertungen” machen. Zu ADHS selbst werden u.a. die Lebenszeitprävalenz, der Zeitpunkt der Diagnosestellung und die Behandlung erfragt. Näheres dazu finden Sie in der Projektbeschreibung unter https://www.kiggs-studie.de/

  78. […] haben derzeit Konjunktur. Auch darüber haben wir schon diskutiert, z.B. beim Thema ADHS, bei der Masernimpfung oder bei den Kaiserschnitten. Auch hier darf man sicher sein, dass man nicht […]

  79. […] kurzem erst hatten wir hier auf Gesundheits-Check über ADHS und die Berichterstattung dazu in den Medien diskutiert. Gerade geht wieder eine Meldung durch die Welt: „Hamburg ist Spitzenreiter bei […]