Die Krebsfrüherkennung gilt im allgemeinen Verständnis als eine fraglos positive Geschichte: Wenn Krebserkrankungen früher diagnostiziert werden, kann man sie früher behandeln und dann ist die Prognose günstiger. Manchmal ist das so. Manchmal aber auch nicht. Manchmal leben die Patient/innen auch nur länger mit der Diagnose, aber nicht länger, als sie ohne die Diagnose gelebt hätten. Manchmal folgen auf einen „positiven Screeningbefund“ (der für die Betroffenen nie „positiv“ ist, weil man ja etwas gefunden hat) weitere mit medizinischen Eingriffen verbundene Untersuchungen mit dem Ergebnis, dass es sich um einen „falsch positiven Befund“ gehandelt hat, also um einen Fehlalarm. Das gehört zu einem Screening wie die berühmten Späne zum Hobeln: Screening-Untersuchungen sollen zunächst einmal möglichst viele Verdachtsfälle herausfiltern. Und manchmal wird operiert oder bestrahlt, obwohl der festgestellte „Krebs“ die Lebenserwartung der Leute nicht beeinträchtigt hätte. Sie wurden unnötig behandelt. Um es kurz zu machen: Früherkennungsuntersuchungen haben immer zwei Seiten, Nutzen und Risiken.
Beim Prostatascreening ist man schon vor längerer Zeit vorsichtig geworden. Ein erhöhter PSA-Wert löst heute oftmals zunächst nur ein „watchful waiting“ aus: Man beobachtet engmaschig, operiert aber noch nicht gleich. Beim Mammographie-Screening, seit wenigen Jahren in Form eines qualitätsgesicherten Screenings mit Einladungswesen Kassenleistung, wogt seit Jahren ein Streit unter Fachleuten, wie Nutzen und Risiken gegeneinander abzuwägen sind. Wer will, kann sich in die widersprüchliche Studienlage, diverse Cochrane-Reviews eingeschlossen, vertiefen. Das Ergebnis wird vermutlich eine gewisse Ratlosigkeit sein.
In Deutschland erkranken derzeit jährlich ca. 70.000 Frauen und mehr als 500 Männer neu an Brustkrebs, ca. 18.000 Frauen und ca. 150 Männer sterben daran, wobei die Sterberate (altersbereinigt) leicht rückläufig ist. Es geht also um eine häufige Krebserkrankung, so dass einerseits auch eine bei der einzelnen Frau nur gering erhöhte Wahrscheinlichkeit, durch das Screening Krebs im Frühstadium zu erkennen, bevölkerungsmedizinisch große Vorteile bieten kann, andererseits sind bei einem bevölkerungsweiten Screening aber auch sehr viele Frauen durch Fehlalarme und unnötige Behandlungen betroffen. Ein wichtiger Punkt der Diskussion dürfte sein, wie man künftig DCIS (duktale Carcinoma in situ) – das sind kleine Veränderungen in den Milchgängen der Brust, die zu invasiven Krebserkrankungen werden können, aber nicht müssen – besser hinsichtlich ihrer potientiellen Bösartigkeit klassifizieren kann und wie sich die Behandlungsmethoden weiterentwickeln. Viele Problemebenen, viele Unwägbarkeiten.
Vor diesem Hintergrund hat das Deutsche Netzwerk für Evidenzbasierte Medizin in einer Pressemitteilung nun dazu aufgerufen, offener über Nutzen und Risiken des Mammographie-Screenings zu diskutieren und auch die Informationen für die Frauen anders zu gestalten. Im Folgenden ist diese Pressemitteilung dokumentiert, zur Diskussion ist eingeladen. Ich bin allerdings bekanntlich weder Frauenarzt noch Onkologe und auch kein Krebsepidemiologe, d.h. ich werde fachliche Fragen bei diesem Thema vermutlich nur ab und zu beantworten können. Aber in der Kernfrage, wie weiter mit dem Mammographie-Screening zu verfahren ist, scheint es ja den Fachleuten nicht viel anders zu gehen.
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Pressemitteilung des Deutschen Netzwerks Evidenzbasierte Medizin e.V.
Berlin, den 08.05.2015
Das kollektive Schweigen zum Mammographie-Screening
Mammographie-Screening-Programme sollen gestoppt werden, empfiehlt das Swiss Medical Board (1), ein Schweizer Expertengremium aus Medizin, Ethik, Recht und Ökonomie, in einer aktuellen Ausgabe des führenden Wissenschaftsjournals The New England Journal of Medicine (2). Eine überfällige Aufforderung sei dies, eine ernsthafte öffentliche Diskussion zu beginnen, so kommentieren Ingrid Mühlhauser und Gabriele Meyer vom Deutschen Netzwerk für evidenzbasierte Medizin e.V. (DNEbM). Zu beunruhigend seien die wissenschaftlichen Ergebnisse aus den letzten Jahren, die einen Nutzen des Mammographie-Screenings in Frage stellen und den bisher unterschätzten Schaden des Screenings deutlich machen. Auch der Hauptredner der gut besuchten Jahrestagung des DNEbM (3), Peter Gøtzsche, forderte in seinem Plenarvortrag „Why Mammography screening should be stopped” ein Ende des Mammographie-Screenings. Der Schaden an gesunden Frauen durch Überdiagnosen und Übertherapien sei nicht länger hinnehmbar. Vertreter der Medien und politischer Gremien waren bei der Tagung in Halle (Saale) präsent: „Aber richtiges Medienecho oder Reaktionen auf politischer Seite seien bisher ausgeblieben“, konstatiert die DNEbM-Vorsitzende Gabriele Meyer.
Nutzen und Schaden werden falsch eingeschätzt
Die Gründe für das kollektive Schweigen in Deutschland sind vielfältig. „Eine Hauptursache liegt jedoch in den immer noch vorherrschenden Fehleinschätzungen und Trugschlüssen der Bevölkerung zum Nutzen und Schaden des Mammographie-Screenings“, so Ingrid Mühlhauser, Sprecherin des DNEbM Fachbereichs für Patienteninformation. Aktuelle Untersuchungen bestätigen, dass Frauen in Deutschland den Nutzen des Screenings massiv überschätzen und den Schaden teils gar nicht kennen oder deutlich unterschätzen (4). Die Informationsprozesse im deutschen Screening-Programm sind nicht geeignet den Frauen informierte Entscheidungen zu ermöglichen. Immer noch würden die rosa Schleifen die Meinungsbildung dominieren anstatt ausgewogene und verständliche Information, resümiert Gerd Gigerenzer, Leiter des Max-Planck Instituts für Bildungsforschung in Berlin, in der aktuellen Ausgabe des British Medical Journal. Er fordert daher Frauen und Frauenorganisationen auf, die rosa Schleifen zu zerreißen und stattdessen sich in Kampagnen für ehrliche Informationen zum Mammographie-Screening einzusetzen (5). Das DNEbM will nicht nur die Zivilcourage gestärkt sehen, sondern appelliert nachdrücklich an die gesundheitspolitischen Entscheidungsträger: „Wir brauchen einen öffentlichen Diskurs über eine Neubewertung des Nutzens und Schadens des Mammographie-Screenings. Bürgerinnen (und auch Bürger) in diesem Land haben das Recht, verständlich und nachvollziehbar über die zu erwartenden Effekte des Screenings informiert zu werden und auch natürlich über die Gründe, das Screening weiterzuführen oder aber ggf. einzustellen. Auch die Kostenimplikationen des Programms sind offen zu legen“, das ist das Fazit der zwei DNEbM-Vertreterinnen.
Referenzen
1) Swiss Medical Board: Systematisches Mammographie-Screening. https://www.medical-board.ch/fileadmin/docs/public/mb/Fachberichte/2013-12-15_Bericht_Mammographie_Final_rev.pdf
2) Biller-Andorno N, Jüni P: Abolishing mammography screening programs? A view from the Swiss Medical Board. N Engl J Med 2014: Apr 16 [Epub ahead of print]
3) Deutsches Netzwerk für evidenzbasierte Medizin: 15. Jahrestagung des DNEbM 2014. https://www.ebm-netzwerk.de/was-wir-tun/jahrestagungen/2014
4) Dierks ML, Schmacke N: Mammografie-Screening und informierte Entscheidung – mehr Fragen als Antworten. Gesundheitsmonitor 1/2014. Newsletter. https://www.bertelsmann-stiftung.de/cps/rde/xbcr/SID-35C1977B-FE483367/bst/xcms_bst_dms_39349_39350_2.pdf
5) Gigerenzer G: Breast cancer screening pamphlets mislead women. BMJ 2014; 348: g2636
Ansprechpartnerin
Prof. Dr. Gabriele Meyer
Deutsches Netzwerk Evidenzbasierte Medizin e.V.
Geschäftsstelle
Kuno-Fischer-Straße 8
14057 Berlin
E-Mail: kontakt@ebm-netzwerk.de
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