Die Frage, wie es kommt, dass sich manche Leute tief in obskure Gedankengebilde verstricken, beschäftigt angesichts der Verschwörungstheorien rund um Corona derzeit viele. Ein faszinierender Aspekt dabei ist die Verwandlung von Menschen, die irgendwann einmal kritische Geister waren, in mentale Zombies, die im Gleichschritt und faktenresistent alle die gleichen „Argumente“ reproduzieren, egal wie oft und wie gut sie schon widerlegt wurden. Da unterscheidet sich ein Teil der Coronaskeptiker-Szene nicht von den Homöopathen oder den Astrologen.

Über starrköpfige Denkformen und die Probleme, mit Leuten zu diskutieren, die sich ihrer Sache ganz sicher sind, die die wahre Wahrheit hinter den Dingen kennen und nicht zu den Denkschafen der Masse gehören wollen, kann man inzwischen im Netz endlos viel lesen. Ich will das nicht wiederholen, sondern nur kurz einen merkwürdigen Punkt herausgreifen.

Kritik an den gesellschaftlichen Verhältnissen ist an sich ja nicht verkehrt, schließlich leben wir nicht im Paradies und auch nicht in der besten aller möglichen Welten. Kurioserweise scheint Kritik aber anfällig für einen „kritischen Kurzschluss“ zu sein. Man kritisiert eine verengte Position und landet bei einer verfremdeten bzw. anders etikettierten Variante derselben. Ob es Homöopathen sind, die sich grausend von der Pharmazie abwenden und nach einem Rekurs auf „geistartige Kräfte“ beim Zucker als Fetisch einer vulgärmaterialistischen Medizinkritik enden, ob es der kritisch-misstrauische Blick mancher Leute auf die Halbgötter in Weiß ist, der umschlägt in blindes Vertrauen in die merkwürdigsten Gurus, oder seinerzeit der real existierende Sozialismus, der die bürgerliche Gesellschaft überwinden wollte und doch nur im kleinbürgerlichen Mief ankam – am Ende manchen Gedankenlabyrinths steht der Ausgangspunkt. Fast möchte man in Anlehnung an den Kollaps der Wellenfunktion in der Quantentheorie von einem Kollaps der dialektischen Synthese aus These und Antithese sprechen, oder eben von einem „kritischen Kurzschluss“.

Die Coronaskeptiker praktizieren diesen Fehlschluss mit Leidenschaft. Sie zweifeln an den einen Zahlen und übernehmen andere Zahlen völlig ungeprüft, sie vermissen Meinungsvielfalt in den Medien und äußern sich selbst wie gleichgeschaltet, sie raunen über einen „großen Plan“ hinter den Dingen und lassen sich bedenkenlos in eben solche Pläne einspannen, von Querfrontaufrufen bis zu Putins Destabilisierungsstrategien. Frei nach F.W. Bernstein: Die größten Kritiker der Elche sind selber welche.

Kommentare (14)

  1. #1 Alisier
    8. August 2020

    Ich bin ja sonst nicht so, aber F.W. Bernstein ist mir heilig.
    Dein “frei nach” wirkt sonst sinnentstellend, Joseph.
    “Die schärfsten Kritiker der Elche/waren früher selber welche”
    Und da sitzt wirklich jedes Wort.

    • #2 Joseph Kuhn
      8. August 2020

      @ Alisier:

      Für die Missachtung deiner Ehrfurcht vor dem Original bitte ich um Entschuldigung, aber mit Heiligenverehrung habe ich es nicht so. Lies noch mal, was ich sage. Dann siehst du, dass das “waren” des Originals inhaltlich hier nicht passt, daher das “frei nach”. In meinem Satz sitzt wirklich jedes Wort.

  2. #3 Volker Birk
    https://blog.fdik.org
    8. August 2020

    Lustig, die Verschwörungstheorie, die Frau von Salzen hier präsentiert. Wie war das gleich mit den Elchen? 😉

    • #4 Joseph Kuhn
      8. August 2020

      @ Volker Birk:

      Frau von Salzen bezieht sich auf einen Bericht der EU East StratCom Task Force: https://euvsdisinfo.eu/eeas-special-report-update-2-22-april/?highlight=corona. Mag ja sein, dass die Elche dort dem lupenreinen Demokraten Putin und seinen Desinformationsschleudern Unrecht tun, dann sagen Sie es am besten konkret, statt anzudeuten, als wüssten Sie mehr. Und falls Sie der Meinung sind, die Wahrheitssucher auf den Coronademos hätten Recht und das Virus sei ein Instrument, um uns alle in die Knechtschaft zu führen, dann sagen Sie doch bitte auch das explizit.

  3. #5 Alisier
    8. August 2020

    @ Joseph Kuhn
    Na gut…..
    Ego te absolvo. Gehe hin in Frieden.

  4. #6 rolak
    9. August 2020

    Kollaps der Wellenfunktion

    Mittlerweile bin ich ziemlich überzeugt, daß das einzige Kollabierende a) beim Lesen davon das LesenWollen und b) bei diesem VerständnisAnsatz der genutzte ‘gesunde Menschenverstand’ sind. Die WF dient nur der mathematischen Beschreibung des quantenmechanischen Zustands eines physikalischen Systems. Aus ihr lässt sich jedoch das zu erwartende Ergebnis einer Messung (..) berechnen.” Daß einer bereits erfolgten Messung in der Retrospektive als beschreibende Funktion des bei ihr zu erwartenden Ergebnisses ein wertraumzeit-singuläres ‘so!’ zu eigen ist, sollte selbstverständlich sein. Unabhängig davon, wie die Beschreibung vorher ausgesehen haben mag.
    Auch sonst im Leben sind Prognosen eher vage, Rückschauen eher konkret.

    Doch die Idee mit dem Kurzschluß ist nett – ob dazu allerdings die Synthese kollabiert oder nicht doch eher das Streben nach rationaler Bewertung…
    Meintest Du eigentlich die Dialektik des Adorno/FS (wg Bernstein/NFS)?

    Ego te absolvo. Gehe hin in Frieden.

    Könnte in der bekannten Sanftheit auch den typischen Wirrköpfen auf ihrem kollabierten Weg durch surreale Eigenwelten entgegengeschleudert werden. Mehr als ein frommer Wunsch scheint da von nichtstaatlicher Seite kaum machbar zu sein.
    Bei der temporalen Spruchanpassung war ich von Anfang an bei Joseph…

    • #7 Joseph Kuhn
      9. August 2020

      @ rolak:

      „Meintest Du eigentlich die Dialektik des Adorno“

      Ich meinte die von Hegel. Die „Dialektik der Aufklärung“ passt hier nicht und würde dem kritischen Fehlschluss auch zu viel Ehre zuteil werden lassen.

      Aber du hast natürlich Recht, das gilt auch für den Kollaps der Wellenfunktion, die ist ja kein Kollaps des Denkens. An dem Punkt hinkt mein Vergleich.

  5. #8 Kinseher Richard
    9. August 2020

    Corona-Viren werden per Aerosol mit der Feuchtigkeit der Atemluft beim Ausatmen verbreitet. Und durch einatmen von Aerosolen stecken sich andere Menschen an.

    Ich habe gestern Mittag ein einfaches Experiment dazu gemacht:
    Im sonnigen Freien habe ich ein Glas der Sonnenbrille angehaucht. Das sich darauf niedergeschlagene Kondenswasser war sofort wieder verschwunden – weil auch noch ein leichter Wind wehte.
    D.h. die Aerosol-Beständigkeit war kleiner/gleich 1 Sekunde lang.
    D.h. das für den Transport der Viren notwendige Medium war sofort verdunstet. Zusätzlich schien die Sonne – und UV-Licht schadet den Viren.

    Aus dieser Beobachtung würde ich anregen, dass man die aktuell angeordneten Schutzmaßnahmen kritisch hinterfragt. Möglicherweise besteht keine echte Ansteckungsgefahr, wenn man an einem warmem sonnigen Tag an den Badestrand oder aif eine Demo geht. Das größte Ansteckungs-Risiko dürfte bei der An-/Abreise bestehen, wenn mehrere Personen im Bus/Zug eng zusammen sind – und diese Verkehrsmittel eine schlechte Lüftung haben

    Manche Corona-´Skeptiker´ geben wirklich nur Unsinn von sich – aber man muss auch Schutzmaßnahmen kritisch hinterfragen; ob diese sinnvoll sind.

    Einen schönen sonnigen Sonntag wünsche ich noch.

  6. #9 RPGNo1
    9. August 2020

    @Kinseher Richard

    Doof nur, dass kondensierte Flüssigkeit auf einer Sonnenbrille sowie mit Aerosol zu tun hat wie Putin ein lupenreiner Demokrat ist.

    https://de.wikipedia.org/wiki/Aerosol

  7. #10 2xhinschauen
    9. August 2020

    Der “Kritische Kurzschluss” ist ein schönes Bild, danke dafür. Bzzzzzz. Man sieht gleich die Funken und die herausfliegenden Sicherungen.

    Paradox ist ja, dass es zum Entwerfen und erst recht zum gewandten Verteidigen kruder Theorien einer erhöhten Intelligenz bedarf – dieselbe, die das eigentlich verhindern sollte.

    Man könnte denken, dass die Fähigkeit zur Umkehr /noch/ mehr Grips benötigt, aber das stimmt offenbar nicht.

  8. #12 schorsch
    10. August 2020

    Auch wenn Richards Verständnis von Aerosolen nicht ganz realistisch ist – seine Vermutung, dass die Ansteckungsgefahr auf einer Demo oder am Badestrand ganz erheblich geringer ist gegenüber z. B. öffentlichen Verkehrsmitteln, ist nicht so ohne weiteres abzutun https://www.medrxiv.org/content/10.1101/2020.02.28.20029272v2

    Mir zumindest ist bislang kein Superspreader-Ereignis bekannt, welches sich Open-Air abgespielt hätte.

    Andererseits: Welche ‘angeordneten Schutzmaßnahmen ‘ gibt es denn am Badestrand aktuell noch? Das ist doch m. W. lediglich das Abstandsgebot. Und das dürfte auch weiterhin sinnvoll sein, denn auch wenn Tröpfcheninfektionen keine Super-Spreading-Fähigkeiten haben, sind sie doch für den einzelnen nicht zu vernachlässigen.

    Bleibt das Verbot von Open-Air-Großveranstaltungen. Aber auch das wird ja, wie aktuell die Diskussion um die Rückkehr von Fans in die Stadien zeigt, durchaus diskutiert. Das ‘kritische Hinterfragen’, welches Richard hier einfordert, findet also duchaus statt. Es wird nur von den Corona-Lügenbeuteln nicht gesehen, bzw. gezielt abgeleugnet.

  9. #13 DH
    10. August 2020

    “Verschwörungstheoretiker als irregeleitete Gesellschaftskritiker?”
    Auffällig ist schon, daß das Schwächeln der Gesellschaftskritik einhergeht mit dem Aufkommen von V-Theorien, zumindest scheint es Überschneidungen beim Potenzial zu geben.
    Paradox, daß bisherige Systemkritiker plötzlich die lautesten Leugner von Symptomen werden, die das System selber hervorgebracht hat, und damit dem verhassten(?) System den größten Gefallen tun.
    Statt mit Riesenaufwand alles kleinzureden, könnte man ja beispielsweise über die Umweltzerstörungen reden, die solche Pandemien auch in Zukunft massiv begünstigen können.

  10. […] • Kritik ist wichtig, Ignoranz ist gefährlich • Der kritische Kurzschluss […]