Wenn Intensivbetten nicht für alle reichen
Das DIVI-Intensivregister dokumentiert in seinem Tagesreport heute 2.839 Covid-19-Patient/innen auf der Intensivstation, davon 1.534 mit Beatmung. Die Zahl der intensivpflichtigen Patient/innen ist damit in etwa so groß wie in der Spitze im Frühjahr, am 19. April waren es 2.922. Allerdings sind wir damit in Deutschland – von regionalen Engpässen abgesehen – noch ein gutes Stück von der Kapazitätsgrenze der Intensivbetten entfernt. Etwa 7.000 Intensivbetten sind noch frei, hinzu kommen Notfallreserven. Nicht ganz klar ist, ob für all diese Betten auch Pflegekräfte zur Verfügung stehen und wie sich das in den nächsten Wochen entwickelt – auch Pflegekräfte werden im Winter krank.
Was wäre, wenn im Winter tatsächlich die Kapazitätsgrenzen erreicht würden? Im aktuellen SPIEGEL 46/2020 ist heute ein Artikel mit dem Titel „Unerträgliche Fragen“ darüber, ob der Gesetzgeber für diese Situation Regeln zur Triage vorgeben sollte. Bisher ist es so, dass Ärzt/innen darüber, ob jemand ein Intensivbett bekommt oder beatmet wird, anhand von Leitlinien entscheiden müssten. Damit haben sie letztlich die Verantwortung. Der SPIEGEL-Artikel diskutiert, ob das besser so bleibt, weil der Staat in so einer Situation nicht über die Chancen für Leben und Sterben entscheiden soll, oder ob der Gesetzgeber hier in der Pflicht steht, zumindest Kriterien für eine Triage vorzugeben. Soll beispielsweise das Alter ein Kriterium sein, oder Art und Zahl der Vorerkrankungen, oder die Überlebenswahrscheinlichkeit?
Entscheidungssituationen
Am Ende des Artikels wird noch ein besonderes Problem angesprochen. Wie unterscheidet sich die Situation, wenn zwei Patient/innen ins Krankenhaus kommen und über den letzten freien Beatmungsplatz entschieden werden muss, von der Situation, dass ein junger Mensch mit guten Überlebenschancen beatmet werden muss, aber der letzte Platz schon durch einen alten multimorbiden Menschen belegt ist. Darf man diesen vom Beatmungsgerät nehmen?
In anderem Kontext hatte ich hier schon einmal auf das Buch „Würden Sie den dicken Mann töten?“ von David Edmonds hingewiesen. Edmonds führt darin in die feinen Verzweigungen des sog. „Trolley-Problems“ ein. Es hat seinen Namen von einem fiktiven Dilemma: Eine Bahn rollt auf fünf Menschen zu, die gefesselt auf den Gleisen liegen. Ein Mann sieht das und bemerkt, dass er die Bahn mit einer Weiche umlenken könnte – aber sie würde dann auf dem anderen Gleis einen einzelnen Menschen überrollen, der dort gefesselt liegt. Fünf gegen einen. Ist das ethisch vertretbar?
Diese Grundversion ist im Laufe der Zeit vielfach modifiziert worden, unter anderem gibt es eine mit einem dicken Mann, den man zur Rettung der Gefesselten von einer Brücke stürzen könnte. Das hat dem Buch den Titel gegeben. Die Variationen der Entscheidungssituation lassen etwas besser erkennen, wie unsere ethische Intuition funktioniert, was wir wann für richtig und falsch halten. Ein wesentlicher Aspekt dabei ist, ob wir etwas geschehen lassen oder ob wir etwas aktiv herbeiführen – genau wie in den beiden Triage-Situationen.
Leben gegen Leben
Das Aufwiegen von Leben gegen Leben ist heikel. Das Bundesverfassungsgericht hat ein solches Aufwiegen 2006 in einem Urteil zum Luftsicherheitsgesetz für verfassungswidrig erklärt (1 BvR 357/05). Mit dem Film „Terror – Ihr Urteil“ wurde das das damit verbundene Dilemma später publikumswirksam mit einer Abstimmungsmöglichkeit in Szene gesetzt. Viele der Zuschauer waren für den Freispruch des fiktiven Piloten, der ein von Terroristen gekapertes Flugzeug mit 164 Passagieren abschoss, damit es nicht in die Münchner Allianz-Arena mit 70.000 Gästen gelenkt wird. 70.000 gegen 164. Ethisch vertretbar? Viele teilen vermutlich, was der Evangelist Johannes den Hohepriester Kajaphas sagen lässt: „Ihr bedenkt nicht, dass es besser für euch ist, wenn ein einziger Mensch für das Volk stirbt, als wenn das ganze Volk zugrunde geht“ (Joh 11,50). Und ist es nicht auch besser, wenn alte und kranke Menschen sterben, statt junge, oder solche, die noch leistungsfähig und nützlich sind? Dass an Covid-19 doch meist eh nur Alte und Kranke sterben, hört man jedenfalls oft, und auch den wertenden Unterton.
Kriterien: Befreiung aus dem ethischen Dilemma?
Der Deutsche Ethikrat hat sich in einer Stellungnahme am 27. März 2020 gegen solche Überlegungen ausgesprochen und die Gleichwertigkeit jeden Lebens betont. Er hat sich auch zur Frage geäußert, wie die Verantwortung für unvermeidbare Triage-Situationen geteilt werden soll: „Der Staat darf menschliches Leben nicht bewerten und deshalb auch nicht vorschreiben, welches Leben in einer Konfliktsituation zu retten ist.“ Die Entscheidung darüber solle aber auch nicht „einzelnen Ärztinnen und Ärzten aufgebürdet werden“, sondern die Fachgesellschaften sollten „Handlungsmaximen für den klinischen Ernstfall nach wohlüberlegten, begründeten und transparenten Kriterien“ formulieren. Vor allem aber sollten Triage-Situationen nach Möglichkeit präventiv vermieden werden – was wiederum andere ethische Dilemmata mit sich bringt, z.B. hinsichtlich der gesellschaftlichen Folgen von Infektionsschutzmaßnahmen.
Die Frage bleibt, was sind die „wohlüberlegten, begründeten und transparenten Kriterien“, nach denen man über das Leben anderer Menschen entscheiden soll, wenn man darüber entscheiden muss. Sollen sie von medizinischen Fachgesellschaften vorgegeben werden? Und würden uns solche Kriterien wirklich aus dem ethischen Dilemma befreien, könnten wir die Entscheidung damit an einen Triage-Algorithmus delegieren? David Edmonds stellt am Ende seines Buches fest, dass die Philosophen nach wie vor uneins seien. Seine persönliche Antwort: „Ich würde den dicken Mann nicht töten. Würden Sie es tun?“
Wem würden Sie den Beatmungsplatz geben? Und würden Sie einem alten kranken Mann das Gerät auch wieder wegnehmen, wenn eine junge Mutter es braucht?
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Zum Weiterlesen:
Blogbeitrag: Die Coronakrise, die Ethik und der Wert eines Menschenlebens
Deutscher Ethikrat (2020) Solidarität und Verantwortung in der Corona-Krise. Ad-hoc-Empfehlung. 27. März 2020.
Edmonds D (2015) Würden Sie den dicken Mann töten? Reclam, Frankfurt.
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