Das EBM-Netzwerk, bei dem ich auch Mitglied bin, ist eine hoch verdienstvolle Organisation, die sich um eine evidenzbasierte Medizin bemüht. Die Frage nach der Evidenz ist natürlich auch für die Präventionsmaßnahmen der Corona-Politik zu stellen, sowohl für die Impfung als auch für die NPIs, die „Nonpharmaceutical Interventions“, also z.B. Masken, Schließung von Kneipen oder Abstandregeln. Bei einzelnen NPIs steht es bekanntlich nicht zum Besten mit der Evidenz. Manches beruht nur auf Plausibilität, und bei manchem will man auch gar nicht wissen, wer sich das ausgedacht hat. So unstrittig angesichts der Zahlen in den Krankenhäusern und auf den Friedhöfen der Handlungsbedarf an sich ist: Mehr Evidenz für einzelne Maßnahmen der Corona-Politik ist zweifellos wünschenswert. Insofern war die kritische Stellungnahme des EBM-Netzwerks zur Corona-Politik vom September 2020 vom Grundsatz her in Ordnung, im Einzelnen gleichwohl problematisch und auch fehlerhaft. Dafür geriet sie zu Recht selbst in die Kritik. Intern habe ich auch damals Kritik an der Stellungnahme geübt. Das ist erst mal kein Grund zur Aufregung, Streit gehört zum wissenschaftlichen Geschäft wie zur Politik.
Jetzt hat sich der Vorsitzende des EBM-Netzwerks, Prof. Sönnichsen, aber in ein Umfeld begeben, das mehr als anrüchig ist. Er ist Mitglied eines “Außerparlamentarischen Corona Untersuchungsausschusses Austria (ACU-Austria)”, der mit den „Ärzten für Aufklärung“ in Deutschland zusammenarbeitet. Dieser „Außerparlamentarische Corona Untersuchungsausschuss Austria“ hat nun in österreichischen Zeitungen einen „Offenen Brief“ an die österreichische Bundesregierung und die österreichische Bevölkerung veröffentlicht, in dem Masken als nutzlos und gesundheitsschädlich bezeichnet werden und in dem von der Impfung als „Zwangsimpfung“ die Rede ist, die „nicht verantwortungsvoll geprüft“ worden sei. Die Medizinische Universität Wien, an der Sönnichsen lehrt, hat sich bereits öffentlich davon distanziert:
„Andreas Sönnichsen vom Zentrum für Public Health vertritt zum Thema „Corona-Infektion“ persönliche Ansichten und tätigt Aussagen, von denen sich die Medizinische Universität Wien bereits mehrfach ausdrücklich distanziert hat und sich auch weiterhin distanziert.
Dies bezieht sich auch auf Aktivitäten Sönnichsens im Rahmen von Vereinen oder Plattformen wie z.B. „ACU“.
Andreas Sönnichsen ist weder Experte auf dem Gebiet der Biologie, Diagnose oder Therapie von Viruserkrankungen noch Leiter einer Organisationseinheit oder „Vorstand“ an der Universität.
Wir möchten festhalten, dass es im Wissenschaftsbetrieb grundsätzlich der akademischen Freiheit entspricht, dass einzelne WissenschafterInnen persönliche Meinungen artikulieren.
Im Zusammenhang mit den Angaben und Äußerungen von Andreas Sönnichsen werden dienstrechtliche Schritte geprüft.“
Damit nicht gleich wieder der Sermon losgeht, man dürfe nichts mehr Kritisches sagen: Natürlich darf man kritische Fragen an den Nutzen von Masken stellen, oder auf mögliche noch nicht entdeckte Nebenwirkungen der Impfung hinweisen. Aber bei den Masken kann das nicht bedeuten, einseitig nur Studien zusammenzutragen, die den Nutzen bezweifeln, als gäbe keine anderen Studien, und die Unterstellung, bei den Impfstoffen würde nicht verantwortungsvoll geprüft, ist eine fahrlässige Verunsicherung der Bevölkerung, die eine informierte Entscheidung unter Abwägung von Nutzen und Risiken erschwert. Von einer „Zwangsimpfung“ zu sprechen, ist einfach nur Demagogie, auch wenn die Gefahr indirekter Impfzwänge selbstverständlich zu diskutieren ist. Die Debatte um „Privilegien“ für Geimpfte, das Pendant dazu, ist schon vollem Gange.
Ob man bei solchen Anlässen immer gleich mit dem Dienstrecht kommen muss, wie die MedUni Wien, sei einmal dahingestellt. Ich glaube, man sollte lieber das Gespräch mit Herrn Sönnichsen suchen. Aber das Anliegen der evidenzbasierten Medizin kann er mit seiner einseitigen Parteinahme aus meiner Sicht nicht mehr glaubhaft verkörpern. Er sollte vom Vorsitz des EBM-Netzwerks zurücktreten. Sonst trete ich aus.
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