Inzwischen gibt es in Deutschland ca. 2 Mio. gemeldete Coronafälle und mehr als 40.000 gemeldete Coronatote. Bisher hat der zweite Lockdown mit seinen schrittweisen Verschärfungen nicht zu einer nachhaltigen Verringerung der Infektionszahlen geführt. Eine besonders ansteckende Mutation B.1.1.7 sorgt für zusätzliche Beunruhigung. Wenn sie zu mehr Ansteckungen führt, führt sie voraussichtlich auch zu mehr Krankenhausfällen und Sterbefällen. In Großbritannien trägt sie zum starken Anstieg der Fälle bei.
Vor diesem Hintergrund hält die Politik fast ein wenig hilflos nach weiteren Handlungsmöglichkeiten Ausschau, bei gleichzeitig nicht sehr konsistenter Krisenkommunikation. Im Fernsehen geht es manchmal übergangslos von Berichten über Krankenhäuser am Limit weiter zu Berichten über die Bundesliga oder irgendein Skispringen: Krise oder nicht Krise?
Für Krise spricht, dass neuerdings eine Impfpflicht ins Gespräch gebracht wurde, nachdem sie so lange einhellig abgelehnt wurde. Keine allgemeine Impfpflicht soll es sein, aber eine für Pflegekräfte. Bei Pflegekräften sind Vorbehalte gegen die Corona-Impfung besonders ausgeprägt. Je nach Umfrage will sich derzeit bestenfalls die Hälfte, eher weniger, von ihnen impfen lassen. Gleichzeitig liegt in ihren Händen das Leben besonders gefährdeter Menschen.
Eine Impfpflicht, auch eine auf Pflegekräfte beschränkte, will gut bedacht sein. Derzeit ist noch nicht sicher, in welchem Maße die verfügbaren Impfstoffe nicht nur vor der Erkrankung Covid-19, sondern auch vor der Infektion durch SARS-CoV-2 schützen und vor allem, ob sie eine Übertragung des Virus verhindern. Daher ist die Impfung im Moment primär eigennützig. Ihre Fremdnützigkeit ist fraglich, zumindest was den Schutz Dritter vor Ansteckung angeht. Und zur Herdenimmunität kann die Durchimpfung des Pflegepersonals ohnehin kaum beitragen: Es geht um ca. 800.000 Personen in Deutschland, von denen sich ein erheblicher Teil ja durchaus freiwillig impfen lässt. Die Herdenimmunität liegt im mittleren zweistelligen Millionenbereich.
Fremdnützigkeit besteht natürlich mit Blick auf die Aufrechterhaltung der Funktionsfähigkeit der Pflege – wer geimpft ist, wird nur im Ausnahmefall krank. Impfen gegen Personalknappheit? Darf der Staat das verlangen?
Für die Allgemeinbevölkerung fordert bisher niemand eine Impfpflicht. Für Kinder sind die verfügbaren Impfstoffe bisher nicht einmal zugelassen. Eine Impfpflicht für Kinder zur Aufrechterhaltung des Schulbetriebs ist also derzeit keine Option, und wenn es demnächst Impfstoffe gibt, die auch für Kinder zugelassen sind, keine gute Option. Der Eigennutz für Kinder ist gering. Wenn die Impfstoffe auch die Übertragung halbwegs befriedigend verhindern, kommt wieder die Fremdnützigkeit ins Spiel. Dann nähert man sich etwas der Situation bei der Masernimpfpflicht an. Mit der Masernimpfpflicht hatte Spahn, wenn man so will, die Büchse der Pandora der schlecht begründeten Impfpflichten geöffnet. Eine schlechte Begründung muss man aber nicht wiederholen. Es gibt keinen Grund, die Masernimpfpflicht als Präzedenzfall für Corona zu nehmen. Und eine Impfpflicht für Erzieher und Lehrer? Was wäre das Ziel und würde das Ziel eine Impfpflicht rechtfertigen? Dito bei der Polizei, der Feuerwehr, Rettungsdiensten oder Ärzt/innen? Für all diese Gruppen wäre eine Impfung hochgradig sinnvoll. Aber sollte man sie dazu verpflichten?
Bedacht werden sollten bei alldem auch Reaktanzphänomene: Womöglich sinkt die Impfbereitschaft in der Gesamtbevölkerung, wenn für bestimmte Gruppen eine Impfpflicht eingeführt wird. Für manche Gruppen würde es sicher auch Anlass sein, noch stärker gegen „Verbote“ insgesamt mobil zu machen, also z.B. auch gegen die Maskenpflicht oder Ausgangsbeschränkungen. Auch wäre denkbar, dass wider den eigenen Willen geimpftes Personal dafür die Hygieneregeln nicht mehr so streng einhält. Und nicht zu vergessen: Wer soll die Impfpflicht durchsetzen, mit welchen Mitteln?
Wie bei allen präventiven Maßnahmen gilt es also auch hier, Nutzen und Risiken gegeneinander abzuwägen, alternative Handlungsmöglichkeiten zu prüfen, etwa zur Förderung der freiwilligen Impfbereitschaft, und darüber hinaus auch ethische Gesichtspunkte einer Impfpflicht zu berücksichtigen. Der bayerische Ministerpräsident Markus Söder hat bereits gefordert, der Ethikrat möge sich mit der Frage einer Impfpflicht für Pflegekräfte beschäftigen. Wird er das tun? Und welche Aspekte, neben den oben genannten, wären dann noch zu bedenken? Was spräche dafür, was dagegen?
Kommentare (84)