Das Amtsgericht Weimar hat mit Urteil vom 11.01.2021 – 6 OWi – 523 Js 202518/20 einen Bürger freigesprochen, der im Frühjahr 2020 gegen die Kontaktbeschränkungen in Thüringen verstoßen hatte. Zugleich erklärt das Gericht die Rechtsverordnung, die die Kontaktbeschränkungen vorgab, für verfassungswidrig.
Über ein Urteil eines Gerichts, das die Verhältnismäßigkeit von Infektionsschutzmaßnahmen verneint, müsste man nicht allzu viel Worte verlieren, das kommt schließlich ständig vor und die Gerichte sind u.a. auch genau dazu da, dem Staat bei seinen Maßnahmen kritisch auf die Finger zu sehen. Dass es bei den Infektionsschutzmaßnahmen auch eine Menge grundsätzlicher verfassungsrechtlicher Fragen gibt, kann man auf dem Juristenportal Verfassungsblog nachlesen.
Das Bemerkenswerte an dem Urteil des Weimarer Gerichts ist vielmehr der weitreichende Anspruch, die Verfassungswidrigkeit der ganzen Thüringer Coronapolitik festzustellen und die Begründung dazu. Die liest sich nämlich wie von den Querdenkern diktiert. Da wird z.B. unkritisch die These vom sinnlosen Lockdown aufgrund eines schon vorher rückläufigen R-Werts übernommen, ein inzwischen hinreichend ausdiskutiertes Thema, bei der Letalität wird auf die mutmaßlich zu niedrigen Werte von John Ioannidis Bezug genommen (die sich allerdings bei entsprechender Durchseuchung der Bevölkerung schon schlimm genug ausgewirkt hätten), der querdenkende Regensburger Psychologieprofessor Christof Kuhbandner wird mehrfach mit seinen unhaltbaren Telepolis-Veröffentlichungen zitiert, es wird wild herumspekuliert, dass Übersterblichkeit, soweit überhaupt vorhanden, eher durch die Maßnahmen als durch das Virus bedingt sei, bei den Suiziden wird ein Artikel der Berliner Zeitung zitiert, dem Feuerwehreinsätze in Berlin zugrunde liegen, statt die vollständigeren Polizeistatistiken zu befragen (die für den ersten Lockdown 2020 keinen Anstieg der Suizide zeigen), um dann ein apodiktisches Fazit zu ziehen:
„Nach dem Gesagten kann kein Zweifel daran bestehen, dass allein die Zahl der Todesfälle, die auf die Maßnahmen der Lockdown-Politik zurückzuführen sind, die Zahl der durch den Lockdown verhinderten Todesfälle um ein Vielfaches übersteigt.“
Und weiter:
„Bei der von der Landesregierung im Frühjahr (und jetzt erneut) verfolgten Politik des Lockdowns (…), handelt es sich um eine katastrophale politische Fehlentscheidung mit dramatischen Konsequenzen für nahezu alle Lebensbereiche der Menschen, für die Gesellschaft, für den Staat und für die Länder des Globalen Südens.“
Dass die Rechnung für die Infektionsschutzmaßnahmen noch nicht auf dem Tisch liegt, ist unstrittig. Dass die Rechtsverordnung in Thüringen „dramatische Konsequenzen für die Länder des Globalen Südens“ hat, ist juristischer Karneval, dass „kein Zweifel daran bestehen“ kann, dass der Lockdown mehr Todesfälle verursacht hat als das Virus, dürfte zumindest für Thüringen eine haltlose Behauptung sein und dass sich das Urteil nicht unwesentlich auf Social-Media-Artikel von Christof Kuhbandner stützt, könnte Rechtsgeschichte schreiben. Vielleicht hätte der Richter vorher etwas Nachhilfe in Epidemiologie nehmen sollen, und darin, was es bedeutet, aus dem einseitigen Heranziehen von Quellen die Schlussfolgerung „kein Zweifel“ zu ziehen.
Da erlaube ich mir die Frage, ob das Amtsgericht die Sache mit der blinden Justitia vielleicht falsch verstanden hat, und die Spekulation, ob der Tag der Urteilsverkündung womöglich nur das Mindesthaltbarkeitsdatum des Urteils war.
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