Dass SARS-CoV-2 nicht über Wildtiere auf einem Markt von Wuhan, sondern aus einem Labor stammt, womöglich durch „Gain of funktion“-Experimente genverändert und erst richtig menschengängig gemacht, ist Stoff für Verschwörungstheorien. Man kann dazu verschiedene Beilagen servieren, z.B. dass die USA Laborprojekte in Wuhan finanziert haben, weil manche Experimente in den USA gar nicht zulässig oder zumindest ethisch hochgradig umstritten wären, oder dass die Chinesen frühzeitig Bescheid wussten, aber den Unfall vertuschten.
Trump hat die Laborthese immer wieder einmal ins Spiel gebracht, von diversen Wissenschaftlern wurde sie für unwahrscheinlich oder wahrscheinlich eingestuft. Eine WHO-Untersuchungskommission hatte die These im Frühjahr als „extrem unwahrscheinlich“ bezeichnet. Der Hamburger Physiker Roland Wiesendanger, auf seinem Fachgebiet eine Kapazität, in der Virologie so fachfremd wie ich, hat ein Konvolut an Material zusammengetragen, das für die Laborthese sprechen soll, aber heftige Kritik ausgelöst hatte. Vor kurzem hat es dann Peter Gøtzsche als „highly likely“ bezeichnet, dass das Virus aus dem Labor entkommen sei, und, die Frage gewissermaßen ein Stück weit aus dem Reich der Verschwörungstheorien zurückholend, hat eine Gruppe von Fachleuten in einem Science-Letter eine erneute und ergebnisoffene Untersuchung gefordert. Die WELT, die seit einiger Zeit ein bisschen querdenkt, befeuert gerade ebenfalls die Laborthese – unter Berufung auf Geheimdienstberichte und somit wieder mit etwas mehr verschwörungstheoretischem Beigeschmack versehen.
Ich kann dazu nichts beitragen, mir fehlt dazu jede Fachkompetenz. Mir geht es um die Art, wie hier über Wahrscheinlichkeiten gesprochen wird. Keine Angst, hier kommt keine Einführung in die mathematische Wahrscheinlichkeitstheorie mit sigma-Algebra und Borel-Mengen. Es geht anschaulicher. In seinem Buch „Risiko“ macht Gerd Gigerenzer auf die Unterscheidung zwischen „Risiko“ und „Ungewissheit“ aufmerksam. Die Berechnung von Wahrscheinlichkeiten setze Gewissheit der Spielregeln voraus. Er erläutert es an dem berühmten Ziegenproblem, das allerdings selbst alles andere als trivial ist und seinerzeit auch Mathematiker die Contenance hat verlieren lassen.
Das Ziegenproblem beschreibt eine Aufgabe aus einer Show. Hinter drei Türen sind zwei Ziegen und ein Auto, das man gewinnen kann, wenn man die richtige Tür rät. Die Wahrscheinlichkeit, dass es hinter der Tür ist, die man zufällig wählt, ist 1/3. Aber jetzt kommt der nichttriviale Teil der Geschichte. Nachdem man eine Tür gewählt hat, öffnet der Moderator eine Tür, hinter der eine Ziege ist, und fragt, ob man seine Wahl ändern wolle. Intuitiv sagen hier die meisten Menschen, was soll sich geändert haben, vorher war es gleichwahrscheinlich mit 1/3, dass ich die richtige Tür habe, jetzt steht es eben Fifty-Fifty. Darin liegt aber ein Denkfehler, auf den die angeblich klügste Frau der Welt, Marilyn vos Savant, hinwies, wie gesagt, unter ungläubigen Kommentaren auch seitens gelernter Mathematiker: Wechseln lohnt sich. Durch das Öffnen der Tür mit einer Ziege gibt der Moderator eine wichtige Information. Die Wahrscheinlichkeit, dass das Auto hinter einer der beiden Türen ist, die man nicht gewählt hat, war 2/3. Der Moderator hat nun gezielt (!) eine der beiden Ziegentüren aus dem Spiel genommen, so dass sich die 2/3-Chance jetzt auf die eine andere Türe konzentriert. Also Wechseln. Gerd Gigerenzer schlägt vor, sich einfach die drei Türen mit den beiden Ziegen und dem Auto vorzustellen und dass drei Personen je eine Tür wählen. Für zwei der Personen wäre das Wechseln ersichtlich gewinnbringend. Also Wechseln. Wer mehr dazu wissen will: Gero von Randow hat zum Drumrum ein ganzes Büchlein unter dem Titel „Das Ziegenproblem“ geschrieben und das Internet ist voll von Erläuterungen.
Gigerenzer weist nun aber darauf hin, dass diese Risiko-Berechnung davon abhängt, dass der Moderator immer eine Ziegentür öffnet und nicht nur dann, wenn er Lust hat. Damit käme nämlich eine Ungewissheit ins Spiel, eine Abhängigkeit von seinen Launen, die man nicht mehr mit den 1/3-Ausgangswahrscheinlichkeiten kalkulieren kann. Dann kann man nur noch seinem Gefühl folgen, was der Moderator vorhat. Gigerenzer sagt, wenn der Moderator böse ist, kann er ja die Wahl z.B. nur anbieten, falls man selbst die richtige Tür gewählt hat, so dass man beim Wechseln immer verlieren würde. Oder er könnte die Wahl anderweitig davon abhängig machen, welche Tür man gewählt hat – das kalkulierbare Wechselrisiko löst sich in Ungewissheit auf.
Das ist der Punkt, auf den ich hinauswill. Von welcher Art „Wahrscheinlichkeit“ sprechen die WHO („extrem unwahrscheinlich“) oder Peter Gøtzsche („sehr wahrscheinlich“)? Steht dahinter eine statistische Betrachtung oder ein Gefühl? Und soll man hier seinem Gefühl folgen, oder gibt man damit nur seinen Vorurteilen freie Bahn? Ist das ein Fall, bei dem Intuition weiterhilft, was Gerd Gigerenzer für Ungewissheits-Situationen annimmt, oder einer, bei dem man eher auf der Hut vor seinen Heuristiken sein sollte, wie vielleicht Daniel Kahneman argumentieren würde? Wie subjektiv dürfen „Wahrscheinlichkeiten“ sein, damit man sie noch „Wahrscheinlichkeiten“ nennen darf und nicht „Spekulation“ sagen muss? Wo verläuft die Grenze zwischen Kolmogoroff und Nostradamus?
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