Es ist nur zu verständlich: Möglichst viele Menschen sollen möglichst schnell durch eine Impfung gegen Corona geschützt werden. Die Infektionszahlen steigen wieder, mitten im Sommer, entgegen aller Hoffnungen auf eine saisonale Pandemiepause. In den Niederlanden kann man sehen, welche Wucht die Delta-Variante entfalten kann. Innerhalb von gerade einmal zwei Wochen sind die täglichen Infektionszahlen von ca. 500 auf fast 10.000 explodiert:
Bevölkerungsmedizinisch spricht also viel dafür, die Impfkampagnen mit allen Mitteln zu forcieren. Aber trotzdem darf man die individualmedizinischen Abwägungen dabei nicht aus dem Auge verlieren. Diesen Balanceakt versucht die STIKO, die Ständige Impfkommission am Robert Koch-Institut. Sie hat bisher keine allgemeine Empfehlung zur Impfung von Kindern ausgesprochen, weil ihr die Daten dazu fehlen, dass eine Impfung auch für gesunde Kinder mehr Vorteile bietet als wenn sie nicht geimpft werden. Bei Kindern mit Vorerkrankungen liegt der Nutzen auf der Hand, andere Kinder können sich, so die STIKO, nach ärztlicher Beratung auch impfen lassen. Die EMA, die europäische Arzneimittelbehörde, hat schließlich den BioNTech-Impfstoff ab 12 Jahren Ende Mai zugelassen.
Die Politik, Markus Söder ebenso wie Saskia Esken, fordert nun angesichts der steigenden Infektionszahlen von der STIKO, sie solle die Impfung für alle Kinder empfehlen. Vermutlich wird die STIKO das in absehbarer Zeit tun, die Datenlage verdichtet sich in diese Richtung. Aber solange die STIKO hier zuviel Unsicherheit sieht, tut sie gut daran, an ihrer Zurückhaltung festzuhalten. Das verlangt ganz einfach schon ihre Geschäftsordnung:
„Die Kommission gibt ihre Empfehlungen zur Durchführung von Schutzimpfungen und zur Durchführung anderer Maßnahmen der spezifischen Prophylaxe übertragbarer Krankheiten nach dem Stand der Wissenschaft.“
Die STIKO hat eine Vergangenheit, in der das nicht selbstverständlich war und manche ihrer Mitglieder ungute und intransparente Verbindungen zur Pharmaindustrie hatten. Sie hat sich in den letzten 10 Jahren in dieser Hinsicht sehr positiv entwickelt und niemandem wäre geholfen, wenn die STIKO künftig nun Mandarine der Macht organisieren würde.
Wie gesagt, dass sich die Politik wissenschaftliche Unterstützung für ihre Ziele wünscht, ist nachvollziehbar. Aber die Forderung, die STIKO möge sich über ihre Bedenken hinwegsetzen, ist falsch. Ganz pragmatisch gedacht: Das Ergebnis wäre ein Vertrauensverlust in ihre Empfehlungen. Vertrauen in die öffentlichen Institutionen ist aber, das zeigen die COSMO-Erhebungen, ein ganz wesentliches Element, damit orientierungssuchende Menschen Mitteilungen und Informationen dieser Institutionen für eine informierte Entscheidung nutzen können, statt sie reflektorisch als manipulative Beeinflussung zurückzuweisen.
Die katastrophalen Folgen des Hochwassers in Rheinland-Pfalz, Nordrhein-Westfalen, Belgien und den Niederlanden und die Mutmaßungen eines Zusammenhangs mit dem Klimawandel zeigen, dass die Politik auch in Zukunft eine gute, unabhängige wissenschaftliche Beratung wertschätzen sollte. Auch, wenn das nicht unmittelbar ihre Entscheidungen unterstützt. Die Politik muss ihre Entscheidungen politisch treffen. Dabei soll sie zur Kenntnis nehmen, was die Wissenschaft sagt, aber sie soll nicht der Wissenschaft sagen, was sie zur Kenntnis nehmen will. Hier gilt in Bezug auf die Wissenschaft nicht anderes wie in Bezug auf die Rechtsprechung. Und das ist eine Jedermanns-Perspektive: Auch ich will nicht, dass die Wissenschaft zur Magd politischer oder wirtschaftlicher Interessen wird, mehr, als sie es ohnehin ist. Sie soll sagen, was ist – so gut sie es kann. Lyssenko ist nicht der Patron einer guten wissenschaftlichen Beratung der Politik und der Öffentlichkeit.
Kommentare (48)