Das Verhältnis zwischen Individuum und Gemeinschaft bzw. Gesellschaft beschäftigt nachdenkliche Menschen seit Jahrhunderten. Es ist eines der Grundprobleme der politischen Philosophie und der daran angedockten Wissenschaften wie der Soziologie oder der Sozialpsychologie. Und es wird immer neu verhandelt, seit wir ewige, weil gottgegebene Normen für unsere Lebensführung nicht mehr als solche anerkennen und säkulare kollektivistische Ideologien ebenso zu Recht ablehnen.
Die Philosophie mag das als never ending story genießen. Im Alltag ist der Sache aber nicht zu entkommen. Die Gesellschaft und ihre Institutionen steuern unvermeidlich immer das Verhalten der Menschen, so wie umgekehrt die Menschen ihre kollektiven Repräsentanten formen und lenken. Ob über Sitten und Gebräuche, über Gesetze oder Anreize: Wir sind umstellt von Verhaltensnormen. Sie sind nicht in Stein gemeißelt und verändern sich im Lauf der Zeit. So wie auch wir uns verändern, unsere Vorstellungen vom Zusammenleben und von der Rolle des Staates, der Unternehmen oder anderer Institutionen.
In der Zeitschrift „Gesundheitswesen“ ist nun online first ein Artikel von Mathias Krisam und Eva Kuhn erschienen, der ein Modell der Steuerung des Gesundheitsverhaltens vorstellt: „Das AEIOU-Modell: Gesundheitsverhalten mit Erkenntnissen der Verhaltenswissenschaften effektiv in der Praxis steuern“. Es geht einmal mehr um den Nudging-Ansatz. Natürlich betonen Autor und Autorin, dass man eine Entscheidung gegen das Gesollte nicht unnötig erschweren dürfe. Darauf haben auch schon Richard Thaler und Cass Sunstein in ihrem Buch „Nudge“ hingewiesen: Es gehe lediglich darum, die Entscheidungsarchitektur so zu verändern, dass das Gesollte leichter zum Gewollten wird.
Das ist erst einmal nicht verwerflich und hat im Public Health-Bereich eine lange Tradition. „Make the healthy choice the easy choice“ hatte die WHO einst die Zielrichtung einer modernen Strategie zur Gesundheitsförderung formuliert. Selbstverständlich, warum sollte man gesundheitsförderlichem Verhalten auch Steine in den Weg legen. Aber wenn es darum geht, dass die Menschen ihr Verhalten ändern sollen, weil Fachleute oder die Politik das möchten, wären die Gesundheitswissenschaften doch aufgerufen, das Verhältnis zwischen kollektiven Zielen und individueller Autonomie etwas genauer zu beleuchten. Der pflichtschuldige Hinweis, dass eine Entscheidung gegen das Gesollte möglich bleiben müsse, leistet das nicht. Er soll wohl auch eher dem Vorwurf der plumpen sozialtechnologischen Manipulation den Wind aus den Segeln nehmen.
Schon die Begrifflichkeit „Steuerung“ des Verhaltens klingt nicht nach Unterstützung von Autonomie – einem wichtigen Prinzip der Public Health-Ethik. Besonders virulent ist die Leerstelle, wie das Verhältnis zwischen Individuum und Gemeinschaft in Sachen Gesundheit adäquat zu fassen ist, in der Coronapolitik geworden. Was darf der Staat in einer liberalen Gesellschaft seinen Bürger/innen zumuten, also dem Volk, von dem alle Staatsgewalt ausgeht? Und in wessen Interesse darf er ihnen etwas zumuten? In der September-Ausgabe der Blätter für deutsche und internationale Politik hat Jürgen Habermas versucht, das mit Blick auf Einschränkungen der Freiheit, um Leben zu retten, auszuloten. Habermas kommt zu dem Fazit, dass der Staat in einer Notstandssituation Solidarität auch durch Zwang einfordern darf. Habermas entfaltet dazu eine anspruchsvolle Argumentation, die man nachlesen sollte, bevor man darauf antwortet, weil man meint zu wissen, was er meint.
Da, wo Zwang legitim ist, sei es in der Straßenverkehrsordnung oder bei den Rauchverboten im öffentlichen Raum, ist die Frage des Verhältnisses von kollektiven und individuellen Zielen pragmatisch erst einmal – auf Zeit – beantwortet. Aber wie ist es da, wo einerseits frei entschieden werden soll, z.B. ob man sich gegen Corona impfen lässt, und andererseits doch nachvollziehbare gesellschaftliche Ziele erreicht werden sollen, z.B. eine hohe Impfquote?
Stellschrauben sind hier gute Informationen und das Vertrauen, das die Menschen in die Empfehlungen von Behörden haben. Der schwedische „Staatsepidemiologe“ Anders Tegnell hat das vergangenen Freitag beim Europäischen Gesundheitskongress in München ausdrücklich betont: Es gab zwar auch in Schweden nicht wenige Einschränkungen, aber in manchen Punkten konnte man auf Verbote verzichten, weil die Schweden behördlichen Empfehlungen in hohem Maße vertrauen. Darüber könnten übrigens die Querdenker als Misstrauensgemeinschaft einmal nachdenken. Vertrauen ist ein soziales Kapital, von dem alle profitieren. Berechtigte Kritik stärkt es, Verschwörungstheorien schwächen es.
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