Das Verhältnis zwischen Individuum und Gemeinschaft bzw. Gesellschaft beschäftigt nachdenkliche Menschen seit Jahrhunderten. Es ist eines der Grundprobleme der politischen Philosophie und der daran angedockten Wissenschaften wie der Soziologie oder der Sozialpsychologie. Und es wird immer neu verhandelt, seit wir ewige, weil gottgegebene Normen für unsere Lebensführung nicht mehr als solche anerkennen und säkulare kollektivistische Ideologien ebenso zu Recht ablehnen.

Die Philosophie mag das als never ending story genießen. Im Alltag ist der Sache aber nicht zu entkommen. Die Gesellschaft und ihre Institutionen steuern unvermeidlich immer das Verhalten der Menschen, so wie umgekehrt die Menschen ihre kollektiven Repräsentanten formen und lenken. Ob über Sitten und Gebräuche, über Gesetze oder Anreize: Wir sind umstellt von Verhaltensnormen. Sie sind nicht in Stein gemeißelt und verändern sich im Lauf der Zeit. So wie auch wir uns verändern, unsere Vorstellungen vom Zusammenleben und von der Rolle des Staates, der Unternehmen oder anderer Institutionen.

In der Zeitschrift „Gesundheitswesen“ ist nun online first ein Artikel von Mathias Krisam und Eva Kuhn erschienen, der ein Modell der Steuerung des Gesundheitsverhaltens vorstellt: „Das AEIOU-Modell: Gesundheitsverhalten mit Erkenntnissen der Verhaltenswissenschaften effektiv in der Praxis steuern“. Es geht einmal mehr um den Nudging-Ansatz. Natürlich betonen Autor und Autorin, dass man eine Entscheidung gegen das Gesollte nicht unnötig erschweren dürfe. Darauf haben auch schon Richard Thaler und Cass Sunstein in ihrem Buch „Nudge“ hingewiesen: Es gehe lediglich darum, die Entscheidungsarchitektur so zu verändern, dass das Gesollte leichter zum Gewollten wird.

Das ist erst einmal nicht verwerflich und hat im Public Health-Bereich eine lange Tradition. „Make the healthy choice the easy choice“ hatte die WHO einst die Zielrichtung einer modernen Strategie zur Gesundheitsförderung formuliert. Selbstverständlich, warum sollte man gesundheitsförderlichem Verhalten auch Steine in den Weg legen. Aber wenn es darum geht, dass die Menschen ihr Verhalten ändern sollen, weil Fachleute oder die Politik das möchten, wären die Gesundheitswissenschaften doch aufgerufen, das Verhältnis zwischen kollektiven Zielen und individueller Autonomie etwas genauer zu beleuchten. Der pflichtschuldige Hinweis, dass eine Entscheidung gegen das Gesollte möglich bleiben müsse, leistet das nicht. Er soll wohl auch eher dem Vorwurf der plumpen sozialtechnologischen Manipulation den Wind aus den Segeln nehmen.

Schon die Begrifflichkeit „Steuerung“ des Verhaltens klingt nicht nach Unterstützung von Autonomie – einem wichtigen Prinzip der Public Health-Ethik. Besonders virulent ist die Leerstelle, wie das Verhältnis zwischen Individuum und Gemeinschaft in Sachen Gesundheit adäquat zu fassen ist, in der Coronapolitik geworden. Was darf der Staat in einer liberalen Gesellschaft seinen Bürger/innen zumuten, also dem Volk, von dem alle Staatsgewalt ausgeht? Und in wessen Interesse darf er ihnen etwas zumuten? In der September-Ausgabe der Blätter für deutsche und internationale Politik hat Jürgen Habermas versucht, das mit Blick auf Einschränkungen der Freiheit, um Leben zu retten, auszuloten. Habermas kommt zu dem Fazit, dass der Staat in einer Notstandssituation Solidarität auch durch Zwang einfordern darf. Habermas entfaltet dazu eine anspruchsvolle Argumentation, die man nachlesen sollte, bevor man darauf antwortet, weil man meint zu wissen, was er meint.

Da, wo Zwang legitim ist, sei es in der Straßenverkehrsordnung oder bei den Rauchverboten im öffentlichen Raum, ist die Frage des Verhältnisses von kollektiven und individuellen Zielen pragmatisch erst einmal – auf Zeit – beantwortet. Aber wie ist es da, wo einerseits frei entschieden werden soll, z.B. ob man sich gegen Corona impfen lässt, und andererseits doch nachvollziehbare gesellschaftliche Ziele erreicht werden sollen, z.B. eine hohe Impfquote?

Stellschrauben sind hier gute Informationen und das Vertrauen, das die Menschen in die Empfehlungen von Behörden haben. Der schwedische „Staatsepidemiologe“ Anders Tegnell hat das vergangenen Freitag beim Europäischen Gesundheitskongress in München ausdrücklich betont: Es gab zwar auch in Schweden nicht wenige Einschränkungen, aber in manchen Punkten konnte man auf Verbote verzichten, weil die Schweden behördlichen Empfehlungen in hohem Maße vertrauen. Darüber könnten übrigens die Querdenker als Misstrauensgemeinschaft einmal nachdenken. Vertrauen ist ein soziales Kapital, von dem alle profitieren. Berechtigte Kritik stärkt es, Verschwörungstheorien schwächen es.

Sozialtechnologische Zugriffe auf das Mindset der Bürger/innen schwächen es auch. Das „AEIOU-Modell“ will Gesundheitsverhalten effizient steuern. Vertrauenserweckend ist das nicht. Es weist den Steuernden die aktive Subjektrolle zu, die Bürger/innen kommen nur als passive Objekte vor. Ihre Ziele und Motive werden, über die oben angesprochene Exkulpationsformel hinaus, nicht weiter thematisiert. Implizit lassen die Empfehlungen, die der Artikel ausspricht, zudem ein heikles Menschenbild erkennen: Man solle in der Gesundheitskommunikation eine einfache Sprache pflegen, kurz- statt langfristige Vorteile einer Verhaltensänderung hervorheben, darauf hinweisen, dass andere es auch so machen usw. Das ist alles sicher nicht ganz falsch, aber vor meinem inneren Auge taucht da als Objekt der Verhaltenssteuerung ein geistig etwas schlichter, im Marshmallow-Test nicht zum Belohnungsaufschub fähiger und sozialkonformistischer Mensch auf.

Es mag sein, dass das „AEIOU-Modell“ effizient ist. Empirische Befunde gäbe es noch nicht, heißt es in dem Artikel. Aber ist Effizienz im Umgang mit Menschen überhaupt der Punkt, auf den es ankommt? Effizienz kennt man als Marketing-Buzzword. Effiziente Problemlösungen lassen sich gut verkaufen. Aber wessen Probleme werden mit dem „AEIOU-Modell“ effizient gelöst? Wer möchte gerne Objekt einer effizienten Verhaltenssteuerung sein? Immerhin hat Mathias Krisam bei der Erklärung der Interessenkonflikte offengelegt, dass er neben seiner Tätigkeit am Institut für Geschichte der Medizin und Ethik in der Medizin der Charité auch Geschäftsführer einer Consulting-Firma ist, „die verschiedene Firmen der Gesundheitswirtschaft in Bezug auf Verhaltenswissenschaften berät“. Ihnen wird er wohl effiziente Problemlösungen anbieten. Sollte man den Artikel somit vielleicht eher als product placement denn als wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Verhältnis zwischen Individuum und Gemeinschaft einordnen?

Kommentare (28)

  1. #1 Tim
    3. Oktober 2021

    Habermas kommt zu dem Fazit, dass der Staat in einer Notstandssituation Solidarität auch durch Zwang einfordern darf.

    “Auch”? Ich habe den Habermas-Text nicht gelesen, möchte aber anmerken, dass der moderne Sozialstaat Solidarität fast überall durch Zwang einfordert. Wenn heute in der öffentlichen Debatte irgendwo “Solidarität” erwähnt wird, ist damit nicht Solidarität gemeint, sondern meistens erzwungene finanzielle Beiträge. Der noble Begriff der Solidarität ist damit weitgehend zu einer entkernten Metapher geworden. Der Sozialstaats-Stakeholder kann sich nicht mehr solidarisch verhalten, er muss es. Oder um es mit Kant zu sagen: Sozialstaats-Stakeholder verhalten sich bloß solidargemäß.

    Bevor jetzt gleich wütende Proteste kommen: Nein, ich meine damit nicht, dass ich den ganzen Sozialstaat abschaffen möchte. Ich meine damit, der der moderne Sozialstaat Solidarität fast überall durch Zwang einfordert. 🙂

  2. #2 Alisier
    3. Oktober 2021

    Schönes, wichtiges Thema, guter Post.
    Und der erste, der den dankenswerterweise verlinkten Text von Habermas nicht gelesen hat und seinen Senf trotzdem dazuzugeben müssen meint ist auch schon da 😉
    Ich hoffe, eine gute Diskussion läuft an. Ab Mittwoch kann ich mich dann hoffentlich beteiligen.

  3. #3 Tim
    3. Oktober 2021

    @ Alisier

    Ich finde Habermas weder besonders brillant noch besonders lesenswert noch besonders relevant, habe seinen Text nun aber ganz solidarisch doch gelesen. Und festgestellt, dass ihn die alltägliche Zwangssolidarität im Sozialstaat überhaupt nicht juckt. Ich kann nicht behaupten, dass mich das sonderlich überrascht. Offenbar ist ihm – wie so vielen anderen – nicht einmal egal, ob solidarisch oder bloß solidargemäß gehandelt wird. Die Unterscheidung existiert bei ihm nicht einmal.

    • #4 Joseph Kuhn
      4. Oktober 2021

      @ Tim:

      “Ich finde Habermas weder besonders brillant noch besonders lesenswert noch besonders relevant”

      Man muss ihn nicht “besonders brillant” finden, Heiligsprechungen gehören eher in die Kirche als in die Philosophie, aber wer ihm die Relevanz abspricht, verwechselt Chuzpe mit Ignoranz. Selbst seine konservativen Gegner würden nicht bestreiten, dass er eine der wichtigsten gesellschaftskritischen Stimmen des letzten halben Jahrhunderts in Deutschland ist.

      “dass ihn die alltägliche Zwangssolidarität im Sozialstaat überhaupt nicht juckt”

      Eine mutige Interpretation. Ich fürchte, sie ist falsch. In seinem Text geht es um die Abwägung von Leben retten und Freiheit einschränken, wenn Sie so wollen, um die Frage der “Menschenbewirtschaftung”, und zwar in einer Notstandslage, nicht um die Legimität zum Erheben von Steuern oder Sozialbeiträgen nach ausgiebiger parlamentarischer Debatte und vielfältig ausgehandelten Interessenausgleichen.

  4. #5 Alisier
    3. Oktober 2021

    Tja…….
    Es ist nicht immer so, dass man etwas wirklich verstanden hat, wenn man es verstanden zu haben glaubt.
    Und wer knietief in Vorurteilen watet, und sowieso schon alles weiß, wird kaum zu relevanten Erkenntnissen gelangen können.

  5. #6 Tim
    3. Oktober 2021

    @ Alisier

    Lass uns doch auf Beleidigungen und Vorhaltungen verzichten und zur Kernfrage kommen: Findest Du es solidarisch, wenn jemand etwas tut, weil er es tun muss? Handelt diese Person Deiner Meinung nach solidarisch?

  6. #7 PDP10
    3. Oktober 2021

    @Tim:

    Ich dagegen verstehe nicht, wie du ableitest, dass Freiwilligkeit eine notwendige Voraussetzung für solidarisches Verhalten ist (ein Muss statt ein Kann). Möglich, dass da zwei unterschiedliche Bedeutungen von “Solidarität” miteinander vermischt werden?

    Die Rentenversicherung oder die Krankenversicherung in Deutschland funktioniert nach dem Solidaritätsprinzip. Alle die einzahlen zahlen für alle Leistungen. Egal ob sie sie selbst in Anspruch nehmen, oder jemand anderes. Dieses Solidaritätsprinzip scheint aber nicht zu meinen, was du unter “solidarisch” verstehst. Das wäre zB. im persönlichen Bereich Hilfe, die man jemand anbietet ohne eine Gegenleistung. Das (ohne Gegenleistung) ist aber mit der ersten Bedeutung gerade nicht gemeint.

    (Nein, ich habe den Text von Habermas noch nicht gelesen. Mache ich aber gleich.)

  7. #8 Tim
    3. Oktober 2021

    @ PDP10

    Nicht ganz. Ich finde, jemand handelt solidarisch, wenn er andere aus freien Stücken unterstützt. Wenn ich jemanden nur unterstütze, weil ich ihn unterstützen muss, ist das nicht solidarisch, sondern eher das, was man im Englischen “compliant” nennt (kenne keine passende deutsche Übersetzung).

    Das Solidaritätsprinzip in Sozialstaaten wird i.d.R. mit Zwang durchgesetzt. Solidarität in meinem Sinn kann aber durchaus mit der Erwartung einer Gegenleistung verbunden sein. Wenn man sich z.B. freiwillig für die Teilnahme an der deutschen Kranken- und Rentenversicherung entscheiden könnte, wäre das eine bewusste Entscheidung für das Solidarsystem und damit solidarisch.

    Es ist also alles eine Frage der Definition des Begriffs “Solidarität”. Wikipedia bezeichnet mit “solidarisch” eine “… zumeist in einem ethisch-politischen Zusammenhang benannte Haltung der Verbundenheit mit – und Unterstützung von – Ideen, Aktivitäten und Zielen anderer. Sie drückt ferner den Zusammenhalt zwischen gleichgesinnten oder gleichgestellten Individuen und Gruppen und den Einsatz für gemeinsame Werte aus”. Wikipedia ist nicht die Weisheit der Welt, aber mit dieser Definition kann ich leben. Von Zwang ist hier keine Rede.

  8. #10 PDP10
    4. Oktober 2021

    @Joseph Kuhn:

    Kompliment für den letzten Absatz deines Posts. Präzise Zusammenfassung auf den Punkt gebracht.

    Es mag sein, dass das „AEIOU-Modell“ effizient ist.

    Eine Frage, die noch zu beantworten wäre, denn:

    Empirische Befunde gäbe es noch nicht, heißt es in dem Artikel.

    Jup. Jackpot.

    Aber ist Effizienz im Umgang mit Menschen überhaupt der Punkt, auf den es ankommt?

    Das ist der Punkt des Knacks IMHO.

    Effizienz klingt gut. Aber wo führt das hin? Meiner bescheidenen Meinung nach, sollte man solche Gedanken immer zu Ende denken.

    Um sich einen Eindruck davon zu verschaffen, wie es sich so ausgeht, wenn die Effizienz der Resource Mensch durch Algorithmen und KI auf die Spitze getrieben wird, könnte man sich mal die Berichte von Leuten anhören, die als Lagerarbeiter bei Amazon, als Fahrer für Uber, als Fahrer für Lieferdienste, die wir gerade alle so lieben etc. pp.

    Das hat zwar mit dem eigentlichen Themas des Artikels nicht direkt was zu tun. Aber was, wenn wir das zuende Denken und uns eine ganze Gesellschaft voller Individuen vorstellen, die für ihre Gesundheit und alle andere Vorsorge gegen die Fairnisse des Lebens vollständig selbst verantwortlich sind? Gesteuert von Algorithmen und einem Belohnungssystem wie es gerade in China etabliert wird?

    Jeder Schritt wird uns vorgeschrieben, damit wir ja keine zuviel gehen aber auch keinen zuwenig, damit wir optimal funktionieren? Und das möglichst lange, weil es geht ja auch um unsere Gesundheit und so, nicht wahr?

    Für wen eigentlich optimal?

  9. #11 PDP10
    4. Oktober 2021

    @Tim:

    Das Solidaritätsprinzip in Sozialstaaten wird i.d.R. mit Zwang durchgesetzt.

    Ist das so?

    Dieses Solidarprinzip ist ja nicht vom Himmel gefallen. Joseph Kuhn erklärt das ja im ersten Absatz in aller Kürze, in dem er das Spannungsfeld zwischen Freiwilligkeit und Zwang in Demokratien kurz anspricht.
    Unsere Eltern und Großeltern habe sich und dieser Gesellschaft die Verfassung gegeben, mit der wir jetzt leben und später auch den Sozialstaat mit seinem Solidarsystem. Diese Solidarität haben die sich freiwillig ausgesucht. Für das Individuum, dass später in diese Gesellschaft hinein geboren ist, mag das subjektiv wie “Zwang” aussehen. Ist es aber nicht. Mit ebensolchem demokratischen Handeln könnte man dieses Solidarprinzip auch wieder abschaffen.

    Fragt sich allerdings, ob man damit demokratische Mehrheiten gewinnen würde. Es gibt sicher viele, die das Solidarprinzip beispielsweise in der Rentenversicherung nicht einsehen und das als Zwang empfinden. Es gibt aber mit Sicherheit noch mehr Bürger, die das sehr wohl so haben wollen und unterstützen.

    Und jetzt?

    Ist das jetzt freiwillige Solidarität oder nicht?

  10. #12 PDP10
    4. Oktober 2021

    @Tim:

    BTW:

    Wenn man sich z.B. freiwillig für die Teilnahme an der deutschen Kranken- und Rentenversicherung entscheiden könnte, wäre das eine bewusste Entscheidung für das Solidarsystem und damit solidarisch.

    Kannst du ja. Indem du dich beispielsweise selbständig machst. Oder als Erbe von deinem Vermögen lebst (also nicht deinem, sondern dem was du halt anstrengungslos bekommen hast, um genau zu sein). Oder, oder …

    Dann kannst du dich freiwillig Krankenversichern – in einer privaten Krankenversicherung zB. Und in die Renten- und Arbeitslosenversicherung musst du dann auch nichts mehr einzahlen. Die Gesundheitsversorgung und die Grundrente für Säufer, Junkies, Nutten und sonstige Totalversager brauchst du dann nicht mehr solidarisch mitfinanzieren.

    (Falls jemand fragt: Das war Sarkasmus.)

  11. #13 Tim
    4. Oktober 2021

    @ PDP10

    Unsere Eltern und Großeltern habe sich und dieser Gesellschaft die Verfassung gegeben, mit der wir jetzt leben und später auch den Sozialstaat mit seinem Solidarsystem.

    Ist das so? Weder meine Eltern noch meine Großeltern waren Mitglied des Parlamentarischen Rats. 🙂

    Ich habe den Eindruck, wir brauchen über das Thema nicht weiter zu diskutieren, da wir offenbar sehr unterschiedliche Perspektiven auf die Realität haben. Ist ja auch nicht unbedingt das Hauptthema von Joseph Kuhns Artikel. 🙂

  12. #14 libertador
    4. Oktober 2021

    Effizienz:

    Die Frage der Effizienz lässt sich auch positiver einordnen. Wenn es um öffentliche Anstrengungen der Steuerung des Verhaltens geht, werden dafür öffentliche Mittel aufgewendet. Diese Verwendung der Mittel sollte im Interesse der Öffentlichkeit effizient eingesetzt werden, da diese Mittel begrenzt sind. In diesem Sinne habe ich auch kein Problem damit das Objekt einer effizienten Steuerung zu sein. Dann ist man nämlich kein reines Objekt, sondern eben auch Teil derjenigen, denen Rechenschaft über die Verwendung von Mitteln abgelegt werden muss.

    @Tim
    Ein kurzer Kommentar zum Kantischen pflichtgemäß: Es ist schwierig zu erkennen, ob eine Handlung aus Pflicht ist, wenn eine Handlung pflichtgemäß ist und mit den Neigungen übereinstimmt. Aber aus der Übereinstimmung von Pflicht und Neigungen folgt nicht notwendig, dass die Handlung bloß pflichtgemäß ist. Genausowenig folgt dies analog für Solidarität. Alleine daraus, dass eine Handlung juristisch gefordert wird, folgt nicht, dass diese nicht auch freiwillig ist. Dass ich es unterlasse Tiere zu quälen, ist sowohl juristisch gefordert, wie auch freiwillig.

  13. #15 Dieter Kief
    5. Oktober 2021

    Anders Tegnell: “Sweden Won the Argument on Covid” – Sept. 2021 – Interview mit Freddy Sayers auf unherd TV

    https://www.sgtreport.com/2021/09/anders-tegnell-sweden-won-the-argument-on-covid/

  14. #16 Dieter Kief
    5. Oktober 2021

    Das AIEOU-Modell der Verhaltenssteuerung aus den fünf Komponenten (1) Ansprache, (2) Einfachheit, (3) Incentivierung, (4) Orientierung sowie (5) Unmittelbarkeit hat etwas Unbedarftes/Subkomplexes, da stimme ich Joseph Kuhn zu. Das eignet dem Nudging tendenziell (macht es aus). 
    Nuding ist eine legitime Vermittlungsstrategie. 
    Man darf der dort praktizierten forcierten Einfalt freilich keinen allgemeinverbindlichen normativen Status zukommen lassen. – Nudging für alle oder unter allen Umständen – das wäre der autoritäre und illiberale Nanny-Staat. 

    Jürgen Habermas’ Position in der Grundrechts-Diskussion in dem verlinkten Beitrag fällt dadurch auf, dass Habermas den Charakter der Grundrechte als Abwehrrechte gegen den Staat zwar sieht, aber hintanstellt. – Ein rechtshegelianisches Manöver.

    Er entpuppt sich als eher der Staatsautorität  zugeneigter Kopf. – Das geht freilich gegen den liberalen Geist des Grundgesetzes. Liberal ist es, im Zweifelsfall die staatlichen Zwangsmaßnahmen zu minimieren. Ganz wie es die Schweden getan haben. Dass das Einsicht aufseiten der Adressaten erfordert ist richtig. Aber es fördert auch die Einsicht, indem der Staat dem Bürger ausdrücklich sagt, dass seine je individuelle (!) Mitwirkung gefordert ist. Die Gesundheit der Bürger ist in erster Linie deren Sache. Der liberale Rechtsstaat ist zur Zurückhaltung verpflichtet – im Namen der Freiheit. – Ich darf hier an den weiß Gott liberalen Friedrich von Schiller erinnern, auch wenn das Jürgen Habermas gar nicht in den Kram passt: “Das Leben ist der Güter höchstes nicht.”
     
    Als Anti-Habermasianer in Sachen CO-19 redet der frühere Präsident des Bundesverfassungsgerichts in einem aktuellen Interview in der weLT. Für Hans-Jürgen Papier ist der Staat leider bereits zu weit gegangen beim Eingriff in die Freiheitsrechte.

    https://www.welt.de/politik/deutschland/plus234193236/Hans-Juergen-Papier-Vertrauen-in-Handlungsfaehigkeit-des-Staates-erschuettert.html

     In diese Kerbe haut übrigens auf Heribert Prantl von der SZ.

  15. #17 Gerald Fix
    5. Oktober 2021

    Wenn heute in der öffentlichen Debatte irgendwo “Solidarität” erwähnt wird, ist damit nicht Solidarität gemeint, sondern meistens erzwungene finanzielle Beiträge.

    Wenn ich mich frage, welchen Blickwinkel jemand hat, der das so sieht, komme ich nur auf eine Antwort. Es gibt eine unglaubliche Menge an Freiwilligen in der Sozialarbeit und die Deutschen gelten als Spendenweltmeister. Alles erzwungen?
    Meine Antwort lautet also: Jemand der das so sieht, sieht die Welt nur aus dem Blickwinkel eines Geldbeutels und nicht als Mensch, der mit offenen Augen durch die Welt geht.

  16. #18 Primergy
    5. Oktober 2021

    Als Anti-Habermasianer in Sachen CO-19 redet der frühere Präsident des Bundesverfassungsgerichts in einem aktuellen Interview in der weLT. Für Hans-Jürgen Papier ist der Staat leider bereits zu weit gegangen beim Eingriff in die Freiheitsrechte.

    Das mag auf dem Papier alles richtig sein, löst aber nicht das Problem, dass der Staat im Zweifel nicht abwarten kann, bis der Schaden groß genug ist, um das Handeln zu rechtfertigen, weil dann der Schaden schon da ist.

    Das Abwarten entspricht aber wohl der deutschen Kultur am ehesten – bei Brücken wird mit der Sanierung auch gerne so lange gewartet, bis sie kurz vorm Einstürzen sind.

  17. #19 PDP10
    5. Oktober 2021

    @Primergy:

    Das mag auf dem Papier alles richtig sein, löst aber nicht das Problem, dass der Staat im Zweifel nicht abwarten kann, bis der Schaden groß genug ist, um das Handeln zu rechtfertigen, weil dann der Schaden schon da ist.

    Das ist IMHO ein Aspekt, der immer wieder gerne vergessen wird.

    Man stelle sich vor, der Staat – also in unserem Fall die deutsche Bundesregierung – hätte nichts unternommen. Die gleichen Leute, die man heute “Querdenker” nennt, wären dann spätestens im Frühsommer letzten Jahres auf die Straße gegangen mit den gleichen Bildern (Merkel und Drosten und Co. in Gefangenen-Uniform etc.) und hätten “Mörder, Mörder!” skandiert. Und auch die Rangeleien und Pöbeleien wären die gleichen gewesen, nur dass da dann Leute verprügelt worden wären, die keine Maske tragen …

    Ich weiß. Ist möglicherweise etwas übertrieben. Aber ich glaube, nur ein bisschen.

  18. #20 RainerO
    6. Oktober 2021

    @ PDP10

    Ist möglicherweise etwas übertrieben

    Es wäre ganz sicher so gewesen. Ganz zu Beginn hat sich das ja schon abgezeichnet, als die AfD in Deutschland (“Nichtstun der Bundesregierung gefährdet Leib und Leben der Menschen”, Weidel) und die FPÖ in Österreich (Kickl forderte eine Lockdown) nach harten Maßnahmen gerufen haben.
    Als dann Maßnahmen kamen, haben beide Parteien erkannt, dass das Wählerpotential bei den Covidioten deutlich höher ist und sind umgeschwenkt.

  19. #21 PDP10
    6. Oktober 2021

    @RainerO:

    Zwei sehr schöne Beispiele. Danke fürs Erinnern daran.

  20. #22 PDP10
    6. Oktober 2021

    @Tim:

    Ist das so? Weder meine Eltern noch meine Großeltern waren Mitglied des Parlamentarischen Rats.

    Und deine Eltern und Großeltern sind auch nie Wählen gegangen und haben sich auch sonst nie politisch engagiert?

    Schade.

  21. #23 Bernd Nowotnick
    7. Oktober 2021

    Das wirft die Frage auf, bin ich am anderen Ende eigentlich allein oder die Gemeinschaft?

  22. #24 Dieter Kief
    7. Oktober 2021

    Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof sagt – wie der Verfassungsrechtler Professor em. Dietrich Murswiek und wie der ehemalige Präsident des Bundesverfassungsgerichts Hans-Jürgen Papier (“Freiheit in Gefahr”) mti Blick aauf die gesamte deutsche Republik- : Der Bayerische Staat sei bei seinen CO-19 Maßnahmen zu weit gegangen:

    https://www.lto.de/recht/nachrichten/n/bayvgh-20-n-20-767-vorlaeufige-ausgangsbeschraenkungen-rechtswidrig-uebermassverbot/

  23. #25 hwied
    9. Oktober 2021

    XXX

    [Edit: Kommentar gelöscht. Bitte etwas sparsamer mit den Buchstaben umgehen, beherzigen Sie Ihre eigenen Worte. Danke. JK]

  24. #26 Staphylococcus rex
    10. Oktober 2021

    Eigentlich wurde hier schon alles Wichtige gesagt, auf zwei kleine Details möchte ich trotzdem vertiefend eingehen:

    1. Man sollte Moral und Gesetz sauber voneinander trennen. Eine Gesellschaft kann nicht einfach Solidarität einfordern, sondern lediglich Mitarbeit und Kooperation. Solidarität ist eine moralische Kategorie und sie ist per Definition freiwillig.
    https://de.wikipedia.org/wiki/Solidarität
    Man kann zur Solidarität aufrufen, aber die Umsetzung ist freiwillig und begrenzt auf den Personenkreis, der die gleichen Werte teilt. Wenn dagegen die Mitarbeit aller Bevölkerungsschichten erforderlich ist, dann geht dies nur auf juristischem Weg, dann müssen Verhaltensweisen durch Gesetze und Verordnungen eingefordert werden, dann müssen Mechanismen der Kontrolle der Compliance und der Sanktionierung von Fehlverhalten geschaffen werden, und vor allem müssen sich dafür politische Mehrheiten finden und die Verantwortlichen müssen mit der Ablehnung durch Teile der Gesellschaft klarkommen. Das ist kurz gesagt der Unterschied zwischen ein paar flotten Sprüchen und echter politischer Verantwortung.
    Ein aus meiner Sicht gutes Beispiel für das Spannungsfeld zwischen Solidarität/Moral und juristischen Normen ist das Masernschutzgesetz:
    https://de.wikipedia.org/wiki/Masernschutzgesetz
    Die Sozialgesetzbücher zeigen uns aber auch, dass selbst das Solidarprinzip in der politischen Realität nicht ohne einen juristischen Rahmen auskommt.

    2. Der Gesetzgeber hat natürlich einen gewissen Ermessensspielraum, wenn er kooperatives Handeln einfordert. Diesen Ermessensspielraum würde ich als den gesellschaftlichen Grundkonsens bezeichnen, der durch demokratische Wahlen und daraus resultierend durch das Parteienspektrum festgelegt wird. Dieser gesellschaftliche Grundkonsens ist regional unterschiedlich, wie wir an der unterschiedlichen Haltung der USA zu Sozialleistungen oder zum Waffenrecht sehen. Der gesellschaftliche Grundkonsens ist einem stetigen Wandel unterworfen, wenn wir die zunehmende Rolle der Gleichberechtigung in den letzten Jahrzehnten betrachten. Dabei gab es bei der letzten Bundestagswahl einen interessanten Effekt: Junge Wähler wählten bevorzugt Grüne und FDP. Die Grünen sehe ich ein, aber warum die FDP, die Partei des Großkapitals und der Besserverdiener? Aus meiner Sicht hängt dies mit dem Problem der Generationengerechtigkeit zusammen. Der Generationenvertrag funktioniert nicht bei einer rasant überalternden Bevölkerung und die „Volksparteien“ sind naturgemäß Vertreter der Besitzstandswahrer und damit inakzeptabel für die junge Generation. Wenn wir aus sozialen Gründen eine Umverteilung haben wollen und die Umverteilung zwischen den Generationen nicht mehr funktioniert, erfordert dies eine verstärkte Umverteilung innerhalb der Generationen. Um Altersarmut zu verhindern, brauchen wir eine Vermögensabgabe für Rentner. Ob dies als jährliche Vermögenssteuer, als einmaliger Lastenausgleich bei Renteneintritt oder als Aufschlag auf die Erbschaftssteuer geregelt wird, dürfte noch viele spannende Diskussionen auslösen.

  25. […] Hier würde das Präventionsparadoxon jedenfalls nicht weiterhelfen. Dafür könnte die Frage des Vertrauens des Staates in die Vernunft der Bürger/innen aufgeworfen […]

  26. […] Blogbeitrag Verhaltenssteuerung, Vertrauen und Autonomie • Blogbeitrag Was ist Bewusstsein? • Blogbeitrag Roboter-Ökonomie: technizistische […]