Um die „ImpfSurv“-Studie von Harald Matthes, dem Inhaber der Stiftungsprofessur Integrative und Anthroposophische Medizin an der Berliner Charité, gab es in den letzten Tagen viel mediale Aufregung. Die Studienbeschreibung ist im Moment auf der Internetseite der Charité nicht mehr aufrufbar, für die einschlägig desinformierten Kreise Anlass für die üblichen Vorwürfe, die Wahrheit würde unterdrückt. Die Charité sagt, sie wolle die Studie prüfen.

Worum geht es?

Matthes hatte, ohne dass seine Studie schon veröffentlicht wäre, in den Medien erzählt, seine Daten würden verglichen mit den Daten des PEI ein Vielfaches an Nebenwirkungen der Corona-Impfungen zeigen und man brauche daher Spezialambulanzen. Ob er dabei auch an seine Klinik Havelhöhe gedacht hat, weiß man nicht. Jedenfalls wurde seine Studie aufgrund ihrer methodischen „Besonderheiten“ von der einen Seite heftig kritisiert: sie sei nicht repräsentativ, es gäbe keine nachvollziehbare Kategorisierung von Schweregraden und er habe keine Kontrollgruppe und könne daher gar nicht „nach“ der Impfung und „aufgrund“ der Impfung unterscheiden. Von der anderen Seite wurde seine Studie mit dem Argument verteidigt, auch die PEI-Daten seien nicht repräsentativ, viele Ärzt/innen würden wegen des Aufwands erst gar nicht melden und eine Kontrollgruppe gäbe es dort doch auch nicht.

Meldeverfahren und Studien

Die Daten des PEI beruhen im Kern auf einem verpflichtenden Meldeverfahren. Die Ärzteschaft ist verpflichtet, über das normale Maß von Impfreaktionen hinausgehende Impfkomplikationen zu melden. Betroffene können zudem auch selbst melden. Es liegt in der Natur eines Meldewesens, dass Fälle gemeldet werden und nicht Nicht-Fälle. Das ist in Tat unter dem Aspekt der epidemiologischen Aussagekraft der Daten eine empfindliche Einschränkung, man hat keine Stichprobe aus einer Grundgesamtheit von Fällen und Nicht-Fällen. Das Meldewesen ist keine epidemiologisch motivierte Datenerhebung. Das gilt für die Erfassung von Coronafällen durch die Gesundheitsämter und andere Meldeverfahren in gleicher Weise. Das Meldewesen soll vielmehr den Behörden Signale liefern, ob Handlungsbedarf besteht, weil an die Stelle des normalen Laufes der Dinge auffällige Veränderungen getreten sind.

Beim PEI bedient man sich dazu u.a. einer „Observed-versus-Expected-Analyse“. Dazu wird die Meldeinzidenz auf eine geschätzte Hintergrundinzidenz in einem zeitgleichen Beobachtungsfenster bezogen. Das ist eine recht grobe Methode, keine analytische Feinwaage, aber sie funktioniert recht gut bei sehr seltenen Erkrankungen, etwa den berühmten Sinus-Venenthrombosen. Übersteigt das Verhältnis von Melde- und Hintergrundinzidenz die 1, hat man ein Sicherheitssignal, dem es dann mit anderen Methoden nachzugehen gilt. Das funktioniert ersichtlich nicht gut bei sehr häufigen Erkrankungen, etwa der Gesamtheit der Herzkreislauf-Erkrankungen oder der Gesamtmortalität: Hier ist das Verhältnis von Melde- und Hintergrundinzidenz immer extrem viel kleiner als 1, andernfalls müssten so viele Krankheitsfälle auftreten, dass sie in den Krankenhäusern auch so unübersehbar wären und man keine Daten analysieren müsste. Man weiß somit nicht, wo man in diesem Fall die Schwelle für ein Sicherheitssignal anzusetzen hätte und wüsste man es, ginge das Signal im statistischen Rauschen der riesigen Hintergrundinzidenz unter. Das PEI weist allerdings auch solche Verhältniszahlen aus, möglicherweise beobachtet man hier statt einer definierten Schwelle einfach den Trend auf auffällige Veränderungen, ich weiß es nicht.

In einer Studie, also einer Datenerhebung außerhalb eines rechtlich verpflichtenden Meldewesens, kann man demgegenüber mit Kontrollgruppen arbeiten und wenn es um Wirkungsanalysen geht, wenn man also wissen will, ob sich etwas nicht nur „nach“ einer Intervention ereignet hat, sondern „aufgrund“ der Intervention, ist das berühmte RCT der Goldstandard. RCTs sind nach der Zulassung eines Impfstoffs ethisch heikel, daher behilft man sich mit Beobachtungsstudien, z.B. auf der Grundlage von Versicherungsdaten. Auch Herr Matthes spricht von seiner Studie als „Beobachtungsstudie“. Sie erfasst einfach Berichte der Teilnehmenden, er müsste also wie das PEI eine Art „Observed-versus-Expected-Analyse“ vornehmen. Das ist aber so, wie er die Beschwerden erfasst, kaum möglich. Er hätte eine eigene Kontrollgruppe mitführen müssen.

Die Daten des PEI sind unvollständig. Das ist allgemein bekannt und auch das PEI selbst würde das nicht bestreiten. Umso ernster sind auffällige „Observed-versus-Expected“-Verhältnisse zu nehmen. Unklar ist allerdings, warum die Daten der Studie von Matthes hier einen Mehrwert bringen sollten. Schon bei der unseligen Analyse mit den Daten der BKK ProVita vor einiger Zeit wurde zurecht eingewandt, dass man nicht irgendwelche impfassoziierten Arztkontakte und die Meldungen ans PEI in Erwartung gleicher Häufigkeiten gleichsetzen kann. Normale Impfreaktionen sollen von der Ärzteschaft gerade nicht ans PEI gemeldet werden, dazu gehören dem Meldeformular zufolge u.a. explizit Fieber unter 39,5, Kopf- und Gliederschmerzen, Mattigkeit, Unwohlsein, Übelkeit, Unruhe oder die Schwellung der regionären Lymphknoten. Zum Arztbesuch, auch zwecks Krankschreibung, wird davon manches führen. Bei Matthes kommt noch dazu, dass seine Daten durch die werbende Ansprache von Teilnehmer/innen aus dem alternativmedizinischen Milieu hochgradig verzerrt sein könnten.

Disclaimer

Mit alldem soll nicht gesagt werden, die Daten des PEI seien richtig gut oder das Meldewesen funktioniere bestens. Das behauptet niemand. Es soll nur deutlich werden, dass das Meldewesen und eine Studie zwei Paar Stiefel sind und eine Studie, die alle Mängel des Meldewesens wiederholt und dazu noch eigene Mängel hinzufügt, keinen Erkenntnisgewinn erwarten lässt. Ich lasse mich natürlich gerne von einer gut geführten Diskussion um Limitationen der Studie und trotzdem verwertbare Erkenntnisse in der irgendwann erscheinenden Publikation von Harald Matthes überraschen.

Kommentare (12)

  1. #1 Kerberos
    19. Mai 2022

    “” der Stiftungsprofessur Integrative und Anthroposophische Medizin an der Berliner Charité, “”

    Wer braucht denn so was?
    Wer hat diese Scharlatanerie gestiftet?

  2. #3 RPGNo1
    19. Mai 2022

    @Kerberos

    Die Software AG – Stiftung ist eine anthroposophienahe Stiftung deutschen Rechts mit Sitz in Darmstadt, in die der Gründer der Software AG, Peter Schnell, im Gründungsjahr 1992 98 % der Aktien der Software AG eingebracht hat.
    […]
    Die Stiftung unterstützt viele Projekte aus dem Umfeld der Anthroposophie – aufgrund des persönlichen Interesses Peter Schnells an dieser Weltanschauung. Unter anderem wurde mit den Mitteln der Stiftung 2009 die Universität Witten-Herdecke vor der Schließung bewahrt.

    https://de.wikipedia.org/wiki/Software_AG_-_Stiftung

  3. #4 Andreas Lichte
    21. Mai 2022

    @ RPGNo1

    die “Software AG – Stiftung” kauft der Anthroposophie das Label „Wissenschaft“ – auch mit der anthroposophischen „Alanus Hochschule für Kunst und Gesellschaft“:

    „Software AG – Stiftung (SAGST)

    Die Alanus Hochschule ist 2005 mit der Software AG – Stiftung (SAGST) eine strategische Bildungspartnerschaft eingegangen, die sie einerseits wirtschaftlich stabilisiert, ihr andererseits volle akademische Freiheit gewährt.

    Die SAGST ist eine Förderstiftung, die keine eigenen Hochschulprojekte betreibt und auch keine eigenwirtschaftlichen Interessen verfolgt. Sie fördert die Hochschule gemäß ihrer Stiftungssatzung in ihrer Grundfinanzierung indirekt über die Alanus Stiftung. Zu diesem Zweck schließt sie mit der Alanus Stiftung turnusmäßig Fördervereinbarungen.“

    Quelle: https://www.alanus.edu/de/hochschule/kooperationen-partner/detail/software-ag-stiftung-sagst

    Ist jetzt jemand überrascht, wenn Prof. Jost Schieren, Alanus Hochschule, sagt:

    “Rudolf Steiner war kein Rassist”

    Schieren sagt das unter dem neuen Label “Waldorf & Wissenschaft” in der vom “Bund der Freien Waldorfschulen” herausgegebenen Zeitschrift “Erziehungskunst”, dazu mein Artikel: https://hpd.de/artikel/rudolf-steiner-war-kein-rassist-20317

  4. #5 RPGNo1
    21. Mai 2022

    @Andreas Lichte

    Danke für die ergänzende Information

  5. #6 Joseph Kuhn
    22. November 2022

    Matthes im Interview:

    Interessanter Beitrag von ZDF zoom zur Anthroposophie, u.a. Interview mit Harald Matthes, etwa ab 17:35.

    Morgen um 22.45 Uhr im Fernsehen, in Mediathek schon jetzt: https://www.zdf.de/dokumentation/zdfzoom/zdfzoom-anthroposophie-gut-oder-gefaehrlich-100.html

    Matthes schwurbelt hochgradig schräges Zeug über die Möglichkeit der Wiedergeburt und wirkt sehr nervös. Hoffentlich hat er in seinem früheren Leben nichts falsch gemacht. Irgendwann könnten anthroposophische Richter ja auf die Idee kommen, Verfehlungen im früheren Leben zu bestrafen.

    Der Beitrag weist auch auf die stiftungsfinanzierte Platzierung von Matthes an der Charité hin: https://epidemiologie.charite.de/metas/person/person/address_detail/prof_dr_med_harald_matthes/

  6. #7 Andreas Lichte
    29. April 2023

    die taz über Harald Matthes – und vor allem über die sehr zweifelhafte Handlungsweise der Charité (Ist der Ruf erst mal verkauft, „forscht” es sich ganz ungeniert …):

    “Anthroposophische Medizin an der Charité:

    Die gekaufte Professur

    taz, 28. 4. 2023

    Warum hat die Berliner Charité eine Professur für Anthroposophie? Interne Unterlagen zeigen, wie sich die Pseudomedizin an der Uniklinik einkaufte.

    Wer sich über die „Stiftungsprofessur für Integrative und Anthroposophische Medizin“ an der Berliner Charité informieren will, dem lächelt ein grauhaariger Mann im Poloshirt von der Website der Universitätsklinik entgegen. Er heißt Harald Matthes, leitet das Gemeinschaftskrankenhaus Havelhöhe und forscht zur Behandlung von Krebs mit Mistelpräparaten. Er ist auch Präsident der Deutschen Akademie für Homöopathie und Naturheilkunde, heißt es auf der Webseite. Was dort nicht steht: wer die Stiftungsprofessur eigentlich mit wie viel Geld finanziert. In anderen Fällen listet die Charité diese Informa­tio­nen detailliert auf. Und selbst auf Nachfrage macht die Charité um diese Professur ein großes Geheimnis (…)”

  7. #8 Andreas Lichte
    29. April 2023

    “Anthroposophische Medizin an der Charité:

    Die gekaufte Professur”

    https://taz.de/Anthroposophische-Medizin-an-der-Charite/!5930859/

    (link zur taz nachgereicht, hatte ich vergessen)

    • #9 Joseph Kuhn
      29. April 2023

      @ Andreas Lichte:

      Danke für den Link, sehr interessant – der Vorgang riecht streng. Leider ist das Institut für Sozialmedizin, Epidemiologie und Gesundheitsökonomie der Charité seit Jahren eine Brutstätte pseudowissenschaftlicher Tätigkeiten. Der “Projektbereich Komplementäre und Integrative Medizin” dort formuliert zwar einen kritisch-wissenchaftlichen Anspruch:

      “Komplementäre Medizin wird von der Bevölkerung häufig in Anspruch genommen, obwohl Wirksamkeit, Sicherheit und Kosteffektivität vielfach ungeklärt sind. Dieses Missverhältnis von zum Teil geringer wissenschaftlicher Evidenz und weiter Verbreitung komplementärmedizinischer Therapieverfahren ist von erheblicher gesundheits- und gesellschaftspolitischer Relevanz und erfordert eine vermehrte Forschungsaktivität in diesem Bereich.”

      Aber wenn man sich vergegenwärtigt, dass Leute wie Harald Matthes diesen Anspruch einlösen sollen, ist dazu alles gesagt.

  8. #10 PDP10
    29. April 2023

    Tja. Hätten die sich mal jemand wie Edzard Ernst geholt. Also jemand, der aus der Agenda die in obigem Zitat angedeutet wird Wissenschaft gemacht hat.
    Stattdessen haben sie jemand geholt, der mit wissenschaftlich aussehenden Methoden Fragestellungen bestätigen sollte, auf die die Antworten von vornherein feststanden. Sehr ungeschickt.

  9. #11 PDP10
    29. April 2023

    Noch als Anmerkung dazu und zum Stichwort “Charité” ein Zitat aus oben verlinktem Wikipedia Artikel für die, die keine Zeit oder Lust habe ihn zu lesen, dass die Dinge auf den Punkt bringt:

    “Ernst beschreibt seine Annäherung als angewandte Wissenschaft und nicht als Politik. Die wenigen alternativen Therapieansprüche und -techniken, die einer wissenschaftlichen Auswertung standhielten, hätten damit eine solide Grundlage zur Aufnahme in den Kanon der akademischen Medizin. Ernst kritisiert die Sichtweise seiner Kollegin Claudia Witt, Professorin für Komplementärmedizin an der Charité, die, anders als er, Wirksamkeitsnachweise nach Kriterien der evidenzbasierten Medizin für alternativmedizinische Behandlungsmethoden für nicht angemessen hält.

    Hmja. Die wissenschaftliche Methode ist also nicht “angemessen”. Das hört man immer wieder aus mancherlei Ecken und fragt sich jedesmal für wie dumm diese Leute einen eigentlich halten …

    2+2? … sagt der Kaufmann. Das ist nicht 4 sondern 3 im Einkauf und 5 im Verkauf. Mathematik ist eben in mancherlei Kontext nicht angemessen. Eindeutig!

  10. #12 Andreas Lichte
    30. April 2023

    @ Joseph Kuhn

    beim taz-Artikel “Anthroposophische Medizin an der Charité: Die gekaufte Professur” habe ich diesen neuen Kommentar gefunden:

    “JOSEPH KUHN
    gestern, 19:05

    Im Grunde sind das Strategien der Wissenschaftskorruption, wie sie auch schon die Tabakindustrie gepflegt hat.

    Die ImpfSurv-Studie von Harald Matthes hatte nicht “Mängel”, sie war grundlegend unwissenschaftlich konzipiert und man muss nicht annehmen, dass Harald Matthes es nicht besser gekonnt hätte.

    Aber wie man sieht, kommt es auf wissenschaftliche Qualität an diesem Institut nicht unbedingt an.”

    sind Sie der Autor? In jedem Fall: gelungen!

    ( ich, gestern: “wie nenn ich das, was da passiert ist? ich komm nicht drauf … K … K …” )