14 Tage Aiwangeritis. Was für ein Sturm im bayerischen Wasserglas. Aus heiterem Himmel, bei besten Umfragewerten, wird der Chef der Freien Wähler von alten Vorwürfen eingeholt, er habe ein Nazi-Flugblatt an seiner Schule verfasst oder verteilt, die Medien durchforsten seine Vergangenheit, graben immer neue Geschichten aus, frühere Mitschüler:innen und Lehrer:innen belasten oder entlasten ihn, die Oppositionsparteien wittern Morgenluft und fordern seinen Rücktritt, Söder hält aus machtpolitischer Verzweiflung zu ihm, der Präsident des Zentralrats der Juden, Josef Schuster, distanziert sich von Aiwanger, ebenso wie die Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern, Charlotte Knobloch, die KZ-Gedenkstätte Dachau will keinen öffentlichen Aiwanger-Besuch im Wahlkampf und die CSU-Größen Erwin Huber und Theo Waigel schreiben ein „Positionspapier“ gegen Aiwanger, Söders Diktum, die Sache sei erledigt, zum Trotz.

Und Aiwanger selbst, der größte Bierzeltredner aller Zeiten nach Franz Josef Strauß, findet keine angemessene Sprache zu alldem, bemüht Erinnerungslücken, schweigt in einer Sondersitzung des Landtags, entschuldigt sich formal, ohne sagen zu können, für was, und stilisiert sich zum Opfer einer „Schmutzkampagne“. Trumpismus light, in Niederbayernformat.

So weit, so bekannt und oft genug durchdekliniert. Die beiden offenen Punkte, Aiwangers Vergangenheit, für die er ja durchaus Nachsicht nach vielen Jahren der Unauffälligkeit in Sachen Antisemitismus in Anspruch nehmen könnte, und seine Sprachlosigkeit zur Sache, die keine Nachsicht verdient, werden wohl noch eine Weile offene Wunden für die Freien Wähler und die CSU darstellen. Was daraus bei der Landtagswahl am 8. Oktober wird, und was das wiederum für einen Kanzlerkandidaten Söder bedeutet, wird man sehen.

Einen Aspekt, der auf die Tiefendimension dieser Geschichte abzielt, will ich hier allerdings doch noch zur Diskussion stellen. Es imponiert, wie sehr sich Aiwangers Anhänger mit ihm solidarisieren und ihm im identitätspolitischen Reframing des Konflikts folgen, der Inszenierung einer Auseinandersetzung der „normalen“ Menschen mit den linksgrünen Eliten und Medien, vom Bierzeltredner-Lehrling Merz so formuliert: „Nicht Kreuzberg ist Deutschland, Gillamoos ist Deutschland.“

Identitätspolitische Debatten sind oft, vielleicht immer, personalisierend verkürzte Debatten um tiefere gesellschaftliche Probleme, ähnlich wie Verschwörungstheorien. Ist auch die Aiwanger-Geschichte so zu lesen? Wie eine psychoanalytische Problemverschiebung? Erhitzen sich die Gemüter hier derart, weil die Gesellschaft auf die wirklich drängenden Fragen – Frieden in der Welt, Klimawandel, bezahlbares Wohnen, Pflege usw. – (noch) keine tragfähigen Antworten findet und die nicht mögliche Verständigung dazu auf identitätspolitische Konflikte verschoben wird? Dort gibt es greifbare Feindbilder, man kann Schuld zuweisen, die eigene Starrheit durch Opfer- oder Anklägerrollen legitimieren, die Notwendigkeit einer gemeinsamen Suche nach Lösungen durch Abgrenzungen und Spaltungen verdrängen.

Anders formuliert: Ist die Aiwanger-Geschichte Symptom einer politischen Reformblockade? Erregen wir uns lieber über Aiwanger – und er gibt dazu natürlich auch reichlich Anlass, weil uns die notwendigen Veränderungen in der Gesellschaft überfordern, uns in unserer Weiter-so-Identität herausfordern?

—————————-
Zum Weiterlesen:

• Blogbeitrag „Radikaler Universalismus“ – eine Rezension in sieben Zeilen.
• Amartya Sen: Die Identitätsfalle. München 2007.
• Susan Neiman: Links ist nicht woke. Berlin 2023.

Kommentare (8)

  1. #1 hto
    wo die Konfusion weiter ...
    10. September 2023

    @Kuhn: “… weil uns die notwendigen Veränderungen in der Gesellschaft überfordern, uns in unserer Weiter-so-Identität herausfordern?”

    Die zeitgeistlich-reformistischen Maßnahmen sind keine wirklich-wahrhaftigen Veränderungen!

  2. #2 Neumann
    10. September 2023

    Die größte Identifikation mit ihrem Bundesland gibt es in Bayern: Dort sagen 25 Prozent, sie fühlten sich vor allem als “Bayer”. Vorrangig als Deutsche fühlen sich dort nur 17 Prozent.
    Quelle : https://www.augsburger-allgemeine.de/bayern/Umfrage-zur-Identitaet-Bayern-identifizieren-sich-besonders-stark-mit-ihrem-Bundesland-id39087797.html

    Deswegen ist die CSU eine beständige Größe in Bayern
    Dass die CSU von einem Franken geführt wird, das ist allerdingsein Manko, dass sich in % ausdrücken lässt. Man könnte schon vermuten, dass die fehlenden Prozentpunkt zur Mehrheit zu den FREIE Wähler oder zur der AfD abgewandert sind.

  3. #3 Alisier
    10. September 2023

    @ Joseph Kuhn
    Die Antwort auf Deine Frage sollte aus meiner Sicht ein klares “Ja” sein.
    Was folgt daraus?
    Darüber wäre dann zu diskutieren, aber bitte nicht mit den üblichen Selbstdarstellern ohne jegliches Interesse an real existierenden Problemen.
    Das Aiwanger-Ding ist eher ein Glatteis-Problem: lässt man sich zu sehr darauf ein verliert man gerade für die Zukunft wirklich Wichtiges schnell aus dem Blick.
    Ob das gewollt ist? Auf jeden Fall ist es nicht hilfreich wenn man gesellschaftlich wahrhaft Relevantes angehen sollte und möchte.
    Und dann verliert die Nationalmannschaft auch noch 1 zu 4 gegen Japan. Damit überlagert voraussichtlich eine Trainerdebatte für weitere vier Wochen jede politisch relevante Diskussion.
    Ok, jedes halbwegs demokratische Land bekommt wohl die Regierung die es verdient. Ob die Bayern aber jetzt so schlimm bestraft werden sollten ist dennoch die Frage.
    Haben sie es eventuell doch verdient?

    • #4 Joseph Kuhn
      10. September 2023

      @ Alisier:

      “Die Antwort auf Deine Frage sollte aus meiner Sicht ein klares “Ja” sein.
      Was folgt daraus?”

      Daraus folgt die Frage, wie du dein “ja” begründest. Es könnten schließlich auch zwei Sachverhalte sein, die nichts miteinander zu tun haben.

      Als Vergleich: Nicht jedes Wetterextrem ist auf den Klimawandel zurückzuführen.

      Ich liebe einfache Antworten, aber oft gibt es keine.

  4. #5 Dr. Webbaer
    10. September 2023

    Identitätspolitische Debatten sind oft, vielleicht immer, personalisierend verkürzte Debatten um tiefere gesellschaftliche Probleme, ähnlich wie Verschwörungstheorien. Ist auch die Aiwanger-Geschichte so zu lesen? Wie eine psychoanalytische Problemverschiebung? [Zitat, Artikeltext, Redner und Fragesteller : Herr Dr. Joseph Kuhn]

    Könnte aus diesseitiger Sicht so sein, so gelesen werden, Dr. Webbaer zieht an dieser Stelle die Modalverben vor.
    Oder die Perfektumschreibung ‘sein’, das Gewesene auf den Jetztzustand anwendend.

    Identitätspolitik, bei den politisch rechten heißt es Identitarismus, wirkt divisiv, kann dem Zustand eines Staates nicht gut tun, auch wenn in liberaler Demokratie die Kompetitivität angefordert bleibt, muss die besondere Trennung von Gruppen so nicht beworben werden.

    Dr. Webbaer glaubt ja nicht der Psychologie, da ist u.a. auch zu viel Spekulation, zu viel “Freud” sozusagen drinnen, aus seiner Sicht, ein derartiger Spekulatius ist kaum sinnhaft zu bearbeiten. [1]


    Die Gesellschaftspsychologie, an die wird hier geglaubt, funktioniert aus diesseitiger Sicht zumindest halbwegs, also da schließt sich Dr. W dann an, bei derart angefragter Meinungsbildung in Frageform.

    Mit freundlichen Grüßen
    Dr. Webbaer

    [1]
    Dr. W hatte, sofern er sich korrekt erinnert, über die Jahre, die Jahrzehnte drei Sitzungen mit Psychologen, nicht immer freiwillig, auch i.p. “Idiotentest” aufgedrängt, Dr. W konnte so bestehen, als Idiot (im Wortsinne sozusagen) halbwegs.
    Das Problem bei bilateralen Sitzungen mit Klienten und Psychologen besteht aus diesseitiger Sicht darin, dass es sehr schnell dazu kommen kann, dass eine Person psychoanalysiert wird, die nicht existiert.
    Randbemerkung : Dr. W findet es amüsant, dass für das Studium der Psychologie bundesdeutsch der sog. Numerus Clausus greift, eine gewisse Verständigkeit ist sicherlich erforderlich, zwingend, direkt zwingend, wenn sich Personen über ihren inneren, seelischen Zustand unterhalten, immer, wie Dr. Webbaer findet, spekulativ.

  5. #6 Neumann
    10. September 2023

    Reformblockaden sind das Rückrat einer nach Rückwärts gewandten Politik. Keine Windräder, keine Klimaanlagen, keine Einwanderer, lasst uns in Ruhe !
    Adenauer hat mit dem Wahlversprechen “Keine Experimente” mit einer Stimme Mehrheit die Wahl in den 50iger Jahren gewonnen.
    Wer die Kraft der Beharrung unterschätzt , der verliert Wählerstimmen. Man bedenke auch die Überalterung der Gesellschaft.

  6. #7 Alisier
    10. September 2023

    @ Joseph Kuhn
    Und noch ein Ja.
    Es gibt fast nie einfache Antworten selbst wenn man sie sich noch so sehr wünscht. Und das ist sicher auch gut so.

  7. #8 rolak
    10. September 2023

    Zur anders formulierten Frage ‘lieber als?’: Jein. Seh ich nicht generell als Verdrängungs­Strategie, sondern auch als willkommen wahrgenomme Gelegenheit, im allgemeinen Gebrassel sich mal zwischendurch mit etwas einfach Strukturiertem zu befassen – Jugendsünden, auf-Seite-schwafeln, Versuche des Herauspolterns ;-; sowas ist angenehm überschaubar und aus anderen alltäglichen Geschehen wohlbekannt…