Das Massaker der Hamas in Israel und die israelische Reaktion bestimmen nun seit 6 Wochen die Schlagzeilen. Über das Morden im Jemen oder in Syrien liest man dagegen kaum mehr etwas, sogar die Nachrichten aus der Ukraine werden dünner. Gleichwohl will sich nach wie vor keine angemessene Sprache zu den Geschehnissen in Nahost einstellen, kein klares Bild mit „richtig“ und „falsch“.
Bekenne dich!
Die Diskussion darüber, wie die Geschehnisse in Nahost einzuordnen sind, ist verwirrend, mehr noch als die Geschehnisse selbst. Die deutsche Außenministerin hatte kurz nach dem Massaker erklärt, in diesen Tagen seien wir alle Israelis. Sind wir das wirklich? Teilen wir das gleiche Schicksal? Vielleicht sollten alle, die jetzt Israelis sind, eine Woche mit der Kippa durch die Straßen in deutschen Städten gehen, und schauen, was passiert. Selbst die AfD präsentiert sich als Freund Israels, während gleichzeitig die Zahl rechter Gewalttaten gegen Juden in Deutschland zunimmt. Wer sich solidarisch mit Israel erklärt, dem wird von manchen Seiten vorgehalten, das Leid der Palästinenser nicht wahrzunehmen, oder gar, dass sich Israel den Überfall der Hamas selbst zuzuschreiben habe, weil es seit Jahrzehnten Gebiete der Palästinenser besetzt halte und eine Apartheidspolitik verfolge. Andere wiederum verweisen darauf, Israel bombardiere völkerrechtswidrig in Gaza zivile Ziele, habe Strom, Wasser und Versorgung gesperrt, schon tausende von palästinensischen Kindern getötet und bereite womöglich eine neue „Nakba“ vor. Die deutsche Außenministerin hat dennoch nicht erklärt, dass wir in diesen Tagen alle Palästinenser oder Palästinenserinnen seien. Das hat etwas mit „Kontextualisierung“ zu tun, ein Wieselwort, vielseitig in seiner Bedeutung und Funktionalität.
Kontextualiserung
Oft ist damit gemeint, dass das Massaker der Hamas eine Vorgeschichte hat, oder in den Worten des UN-Generalsekretärs Guterres, es sei “nicht im luftleeren Raum erfolgt”. Natürlich nicht. Aber was folgt daraus? Doch sicher nicht, dass das Massaker entschuldbar sei? Rechtfertigt eine schwere Kindheit eine spätere Straftat? Oder trägt sie nur zur Erklärung bei? Kausales Erklären und moralisches Rechtfertigen sind nicht dasselbe, wenn wir Menschen sein wollen und nicht programmierte Maschinen. Und wo endet eine historisch ausbuchstabierte Kontextualisierung? Warum führt sie für die deutsche Regierung bis zum Holocaust, begründet aber vor allem eine Verantwortung für die Sicherheit Israels, die als Folge des Holocausts „deutsche Staatsraison“ sei. Müsste aus dem gleichen Grund nicht auch das Recht der Palästinenser, in einem eigenen Staat zu leben, „deutsche Staatsraison“ sein? Ohne das deutsche Menschheitsverbrechen wäre Israel anders oder gar nicht gegründet worden, hätte es die Nahostkriege vielleicht nie gegeben und auch nicht die Vertreibung der Palästinenser aus ihren Siedlungsgebieten.
Beim Holocaust selbst ist man – hierzulande – mit der „Kontextualisierung“ vorsichtiger, da ist man sich der Gefahr einer damit nur allzu schnell mitlaufenden Relativierung von Schuld bewusster. Aber natürlich ist auch der Holocaust „nicht im luftleeren Raum erfolgt“. Die historische Interpunktion – wo lässt man alles anfangen – ist sie willkürlich? Für manche geht die Kontextualisierung nur bis zur Vorgeschichte der israelischen Besatzungspolitik – oft in Vermengung von Erklärung und Rechtfertigung des Massakers der Hamas. Die wird dann, in den Worten Erdogans, zur „Befreiungsorganisation“. Anders als die kurdischen Organisationen, die sind für ihn „Terrororganisationen“, die bombardiert werden müssen. Eine andere „Kontextualisierung“? Erdogan war gerade Staatsgast in Berlin, wir brauchen ihn, außen- und flüchtlingspolitisch kontextualisiert. Selbst der syrische Schlächter Assad wird – kontextbedingt, die Zeiten sind so – in der Region resozialisiert.
Kolonialismus
Nicht nur Erdogan erklärt den Terrorismus der Hamas zum „Befreiungskampf“. Kontextualisierung ist auch ein Werkzeug postkolonialistischer Argumentationen, begründeter wie irreführender. Terror ist kein Befreiungskampf. Aber, und das „aber“ ist hier notwendig: „Kolonisiert“ Israel nicht in der Tat das Westjordanland und Ostjerusalem? Anfang der 1970er Jahre zählte die jüdische Bevölkerung dort, wenn man Wikipedia glauben darf, gerade einmal 11.000 Menschen, heute ca. 700.000. Die israelische Siedlungspolitik ist international geächtet, von der UNO verurteilt und sie ist gewalttätig. Ein Mosaikstein, der zum Bild gehört, zur „Kontextualisierung“. Aber ist das das ganze Bild?
Universalismus, Tribalismus, Exzeptionalismus
Jedes Leben zählt gleich. Black lives matter, jüdische und palästinensische ebenso. Und ukrainische, auch russische. Der moralische Universalismus kommt so leicht daher. Aber, schon wieder ein „aber“, diesmal andersherum gerichtet, hat der Holocaust nicht aus den Juden in einem makabren Sinn wirklich ein „auserwähltes Volk“ gemacht? Seit Jahrhunderten machen Juden und Jüdinnen die Erfahrung, dass sie nicht dazugehören, dass sie angeblich weniger wert sind als andere Menschen. Bis hin zur fabrikmäßigen Vernichtung. Und jetzt erneut die Erfahrung, Opfer zu sein, nur weil man jüdisch ist, ganz gezielt, nicht als „Kollateralschaden“ eines Befreiungskampfes. Rechtfertigt das vielleicht doch Israels Beharren darauf, dass man sich nicht mehr darauf verlassen will, als Teil der Menschheitsfamilie Anspruch auf Schutz und Achtung zu haben, sondern das als Staat Israel mit allen Mitteln und gegen alle Bedrohungen durchsetzen zu müssen – für das eigene Volk, auch gegen andere Völker, universalistisches Völkerrecht hin oder her? Man mag einwenden, dass das auf Dauer gar nicht gehen kann, aber auch zweitausend Jahre Verfolgung sind eine lange Dauer. Haben andere eine vergleichbar andauernde Erfahrung des Ausgeschlossenseins aus der Menschheitsfamilie? Vielleicht die von Versklavung, Apartheid und ebenfalls von andauerndem Rassismus betroffenen Menschen schwarzer Hautfarbe? Wie gerechtfertigt ist das partikularistische Bestehen darauf, in einer besonderen Rolle zu sein und am Ende doch nicht alle Leben gleich zählen zu lassen? Ab wann schlägt die Quantität der Opfererfahrungen um in eine Qualität des Andersseins?
Ergo?
Antworten müssen die Menschen in Israel und Palästina finden. Und wir auch. Als Menschen, die wir keine Israelis sind und keine Palästinenser wurden.
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Zum Weiterlesen:
In der aktuellen Ausgabe der Blätter für deutsche und internationale Politik gibt es eine Reihe lesenswerter Beiträge zum Nahostkonflikt, u.a. das Editorial von Albrecht von Lucke, eine Widerrede von Seyla Benhabib zum kürzlichen hier schon erwähnten Papier „Philosophy for Palestine“ oder einen Artikel von Jörg Armbruster zum „Strudel der Wut“ in der Region, in dem er an die Doppelmoral des Westens in Völker- und Menschenrechtsfragen erinnert.
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