In der Coronakrise wurde viel diskutiert: über Inzidenzen, R-Werte, Viren-Varianten, den Ursprung des Virus, Intensivbettenbelegung, die Pflegemisere, Sterbefälle mit und an Corona, PCR-Tests, Schnelltests, Übersterblichkeitsberechnungen, Ausgangssperren, Abstandregeln, pandemieanfällige Lieferketten, Masken, Impfstoffe, die Impfwirksamkeit, Impfnebenwirkungen, Schulschließungen, Post-Covid und vieles mehr. Die Politikberatung und auch die Medienbeiträge waren dabei lange von Virologen und Modellierern dominiert, zu wenig wurde in Formaten diskutiert, die die Breite der Themen politisch zusammengeführt haben und zu wenig in Formaten, die eine gesellschaftliche Beteiligung gefördert haben.
Nach der akuten Krise wurde von verschiedener Seite eine „Aufarbeitung“ gefordert. Etwas unklar blieb, was genau damit gemeint war. Es gab ja reihenweise Evaluationsstudien zu den unterschiedlichsten Aspekten der Pandemiebekämpfung, Gerichtsurteile zu einzelnen Maßnahmen und auch eine Evaluation der Maßnahmen auf der Basis des Infektionsschutzgesetzes.
Die Forderungen nach „Aufarbeitung“ kamen einerseits von Wissenschaftler:innen, die einen kritischen Blick auf die Infektionsschutzmaßnahmen entwickelt hatten, andererseits aus Milieus, die sich zunehmend als querdenkende Fundamentalopposition positionierten. Ein Stück weit mag das ein Reflex auf den zu kurz gekommenen demokratischen Diskurs in der Pandemie gewesen sein.
In letzter Zeit kam die Forderung nach einer Aufarbeitung vermehrt aus der Politik selbst. Gestern hat der Bundespräsident höchstpersönlich eine „ehrliche Aufarbeitung“ gefordert. Die Querdenker wird das aufhorchen lassen: Gab es bisher also keine „ehrliche“ Aufarbeitung? Was wurde vertuscht? Wurden doch die Sterbefälle durch die Infektion aufgebauscht und die infolge der Impfung verheimlicht? So meinte der Bundespräsident es sicher nicht, aber so werden es viele lesen. Nur – was meint er? Steinmeier weiter: „Wir haben wichtige Fragen nicht gestellt.“ Als da seien:
„Was hätten wir, trotz all der Unsicherheit und der Wucht des unbekannten Erregers, besser machen können? Wo sind wir zu streng und vielleicht übervorsichtig gewesen, und wo waren wir zu nachlässig und leichtfertig? Welche Gruppen und Bevölkerungsteile haben besonders unter den Maßnahmen zu leiden gehabt? Wer hätte mehr Hilfe und Unterstützung gebraucht? Wo haben wir mit Maßnahmen zu lange gewartet?“
Wurden diese Fragen wirklich nicht gestellt? Wurden sie nicht längst und immer wieder beantwortet, manche schon über 70 mal? Ist nicht klar, dass wir bessere Kohortenstudien gebraucht hätten, früher Studien zu den psychischen und sozialen Folgen der Pandemie und der Infektionsschutzmaßnahmen? Frühzeitig eine gute gesellschaftliche Diskussions- und Kritikkultur? Weniger akribisch ausdifferenzierte Kontaktverbote, schon gar kein Verbot, auf einer Parkbank zu sitzen oder willkürliche Beschränkungen der Teilnehmerzahl an Beerdigungen? Ist nicht hinreichend erforscht und bekannt, dass die oft genug gegen ihren Willen beschützten alten Menschen in den Heimen, die Kinder und Jugendlichen sowie Menschen in sozial schwierigen Verhältnissen besonders unter den Maßnahmen zu leiden hatten? Dass sie mehr Unterstützung gebraucht hätten, wie auch die Pflegekräfte, die bis heute die vielfach versprochene Aufwertung nicht erhalten haben? Und dass man z.B. in der zweiten Welle zu lange gewartet hat, was mit zu der hohen Zahl an Sterbefällen Ende 2020 beigetragen hat?
Unter welchen Voraussetzungen, mit welchen Ressourcen, mit welchem konkreten Auftrag würde eine politisch auf die Schiene gebrachte „ehrliche Aufarbeitung“ wirklich einen Mehrwert schaffen? Beispielsweise gegenüber dem Bericht der Expertenkommission nach § 5 (9) IfSG? Wer hat deren Bericht überhaupt gelesen? Und wer sollte den Rahmen für eine „ehrliche Aufarbeitung“ vorgeben, beraten durch wen? Ein Auftrag für das BIPAM? Für eine neue Kommission? Für ein Konsortium von wissenschaftlichen Einrichtungen?
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