Möglicherweise etabliert sich demnächst ein neues Forschungsgebiet, das sich mit der Namensgebung von Gesetzen beschäftigt. Es gibt da viele interessante Fragestellungen. Seit langem beschäftigt beispielsweise die Länge von Gesetzesnamen und der damit verbundenen Akronyme die jokologische Politikwissenschaft. Das „Rinderkennzeichnungs- und Rindfleischetikettierungsüberwachungsaufgabenübertragungsgesetz (RkReÜAÜG)“ wäre hier sicher ein Forschungsprojekt wert gewesen. Das Gesetz hat es sogar zu einem eigenen Wikipedia-Eintrag gebracht. 2013 wurde es aufgehoben.

Andere Gesetze wiederum, und darum geht es hier, bestechen durch eine offenkundige Diskrepanz zwischen Namen und Inhalt. Der aktuelle Entwurf des „Gesetzes zur Stärkung der Gesundheitsversorgung in der Kommune (GVSG)“ beispielsweise regelt alles Mögliche, nur keine kommunalen Angelegenheiten. Ob der Bundestag die Gesundheitskioske namensrechtfertigend wieder ins Gesetz bringt, ist offen. Zumindest unter Verdacht auf Etikettenschwindel steht auch der Entwurf des „Gesetzes zur Stärkung der öffentlichen Gesundheit“, Akronym unbekannt. Die Plausibilität einer nachhaltigen Stärkung der öffentlichen Gesundheit steht bei den Fachgesellschaften in ernstem Zweifel. Den überambitionierten Namen des Gesetzes sowie den rückwärtsgewandten Namen des damit geplanten “Bundesinstituts für Prävention und Aufklärung in der Medizin” monieren alle. Angeblich soll es im Bundestag bereits Ideen für einen anderen Namen geben. „RKI-Zerschlagungsgesetz (RKI-ZG)“ kommt allerdings eher nicht infrage, siehe unten zur Namenspositivitätsnorm von Gesetzen.

Ganz aktuell hat das Bundeskabinett das „Gesunde-Herz-Gesetz (GHG)“ beschlossen. Es geht jetzt ins parlamentarische Verfahren. Der Entwurf zielt aber nicht auf gesunde Herzen ab, also auf Primärprävention, sondern auf kranke Herzen, die frühzeitig erkannt und medizinisch behandelt werden sollen. Es müsste „Krankes-Herz-Gesetz (KHG)“ heißen. Aber erstens gibt es ein KHG schon, das „Gesetz zur wirtschaftlichen Sicherung der Krankenhäuser und zur Regelung der Krankenhauspflegesätze (KHG)“, und zweitens wollen Regierungen immer positive Botschaften verbreiten, dafür wäre „Krankes-Herz-Gesetz“ sichtlich ungeeignet.

Vielleicht wäre „Gesetz zur hoffentlich erfolgreichen medizinischen Vermeidung letaler Folgen kranker Herzen von der Wiege bis fast zur Bahre (GzhemVlFkHWB)“ eine korrekte Bezeichnung. Oder „Gesetz zur Umgehung verhältnispräventiver Maßnahmen zur wirklich effektiven Verbesserung der Herzgesundheit (GzUvMzweVH)“. Sicher gibt es noch weitere inhaltskongruente Namensvorschläge und vielleicht tauft der Bundestag das Gesetz jetzt im parlamentarischen Verfahren mit einem passenderen Namen.

Andernfalls wäre das „Gesunde-Herz-Gesetz“ eben ein weiterer Kandidat für das neue Forschungsfeld Gesetzesnamensundinhaltsdiskrepanzanalyse. Karl Lauterbach hat sich um die Wissenschaft in Deutschland verdient gemacht.

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Edit 31.8.2024: Habe bei Wiederlesen gesehen, dass der Satz zum Gesetz zur Stärkung der öffentlichen Gesundheit ohne Erwähnung des geplanten Bundesinstituts nicht verständlich war und habe daher den Satz ergänzt.

Kommentare (6)

  1. #1 Fluffy
    29. August 2024

    Gesetzesnamensundinhaltsdiskrepanzanalyse

    Was für ein schönes Wort. Es verleitet zu dem Spiel:
    Bilden Sie aus den Buchstaben dieses Wortes möglichst viele neue Wörter.
    Eine Möglichkeit wäre

    Zyankali

    • #2 Joseph Kuhn
      29. August 2024

      @ Fluffy:

      Ja, kann man machen. Jetzt wo der Herbst bevorsteht und manche wieder Gesellschaftsspiele spielen, um der Trotzwetterbeschäftigungslustdiskrepanz zu begegnen.

      Aber für jemanden wie Sie, mit mathematischem Know How, sollte die Herausforderung eher darin bestehen, die Gesetzesnamensundinhaltsdiskrepanzanalyse methodisch durch einen Gesetzesnamensundinhaltsdiskrepanz-Koeffizienten messbar zu machen. Das könnte ein eigener Zweig des neuen Forschungsfeldes werden: Numerische Gesetzesnamensundinhaltsdiskrepanzanalyse.

      Bei solchen Sachen kann es sich lohnen, ChatGPT zu fragen. Es hat es hat ja auch das Herzgesetz schon gut analysiert, siehe die Kommentare #6 und #35 im Blogbeitrag vom 14. April. ChatGPT hat das Potential einer Quantifizierung des neuen Forschungsfeldes sofort erkannt:

      Frage an ChatGPT:

      “Ist ein Algorithmus vorstellbar, der numerisch die Diskrepanz zwischen dem Namen eines Gesetzes und seinem Inhalt misst?”

      ChatGPT:

      “Die Idee, einen Algorithmus zu entwickeln, der die Diskrepanz zwischen dem Namen eines Gesetzes und seinem Inhalt misst, ist theoretisch vorstellbar, aber auch sehr anspruchsvoll. Solch ein Algorithmus müsste mehrere Herausforderungen bewältigen, sowohl in Bezug auf die Semantik als auch auf die Analyse juristischer Texte. Hier ist ein möglicher Ansatz, wie ein solcher Algorithmus funktionieren könnte:

      1. Namensanalyse (Textverständnis des Titels)

      Der Algorithmus müsste zuerst den Namen des Gesetzes analysieren, um zu verstehen, welche Hauptthemen, Begriffe und Intentionen darin enthalten sind. Das kann durch Techniken des Natural Language Processing (NLP) erfolgen, bei denen Schlüsselbegriffe und semantische Bedeutungen aus dem Gesetzestitel extrahiert werden.

      • Schlüsselbegriffe extrahieren: Identifizierung von wichtigen Wörtern und Phrasen.
      • Semantische Analyse: Bestimmung der Bedeutung und der erwarteten Themenbereiche anhand des Titels. Hier könnte man maschinelles Lernen einsetzen, um festzustellen, welche Inhalte normalerweise mit diesen Begriffen verbunden sind.

      2. Inhaltsanalyse (Textverständnis des Gesetzestextes)

      Danach müsste der Algorithmus den Inhalt des Gesetzes analysieren. Auch hier würde NLP zum Einsatz kommen, um den Text in kleinere, interpretierbare Einheiten zu zerlegen, z. B. Absätze oder Kapitel, und deren Inhalt semantisch zu bewerten.

      • Themenidentifikation: Ermittlung der tatsächlichen Themenbereiche, die das Gesetz abdeckt.
      • Semantische Übereinstimmung: Vergleich der gefundenen Themen mit den Themen, die im Namen des Gesetzes suggeriert werden.

      3. Diskrepanzmessung

      Schließlich würde der Algorithmus die Diskrepanz zwischen den beiden Analysen messen. Dazu könnten verschiedene Techniken verwendet werden:

      • Semantische Übereinstimmungsmessung: Bestimmung, inwieweit die Themen und Begriffe im Gesetzestext mit denen im Titel übereinstimmen. Dies könnte durch den Vergleich der semantischen Vektoren des Gesetzestitels und des Textinhalts geschehen.
      • Wahrscheinlichkeitsschätzungen: Es könnte eine Art Scoring-System verwendet werden, das die Wahrscheinlichkeit bewertet, dass der Gesetzestext tatsächlich dem Titel entspricht.

      4. Ausgabe

      Der Algorithmus könnte schließlich eine numerische Bewertung ausgeben, die die Diskrepanz ausdrückt. Ein hoher Wert würde eine hohe Diskrepanz bedeuten (d. h., das Gesetz behandelt Themen, die im Titel nicht angedeutet werden), während ein niedriger Wert eine geringe Diskrepanz anzeigt.

      Herausforderungen

      Es gibt jedoch erhebliche Herausforderungen:

      • Komplexität der juristischen Sprache: Gesetze enthalten oft formale, spezialisierte Sprache, die schwer zu interpretieren ist. Selbst für Menschen kann es schwierig sein, die volle Bedeutung eines Gesetzes auf den ersten Blick zu erfassen.
      • Mehrdeutigkeit: Der Titel eines Gesetzes könnte absichtlich breit oder vage formuliert sein, um eine Vielzahl von Regelungen zu umfassen.
      • Unterschiedliche Interpretationen: Der Inhalt eines Gesetzes könnte auf verschiedene Arten interpretiert werden, was eine objektive Bewertung erschwert.

      Fazit

      Obwohl es theoretisch möglich ist, einen Algorithmus zu entwerfen, der die Diskrepanz zwischen dem Titel eines Gesetzes und seinem Inhalt misst, wäre dies eine äußerst anspruchsvolle Aufgabe. Sie erfordert fortgeschrittene NLP-Techniken, juristisches Fachwissen und ausgeklügelte Bewertungsmechanismen, um die Diskrepanz genau zu quantifizieren.”

  2. #3 Joseph Kuhn
    30. August 2024

    Jürgen Windeler im “Observer”

    Der frühere IQWIG-Chef Jürgen Windeler sieht den Regierungsentwurf des Herzgesetzes gegenüber dem Referentenentwurf als lediglich “kosmetisch” verändert. Nach wie vor ignoriere das Gesetz die Evidenzlage und die Selbstverwaltung. Dafür macht er im “Observer” Karl Lauterbach verantwortlich:

    “Der Minister hat an Evidenz, die nicht seinen persönlichen Überzeugungen entspricht, an den Empfehlungen des angeblich von ihm so geschätzten Instituts und überhaupt an den von fast allen vorgebrachten vielfältigen Argumenten gegen diesen ‘Präventionsweg’ keinerlei Interesse.”

    In der Tat ist die Pressekonfererenz, auf der Lauterbach zusammen mit Stephan Baldus den Regierungsentwurf vorgestellt hat, in mehrfacher Hinsicht ein Zeitdokument zum Verhältnis von Wissenschaft und Politik: von der Einseitigkeit der Auswahl wissenschaftlicher Stimmen bis hin zur klaren Aussage, man lasse den G-BA machen, solange er macht, was das BMG will.

    Insofern könnte man das Gesetz vielleicht auch “Mein Wille geschehe-Gesetz (MWgG)” nennen.

    2020 hat Karl Lauterbach die Salomon-Neumann-Medaille der Deutschen Gesellschaft für Sozialmedizin und Prävention erhalten. In der Laudatio zur Preisverleihung heißt es u.a.:

    “Wissenschaft und Politik ticken bekanntlich ganz unterschiedlich: Politik will von der Wissenschaft eindeutige Ergebnisse, und zwar möglichst solche, deren Konsequenzen mit den Grundlinien der eigenen politischen Programmatik zusammenpassen. In der Politik werden Ergebnisse nicht nach den Regeln des herrschaftsfreien Diskurses erzielt. (…) Daraus ergibt sich für den in die Politik ausgewanderten Wissenschaftler eine beständige Gratwanderung, auf der man leicht abstürzen kann. Integrität bei der Bewältigung dieser Herausforderung bemisst sich daran, dass man die Wissenschaft dabei weder missbraucht noch verrät.”

    Eine Evaluation zur Zieleerreichung ist zwar im Gesetz selbst nicht vorgesehen, aber in ein paar Jahren wird man an den Daten sehen, ob das Gesetz tatsächlich die Mortalität an Herzkreislauferkrankungen gesenkt und erhebliche Einsparungen erzielt hat. Vielleicht präsentieren ja Lauterbach und Baldus das Ergebnis dann in einem Folgeartikels ihres Beitrags im European Journal of Epidemiology?

  3. #4 rolak
    30. August 2024

    Der Einsatz von ChatGPT erinnert mich vage an eine vage erinnerte Szene aus irgendeinem längeren ScFi-Zyklus (¿I.Asimov, K.J.Anderson?), in der solch eine automagische Analyse genutzt wurde, um den Sachaussagen-lichen Kern einer stundenlangen PolitikerAnsprache zu ermitteln.
    Und die Buchstabensuppe zu “” [intentionally left empty] reduzierte 😉

    Das von Fluffy vorgeschlagene BuchstabenSpiel halte ich für eher langweilg, da diese Wortverknüpfungs­Ungetüme den Vorrat des Alphabetes kaum einschränken. Wie wäre es denn statt dessen mit NeuwortTeilen (Sund, anal, amen, Panz)?

  4. #5 Joseph Kuhn
    30. August 2024

    Wissenschaft und Politik

    Lauterbach verteidigt sein Vorhaben nun zusätzlich mit einer gesundheitsökonomischen Studie. Es handelt sich um ein Preprint von Afschin Gandjour. Die Studie plädiert für niedrige Schwellenwerte für den Einsatz von Statinen und schätzt, dass dann jährlich ca. 50.000 Schlaganfälle und Herzinfarkte vermieden würden.

    Der Wirtschaftsjournalist Norbert Häring kommentiert Lauterbachs Bezug auf die Studie recht bissig, weil Gandjour und Lauterbach eine lange Zusammenarbeit verbindet.

    Ich finde, Lauterbach darf sein Netzwerk durchaus bemühen, aber er sollte das transparent machen. Ein Zusammenhang der Studie von Gandjour mit Lauterbachs Plänen ist zumindest naheliegend: Literaturreferenz 1 im alphabetisch geordneten Literaturverzeichnis bei Gandjour ist die gemeinsame Publikation von Baldus und Lauterbach aus dem European Journal of Epidemiology, die hier im Blog auch schon Thema war.

    Die Studie von Gandjour ist eine voraussetzungsreiche Modellierung, ich kann die Details nicht einschätzen, auch nicht, ob ein einzelner Autor die eingegangenen Voraussetzungen gut überprüfen kann. Ein gutes peer review dürfte jedenfalls nicht schaden, zumal die Umsetzung niedrigerer Schwellenwerte für die Statinbehandlung die Patientenzahlen womöglich verdoppelt.

  5. #6 Joseph Kuhn
    31. August 2024

    WDR 5 – Satire: Nomen est Omen?

    Das GHG hat wirklich viel mit Zukunft zu tun. Auf den 4.9.2024 datiert ist eine heute im Morgenecho auf WDR 5 veröffentlichte Satire zum Gesetzesnamen, ebenfalls mit Bezug auf das legendäre Rindfleischgesetz.

    Sollte die Glosse durch den Beitrag hier angeregt worden sein, würde mich das freuen, und sollte sie direkt durch das GHG stimuliert sein, wäre das ein Thema für ein Spezialgebiet der Gesetzesnamensundinhaltsdiskrepanzanalyse, der Gesetzesnamensundinhaltsdiskrepanzrezeptionsdeterminiertheitsforschung, im Volksmund “Sehen-das-alle-so?-Forschung” genannt.