Das Voynich-Manuskript (ein unlesbares Buch aus dem 15. Jahrhundert) ist das bekannteste ungelöste Kryptogramm der Welt. Auf eines kann man sich beim Voynich-Manuskript verlassen: Es gibt immer wieder neue Erkenntnisse, die mehr verwirren als zur Klärung beitragen. Genau das macht dieses Thema so faszinierend.
Das Voynich-Manuskript hat mir wieder einmal eine interessante Woche beschert. Die Dreharbeiten für Galileo, bei denen das Manuskript eine wichtige Rolle spielte, waren dabei längst nicht alles. Ebenfalls bemerkenswert: Gestern hat das Nachrichtenportal der BBC einen Artikel über das Voynich-Manuskript veröffentlicht. Die BBC ist ja für Qualitätsjournalismus bekannt, und in diesem Fall wird der Sender seinem Ruf absolut gerecht. Für mich zählt dieser Artikel zum Besten, was es in den letzten Jahren in der Publikumspresse zum Voynich-Manuskript zu lesen gab (und es gab einiges zu lesen).
Allerdings bin ich bei meiner Einschätzung zugegebenermaßen etwas voreingenommen. Die Journalistin Melissa Hogenboom, die den Artikel geschrieben hat, hat mich beim Recherchieren kontaktiert und am Telefon befragt. Anscheinend haben ihr meine Antworten eingeleuchtet, denn sie finden sich fast alle im Artikel wieder. Außerdem werde ich ausführlich zitiert. So stelle ich mir guten Journalismus vor;-)
Im Artikel kommen (erstmals in einer vergleichbaren Publikation) folgende Gesichtspunkte zur Sprache, die ich für besonders wichtig halte:
- Es gibt etwa 25 statistische/linguistische Untersuchungen des Voynich-Manuskript-Texts.
- Fast alle dieser Untersuchungen zeigen: Der Voynich-Manuskript-Text ähnelt natürlicher Sprache.
- Es kristallisiert sich jedoch keine bestimmte Sprache heraus.
- Es lassen sich keine Wörter identifizieren.
- Es gibt ein paar wenige statistische/linguistische Untersuchungen, die Punkt 2 widersprechen. Sie besagen, dass der Voynich-Manuskript-Text keine natürliche Sprache sein kann.
Meiner Meinung nach lassen sich diese Ergebnisse nur wie folgt interpretieren: Der Voynich-Manuskript-Text muss eine Mischung aus natürlicher Sprache und künstlichen Einflüssen sein. Dafür gibt es verschiedene Möglichkeiten (die Auswahl ist nicht vollständig):
- Ein gewöhnlicher Text wurde mit einem unkonventionellen Verschlüsselungs- oder Kodierverfahren bearbeitet. Es muss aber schon ein unkonventionelles Verfahren gewesen sein, denn eine bekannte Methode hätte man wohl inzwischen identifiziert.
- Es liegt eine Kunstsprache vor, die natürliche Sprache als Basis verwendet.
- Einzelne Wörter oder Silben aus natürlicher Sprache wurden auf künstliche Weise zu einem Text zusammengefügt. Der Linguist Jürgen Hermes hat eine Hypothese entwickelt, nach der die Wörter des Manuskripts jeweils für einen Buchstaben stehen und zusammen eine Nachricht ergeben. Diese Form des Verschlüsselns bzw. Versteckens von Text war in der Renaissance-Zeit durchaus bekannt.
- Es handelt sich um den Aufschrieb eines psychisch gestörten Menschen, eines Menschen in Trance oder sonst eines Menschen, der Fragmente natürlicher Sprache sinnlos zusammenwürfelt. Vielleicht war es sogar ein Analphabet, der das Schreiben nur immitierte.
Meiner Meinung nach muss es ein wichtiges Ziel der Voynich-Manuskipt-Forschung sein, die diversen Möglichkeiten zu identifizieren und zu untersuchen. Hierbei ergibt sich jedoch ein Problem, das ebenfalls im Artikel angesprochen wird: Während man die statistischen Eigenschaften des Voynich-Manuskript-Texts inzwischen gut kennt, gibt es noch viel zu wenige Erkenntnisse darüber, wie solche Texteigenschaften im Einzelfall entstehen. Mit anderen Worten: Wir brauchen Forschung, die untersucht, wie Sprachen, Verschlüsselungsverfahren und Textformen (z. B. Gedichte, Gebete oder zufällig aneinander gereihte Wörter) statistische Eigenschaften eines Texts beeinflussen. Vielleicht kann man dann irgendwann sagen: Die statistischen Eingenschaften des Voynich-Manuskript-Texts sprechen eindeutig für einen lateinischen Prosatext, der mit dem Verschlüsselungsverfahren X in der Variante Y bearbeitet wurde.
Anlass für den BBC-Artikel war übrigens eine neue Forschungsarbeit, die ihrerseits für Diskussionen gesorgt hat. Um dieses Thema geht es im zweiten Teil dieses Beitrags.
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