Zum Rilke-Kryptogramm gibt es inzwischen einige gute Untersuchungen, doch es gibt noch immer Rätsel auf. Drei Hypothesen halte ich für stichhaltig.
Sommerloch? Nicht auf Klausis Krypto Kolumne. Dank dem Rilke-Kryptogramm und den Fällen von Gary Klivans tut sich momentan einiges in meinem Blog. Heute will ich noch einmal auf das Rilke-Kryptogramm zu sprechen kommen.
Für alle, die es noch nicht wissen: Das Rilke-Kryptogramm ist eine Folge von Buchstaben und Zahlen, die auf hektografierten Zetteln notiert und auf das Jahr 1944 datiert sind. Anscheinend hat ein Soldat im Zweiten Weltkrieg diese Zettel zugeschnitten und in ein Exemplar des Buchs “Rilke” von Gert Buchheit geklebt. Zweck, Bedeutung und Urheber des Rilke-Kryptogramms sind nicht bekannt.
Das Rilke-Kryptogramm wurde mir dankenswerterweise von Dr. Karsten Hansky zur Verfügung gestellt. Auf einer eigenen Web-Seite gibt es alle Seiten als Scans und außerdem eine von Karsten Hansky erstellte Transkription.
Inzwischen sind etwa 60 Leserkommentare eingegangen. Karsten Hansky hat außerdem eine sehr interessante statistische Untersuchung des Texts erstellt.
Meiner Meinung nach kann man drei plausible Hypothesen aufstellen.
Hypothese 1: Verschlüsselung
Ist das Rilke-Kryptogramm eine verschlüsselte Nachricht?
Pro:
- Die Vierergruppen, in denen die Zahlen und Buchstaben notiert sind, erinnern an verschlüsselte Nachrichten der deutschen Marine im Zweiten Weltkrieg.
Kontra:
- Im Rilke-Kryptogramm kommen zahlreiche Muster (Buchstaben in gleicher Reihenfolge wie auf der Tastatur, Wiederholungen, Symmetrien) vor, die es in einem verschlüsselten Text normalerweise nicht gibt.
- Im Rilke-Kryptogramm kommen nahezu keine Buchstaben-Doppelungen vor. Außerdem enthält nahezu jede Vierergruppe vier unterschiedliche Buchstaben. Dies wäre für einen verschlüsselten Text sehr ungewöhnlich.
Hypothese 2: Schlüssel
Ist das Rilke-Kryptogramm ein kryptografischer Schlüssel, beispielsweise für einen One-Time-Pad?
Pro:
- Die erwähnten Muster (Buchstaben in gleicher Reihenfolge wie auf der Tastatur, Wiederholungen, Symmetrien) kommen in kryptografischen Schlüsseln häufig vor. Eigentlich sollte man für diesen Zweck sorgfältig generierte Zufallszahlen verwenden, doch oft genug wurde dies missachtet.
Kontra:
- Das Rilke-Kryptogramm ist eine Hektografie, und Hektografien wurden typischerweise für Auflagen von fünf oder mehr Exemplaren verwendet. Es war sicherlich unüblich, so viele Schlüsselkopien zu produzieren.
- Mir ist kein Verschlüsselungsverfahren bekannt, das mit Schlüsseln dieser Art arbeitet. Zufallsfolgen für den One-Time-Pad setzen sich üblicherweise nicht aus einer Zahlen-Buchstaben-Mischung mit Umlauten zusammen.
Hypothese 3: Übungsmaterial
Ist das Rilke-Kryptogramm nur eine sinnlose Aneinanderreihung von Buchstaben und Zahlen, mit denen irgendwleche Soldaten das Morsen (oder eine andere Schreib- bzw. Übertragungstechnik) lernen sollten?
Pro:
- Das Rilke-Kryptogramm ist eine Hektografie. Dies würde zu einem Übungsblatt passen, das ein eine Gruppe von Schulungsteilnehmeren ausgegeben wurde.
- Die seltsamen Wiederholungen und Muster würden bei einem Morse-Übungstext nicht allzu sehr stören.
- Ein Soldat könnte ein Übungsblatt zerschnitten und in ein unauffälliges Buch eingeklebt haben, um es vor seinen Kameraden zu verbergen (es war durchaus üblich, dass Soldaten ihren Kameraden von ihrem Tätigkeitsbereich nichts erzählen durften).
Kontra:
- Übungstexte sollten sinnvollerweise auch Buchstabendopplungen, Folgen ähnlicher Buchstaben, Mehrfachauftreten eines Buchstabens in einer Gruppe usw. enthalten. Das ist hier nicht gegeben.
- Im deutschen Morsealphabet gibt es zwar Zeichen für “ä”, “ö” und “ü”, diese werden jedoch im Militär selten verwendet. Außerdem müssten konsequenterweise auch “ß”, und “ch” vorkommen,
Welche Hyptothese ist die richtige?
Hypothese 1 (Verschlüsselung) halte ich für sehr unwahrscheinlich. Hypothese 2 (Schlüssel) wäre zwar denkbar, doch vergleichbares Schlüsselmaterial habe ich noch nie gesehen. So bleibt nur Hypothese 3 (Übungstext). Diese erscheint mir im Moment am wahrscheinlichsten. Leider verstehe ich nicht viel vom Morsen und ähnlichen Tätigkeiten und kann daher nicht beurteilen, wie plausibl diese Hypothese ist. Vielleicht kann ja ein Leser etwas dazu beisteuern.
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