Nahe der Straße von Gibraltar haben Schwertwale (Orcinus orca) mehrere Segelboote gerammt und beschädigt. Skipper, die mit Segelyachten dort unterwegs waren, berichteten in den vergangenen Wochen, dass sie von einer ganzen Gruppe Orcas koordiniert angegriffen worden seien. Susan Smillie hatte am 13. September für den Guardian darüber berichtet (‘I’ve never seen or heard of attacks’: scientists baffled by orcas harassing boats).
Die erfahrene Seglerin und Biologin Victoria Morris freute sich, als sich am Nachmittag des 29. Juli eine Gruppe der großen schwarz-weißen Delphinartigen ihrem Boot näherte, sie hatte schon häufiger Kontakt mit diesen beeindruckenden Zahnwalen. Der erste Rammstoß gegen den Rumpf drehte das 46-Fuß-Boot um 180°, zerstörte das Ruder und die Maschine setzte aus. Die 23-Jährige schaute auf die zerfetzten Reste ihres Ruders, dann dümpelte die vierköpfige Besatzung steuerlos nahe der Straße von Gibraltar, zwischen Kap Trafalgar und Barbate. Ihrem Mayday-Funkspruch „Orca-Attacke!“ wollte die Küstenwache ihr zunächst nicht glauben. Als Morris unter Deck lief, um alles Wichtige in den Kentersack zu packen und mitzunehmen, und bereitete sich auf das Verlassen des Boots vor. Unter Deck war ein angsteinflößender Lärm: Die Orcas rammten den Kiel und den Rumpf, was wie Donnerschläge hallte. Außerdem hört sie auch die Pfiffe der Orcas extrem laut, das Rudel kommunizierte die ganze Zeit miteinander. Es war ein solcher Lärm, dass die Menschen sich nur noch brüllend verständigen konnten. Außerdem sagt sie, die Wale hätten vollständig koordiniert agiert. Eineinhalb Stunden dauerte der Angriff, dann kam Hilfe und schleppte die lädierte Yacht in den kleinen Hafen Barbate.
Sechs Tage vorher hatte Alfonso Gomez-Jordana Martin vor Barbate auf einer 40-Fuß-Yacht ein ähnliches Erlebnis: Ihnen näherten sich vier Orcas unter der Wasseroberfläche, die Angriffe seien vollständig überraschend gekommen. Die Schwertwale haben dabei unter anderem offenbar gezielt die am Heck liegenden Ruderanlagen zerstört, sie gerammt und mit den Zähnen zerfetzt. Mit solcher Wucht haben sie das Ruder herumgerissen, dass der Rudergänger sich fast den Arm ausgekugelt habe. Andere Orcas hatten die Yacht dann noch gerammt – und das Boot um 120° gedreht. Aus einer Distanz von 25 Meter nahmen die Wale immer wieder Anlauf und sind dann mit 10 bis 15 Knoten im Rammstoß gegen das Boot geschwommen. Gomez-Jordana Martin hat einen Teil des Wal-Angriffs gefilmt.
In der Nacht davor, 22 Juli waren Beverly Harris und ihr Partner Kevin Large mit einer Yacht ebenfalls vor Barbate unterwegs. Auch sie traf der Rammstoß der Orcas völlig überraschend, auch ihr Boot wurde herumgedreht und das Ruder beschädigt, 20 Minuten dauerte dieser Zwischenfall. Mit größter Mühe bekamen die beiden Segler ihr Boot wieder auf Kurs zu bekommen, die Orcas haben sie über 20 Minuten hinweg attackiert.
Ein anderer Segler erzählte, er sei einige Zeit zuvor von einem Orca gestoppt worden – der Wal hatte mit den Zähnen das Ruder gepackt und festgehalten.
Der Biologe Rocío Espada (Universidade Sevilla) ist Delphinexpertin und hat sich auch mit den Gibraltar-Orcas schon länger beschäftigt – über diese Zwischenfälle ist sie genauso überrascht wie alle anderen Biologen. Die Tiere sind gut bekannt, viele hätte sie aufwachsen sehen. Einen Biß in ein Ruder habe sie bisher nur als spielerisches Verhalten, aber niemals mit solch zerstörerischer Absicht und Wirkung. Sie kann es nur durch eine extreme Stressreaktion erklären. Die Ursache des Stresses könnte sein, dass sich in den zahlreichen Netzen und Leinen der Fischer in diesem Areal vielleicht ein Kalb verfangen habe.
Der Biologe Ezequiel Andréu Cazalla war genauso überrascht und erklärt, dass er dieses Orca-Verhalten nicht als Attacke auf Menschen hält. Orcas könnten nicht wissen, dass die modernen Yacht-Ruder so fragil sind. Auch er erklärt das Verhalten mit extremem Stress.
Orcas, Thunfische und Fischer
Stress haben diese Schwertwale vor der spanischen Küste ganz bestimmt. Cazalla hält die Straße von Gibraltar für den schlechtesten Platz, den die Wale sich überhaupt aussuchen könnten. In dieser Population gibt es nur noch 50 Wale und sie werden kontinuierlich weniger. Viele der Erwachsenen und Jungtiere hätten sichtbare Verletzungen, außerdem leiden sie unter Nahrungsmangel und natürlich unter der starken Meeresverschmutzung. Schließlich ist dieses kleine Meeresfläche zwischen Europa und Afrika mit extrem viel Schiffsverkehr belastet, zusätzlich kommen wegen dann noch weitere Whale Watching-Boote hinzu.
Was die Zahnwale dennoch in diesem Seegebiet hält, sind die Thunfische!
Die Straße von Gibraltar ist eine wichtige Wanderroute für die großen Fische: Im Frühling kommt der Blauflossenthunfisch zum Laichen ins Mittelmeer, im Juli und August wandern die Thunfische dann zurück in den Atlantik. So passieren sie zweimal im Jahr die Meerenge von Gibraltar und dort schlagen die Fischer zu. Der Thunfang hat hier eine lange Tradition, die bis in die Antike, zu Phöniziern und Römern zurückreicht. Auch die traditionelle Fangtechnik mit einem Labyrinth aus kompliziert verschachtelten Netzfallen – die Almadabra – hat sich erhalten. Dazu werden Stellnetze mit Ankern am Meeresboden verankert und bilden einen Fischzaun. Ist ein Schwarm Thunfische in diesem Labyrinth gefangen, wird das Netz hinter ihnen geschlossen, dann töten die Fischer die Thune.
Manche andere Fischer nutzen Langleinen, die mit vielen Haken bestückt sind.
Beim heutigen Thunfischpreis ist wenig überraschend, dass der Bestand überfischt ist und die spanischen und marokkanischen Fischer ihren Fang nicht gern mit den Orcas teilen wollen.
Zwischen 2005 und 2010 sei der Thun-Bestand zusammengebrochen, so hat sich die Nahrungskonkurrenz-Situation verschärft.
Zur gleichen Zeit seien die Orca Sichtungen der Whale Watcher rapide gesunken. Seit 2009 ist eine Thunfisch-Quote eingeführt worden, die Bestände haben sich wohl ein wenig erholt und es werden wieder deutlich mehr Orcas gesichtet.
Jörn Selling, ein Film Meeresbiologe, erklärt dass die Fischer sogar gezielt auf die Orcas zu fahren, weil sie denken, dass die Zahnwale mit ihrem Sonar die Fische längst vor ihnen entdecken. Dabei fahren die Fischer manchmal direkt durch die durch die Orca-Gruppen hindurch, und verletzen die Wale dabei sogar.
Jörn Selling arbeitet für firmm – foundation for information and research on marine mammals. Die Stiftung erforscht die Orcas vor Gibraltar und bietet Whale watching-Touren an, sind mit dem Bestand gut vertraut.
Firmm dokumentiert die Walsichtungen und andere Informationen: 1999 haben zwei Gruppen der Gibraltar-Orcas gelernt, die Thunfische direkt vor den langen Leinen herunter zu pflücken. „Stehlen“ nennen die Fischer das. Aus Sicht der Orcas hingegen dürften die Fischer die Diebe sein. Die Wale pflücken dabei die gefangenen Fische von der Leine, nur den Kopf lassen sie zurück – mit ihrem Sonar können sie die Metallhaken erkennen.
Dieses Verhalten ist für die Wale nicht ohne Risiko, viele der Tiere tragen schwere Verletzungen von Leinen und Haken davon, die Narben und Einkerbungen an den Flossen sind deutlich erkennbar. Die Fischer möchten sich natürlich „ihren“ Fisch nicht „stehlen“ lassen, und wehren sich. Sie setzen Elektroschocker ein, werfen Benzinkanister oder schneiden sogar in Rückenflossen.
Selling erzählt auch, dass ein erwachsenes Orca-Männchen vor einigen Jahren gelernt hatte, in dem Netz-Labyrinth der Almadabra zu navigieren, wie ein U-Boot. Dieser Orca sei einige Zeit später mit sehr schweren Verletzungen gesehen worden und kurz danach verschwunden.
Ein Weibchen („Lucia“) hat sowohl ihr Neugeborenes als auch eine Brustflosse verloren – vermutlich beides durch ein Fischereinetz, vermuten die firmm-Biologen. Amputierte Flossen sind typische Verletzungen durch Beifang – Wale (oder auch Meeresschildkröten) geraten mit den Extremitäten oder dem Kopf in Netze, die unzerreißbaren Schnüre schneiden sich tief in die Haut ein oder schnüren Flossen ab.
Dieser Konflikt zwischen den Fischern und den Orcas dauert also schon einige Jahre, nicht alle Fischer halten sich an die Fangquoten oder an das Verbot, Meeressäuger zu verletzen.
Was kann die Wale ausgerechnet jetzt dazu bewogen haben, auf einmal gezielt gegen Yachten zu agieren?
Susan Smilie schreibt, dass mehrere Wissenschaftler ihr gegenüber dafür einen sehr unwissenschaftlichen Ausdruck benutzt hätten: „pissed of”.
Der kumulative Stress könnte den Walen einfach zu viel geworden sein – der Kummer über zu viele verlorene Kälber, zu viele Verletzungen, zu viel Kampf um Fisch. Dann hat es während der Corona-Epidemie eine kurze Zeit der Ruhe gegeben, weil der Schiffsverkehr stark abgenommen habe. Jetzt gäbe es aber wieder den vollen Einsatz der menschlichen Aktivitäten – mit Hochseeanglern, Whale watching-Schiffen, Segelbooten, Schnellfähren und Frachtern. Sofort ist es für die Zahnwale wieder schwierig, in dem ganzen Meereslärm ihre Sonarechoszu hören und die Beute zu finden. Das könnte jetzt diese Aggressionen ausgelöst haben.
Der renommierte Wal-Experte Ken Balcomb (Center for whale research) hatte die Reaktionen von Orcas im Nordpazifik beobachtet, die dort mit den Fischern um die sinkenden Chinook-Lachs-Bestände konkurrieren. Er hatte die Blicke der Schwertwale gesehen und denkt, dass die Wale wissen, dass die Menschen für die Lachs-Knappheit verantwortlich sind. Und auch den Zusammenhang mit dem, was ihnen Streß verursacht und wodurch sie ihre Kälber verlieren. Die Neurowissenschaftlerin und Verhaltensforscherin für Wale Lori Marino (Universität Atlanta) meinte, dass sie ein solches Orca-Verhalten nicht wundern würde. Orcas seien aufgrund ihres extrem hoch entwickelten Gehirns und ihrer komplexen Sozialstrukturen kognitiv durchaus in der Lage,, solche Rückschlüsse zu ziehen.
Pauline Gauffier, eine Wal-Expertin des Walforschungs- und Whale Watching-Unternehmens CIRCE www.circe.info, hat der spanischen Umweltbehörde jetzt einen Managementplan zum Schutz dieser bedrohten Orca-Population für dieses Seegebeit präsentiert: Das Ziel ist dort die, Aktivitäten und den Meereslärm bis auf ein Minimum zu reduzieren – ihre Forschungen haben ergeben, dass dieses Seegebiet zum Kerngebiet dieser Wale gehört.
Persönliche Anmerkung
In allen Fällen waren die Orcs im Gebiet westlich der Straße von Gibraltar vor Barbate wie aus dem Nichts aufgetaucht, und hatten mit Rammstößen gegen den Rumpf sowie der Zerstörung des Ruders die Boote auf Gegenkurs gebracht. Dieses Verhalten ist wirklich außergewöhnlich, mir ist bisher noch niemals ein solcher Bericht untergekommen.
„Schwertwale“ heißen die großen schwarz-weißen Delphinverwandten im Deutschen, ein anderer alter Name ist „Butzkopf“. „Killer whale“ laute ihr Name im Englischen, nicht ohne Grund: In vergangenen Jahrhunderten haben Seeleute, Fischer und Walfänger oft beobachtet wie die Orcas und kleine Wale angegriffen getötet und teilweise gefressen haben. Der Name “Pandas der Meere”, der neuerdings aufkommt, ist jedenfalls grob verharmlosend.
Dabei greifen sie auch auch große Bartenwale an. Ein solcher Angriff läuft als konzertierte Aktion ab – einzelne Orcas verbeißen sich in den Schwanz und in Lippen und Zunge des Wals, ein weiterer versucht, über das Blasloch des Großwals zu kommen und das Opfer unter Wasser zu drücken. Außerdem verwunden sie ihre Beute mit Rammstößen gegen den Leib – dafür nehmen sie einen Anlauf. Diese Rammstöße sollen zu inneren Verletzungen führen.
Das Prinzip eines gemeinsamen Angriffs und der Rammstöße sind also keine neuen Verhaltensweisen, sondern werden nur auf eine neue Zielgruppe angewendet.
Orcas haben unterschiedliche Nahrungspräferenzen, manche fressen gern Fisch, andere bevorzugen Meeressäuger. Jede Gruppe hat eine perfektionierte Jagdtechnik. Die Weitergabe dieser Techniken genauso wie den gruppenspezifischen Dialekt wird von Wissenschaftlern als Kultur eingeordnet.
Möglicherweise sind wir also gerade Zeugen der faszinierenden Entstehung einer neuen Kulturtechnik der Gibraltar-Orcas: Boote umdrehen. Die Botschaft ist hoffentlich unmißverständlich.
Ein Orca-Schutzgebiet wäre ganz bestimmt eine gute Idee. Den Orca-Schutz auch durchzusetzen, dürfte dann die eigentliche Herausforderung sein.
Zum Weiterlesen:
Hier sind mehr Meertext-Orca-Stories:
Orca – Mörderwal oder „Panda der Meere“?
Warum sind Schwertwale schwarz-weiß?
Orca-Omas kümmern sich um ihre Enkel– mit Lachs und Rat
Basilosaurus und Orca: Top-Prädatoren und ihre Beute
Klimawandel in der Arktis: Glück für Orcas, Pech für Belugas (1)
PS: Fast hätte ich es vergessen:
ARTE hat zurzeit eine ausgezeichnete Orca-Dokumentation in der Mediathek!
Es geht um die Erforschunsggeschichte und Kommunikation der Gruppe der Residents in der Johnston-Strait, vor British-Columbia im Nordpazifik. Die zu Wort kommenden älteren Wissenschaftler wie John Ford und Paul Spong sind legendär.
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