Als Zoologin mit einem Faible für Schädelvermessung und Skelette halte ich Kraniometrie und Morphometrie für wichtig, denn sie sind die Basis der zoologischen Taxonomie. Auch wenn ich meine Diplomarbeit über Walschädel (Schnabelwale) geschrieben habe, kann ich die Schädel anderer Säugetiere und auch Menschen zumindest ganz gut einordnen. Ein oberflächlicher Blick auf den Schädel der Schamanin zeigt einen zierlichen Bau ohne den Ansatz von Augenbrauenwülsten und eine genauso grazile Kinnpartie. Die geschlossenen Knochennähte zeigen klar, dass es sich um die Relikte eines Erwachsenen handelt. Wenn nun ein arischer Anthropologie-Professor einen so ausgeprägt weiblichen Schädel als den eines Mannes „erkennt“, erfüllt mich das nicht gerade mit Ehrfurcht vor seinen wissenschaftlichen Fähigkeiten. Entweder war er fachlich nicht in der Lage, selbst so eindeutige Merkmale zuzuordnen oder er hat absichtlich gelogen, weil es besser in die Ideologie passte. Beides ist mal wieder der Nachweis, dass Ideologie einer wissenschaftlichen Betrachtung nicht guttut. Für seinen blonden, blauäugigen Ur-Germanen als Stammvater der nordischen Rasse erhielt Heberer 1938 einen Lehrstuhl an der Universität Jena und der Ur-Germane verschwand im Archiv.
Erst zu DDR-Zeiten nahm wieder ein Wissenschaftler den Schädel in die Hand und bestimmte ihn korrekt als weiblich. Dann lagen die Überreste der steinzeitlichen Frau und des Kindes wieder für Jahrzehnte im Dornröschenschlaf. Nach der Wende, in den 1990-er Jahren, kam es erneut zu einer Nachuntersuchung. Aber die Frage, ob es sich bei den beiden Menschen um Mutter und Kind handelte, konnte immer noch nicht beantwortet werden. Die DNA-Analyse dieser Zeit war für so altes Knochenmaterial noch nicht ausgereift genug.
Erst die Methoden des 21. Jahrhunderts mit der forensischen Archäologie ermöglichten auch aus älteren Knochen eine exakte Kohlenstoffdatierung und brachten neue Ergebnisse. So führte 2019 ein Archäologenteam eine umfassende Nachgrabung durch. Dabei wurde das ursprüngliche Grab gefunden und als Blockbergung ins Museum gebracht. Außerdem wurde nahe der Grabstätte noch eine bis dahin unbekannte Grube mit zwei weiteren Hirschschädeln entdeckt und ebenfalls geborgen. So konnte später im Museum in langwieriger Arbeit die gesamte Grabfüllung genau untersucht werden, die eine Fülle weiterer Details ergaben.
Was die Archäologie-Forensik verrät
In zweijähriger Forschungsarbeit konnte das Team aus Archäologen, Genetikern, Anthropologen und Medizinern, koordiniert von Harald Meller, viele Fragen beantworten: Die vor 9000 Jahren aufwändig bestattete Frau war mit 30 bis 35 Jahren verstorben, sie wurde in hockender Position aufrecht bestattet, in einem achteckigen Grab. Das Grab der Schamanin ist das außergewöhnlichste je in Deutschland gefundene Steinzeitgrab und das älteste Sachsen-Anhalts. Gleichzeitig ist es wohl das älteste sicher nachweisbare Schamaninnengrab der Welt, so der Landesarchäologe Harald Meller.
Der männliche Säugling in ihren Armen war nicht ihr eigenes Kind – das hatte die Analyse der 2019 bei der Nachgrabung geborgenen fragilen Knöchelchen-Fragmente im Max-Planck-Instituts für Evolutionäre Anthropologie in Leipzig ergeben. Die Archäogenetiker rekonstruierten eine dunkle Haut sowie dunkle Haare und blaue Augen, die Gesichtsrekonstruktion ergänzte die Gesichtszüge. “Dank detektivischer Arbeit vieler Wissenschaftler können wir das Schicksal und Aussehen einer einzigartigen Frau rekonstruieren”, erklärte Meller gegenüber der Presse. Das zeige eindrucksvoll, was Archäogenetik heute leisten könne. “Deren Begründer Svante Pääbo hat völlig zurecht jetzt den Nobelpreis für Medizin erhalten” – Pääbö hatte den Nobelpreis für seine Entschlüsselung des Neandertaler-Genoms bekommen. Pääbö leitet das Max-Planck-Institut für Evolutionäre Anthropologie in Leipzig und erforscht in der Abteilung für Archäogenetik die Menschheitsgeschichte anhand der DNA archäologischer Funde. Sowohl die Frau als auch das Kind passten genetisch zu anderen Nachweisen der „westlichen Jäger und Sammler des Mesolithikums“, sie gehörten also zur regionalen Bevölkerung. Das ist wichtig, denn es bedeutet, dass die Frau keine Zugwanderte mit exotischen Angewohnheiten war, sondern dass sie sehr wahrscheinlich die damals regional üblichen Sitten und Gebräuche ausübte, wenngleich sie offensichtlich eine herausgehobene Position einnahm.
Kommentare (3)