Der Ort für das Begräbnis war sorgfältig ausgewählt: Bad Dürrenberg ist wegen seiner Solequellen heute ein Heilbad, das salzige Wasser galt und gilt als Heilmittel für viele Leiden. Harald Meller und einige andere Forscher vermuten, dass die Schamanin die Sole zu heilkundlichen Zwecken gezielt eingesetzt hat. Salz war an sich schon kostbar, denn es war überlebenswichtig für die Konservierung von Nahrungsmitteln und zum Würzen. Sprudelnde Salzquellen müssen noch wesentlich beeindruckender gewesen sein und könnten aufgrund ihrer vielfältigen Nutzbarkeit neben dem praktischen auch einen mythologischen Wert gehabt haben. Ob die desinfizierende Wirkung von Salzwasser der Schamanin schon bekannt war, wissen wir nicht.

Saman, Schamanin und Schamanismus

Die Interpretation der Steinzeitbewohnerin als Schamanin, die Annahme von Schamanismus in steinzeitlichen Kulturen und der Schamanismus an sich werden im Buch ausführlich diskutiert. Der Begriff „Schamane“ ist nämlich ein koloniales Konstrukt.
Die Spurensuche nach dem Ursprung des Schamanenbegriffs führt tief in den Sumpf des russischen Kolonialismus. Zar Peter I und seine NachfolgerInnen trieben die Eroberung Sibiriens mit Nachdruck voran, der Fellhandel brachte ein Vermögen ein. Siedler und Kosaken beuteten die indigene Bevölkerung aus, misshandelten oder töteten sie. Da die sibirischen Indigenen nicht christlich waren, galten sie als minderwertige Menschen, gerade die „Zauberer“, „Medizinmänner“ und „-frauen“ sowie die Heilkundigen wurden durch Russen gezielt tabuisiert, dämonisiert und kriminalisiert. Darstellungen mit Hirschgeweih-Kopfschmuck erinnern an steinzeitliche Hirschkappen und die Mythen von Cernunnos, dem „Gehörnten Gott“ der Kelten.
Die brutale Kolonialisierung der sibirischen Völker stieß bei dem jungen deutschen Wissenschaftler Georg Wilhelm Steller auf scharfe Kritik. Steller gehörte zu den Wissenschaftlern, die Sibirien erforschen wollten, er reiste forschend durch Sibirien, sammelte Pflanzen, Tiere und ihre Anwendungen, sprach mit indigenen Menschen und reiste dann noch mit Kapitän Vitus Bering von der Küste Kamtschatkas über den Nordpazifik bis nach Alaska. Bei der Strandung auf der Bering-Insel sah und beschrieb Steller als erster Forscher die nach ihm benannte Seekuh, den Otter und die Pelzrobbe. Steller war zwar vor allem vor allem Botaniker und Mediziner, erforschte aber neben Pflanzen auch Tiere und Mineralien, außerdem beschrieb er die Völker Sibiriens und ihre Bräuche. Wegen seiner Botanik-Kenntnisse dokumentierte er auch die Ethnobotanik sorgfältig, also die Verwendung von Pflanzen in der Heilkunde und Ernährung der sibirischen Völker. So konnte er später einen Teil seiner schwer erkrankten Schiffskameraden retten und blieb selbst vom Skorbut verschont. In Stellers Aufzeichnungen finde sich auch Hinweise auf „Schamanen“, ihre Tätigkeiten, ihre Trachten und die von ihnen genutzten Gegenstände.

Unter der Überschrift „Die Erfindung der Schamanen“ gehen Meller und Michel scharf ins Gericht mit dem, was heute unter Schamanismus verbreitet und getrieben wird. Sie verurteilen die einfache Übertragung und Gleichsetzung von ethnologischen und archäologischen Befunden und „dröseln“ das Phänomen des Schamanismus auf. Zunächst gibt es zwei Lesarten des Schamanismus: Die eine versteht darunter naturalistische spirituelle Vorstellungen von Kulturen weltweit. Die zweite Lesart fasst Schamanismus enger und schreibt ihn nur den sibirischen Völkern zu, dabei ist die Trance ein wichtiges Element. Die wenigen Überlieferungen zeigen, dass es bei vielen Völkern nicht einen Schamanen gab, sondern eine Fülle von Personen, die Spiritualität und Heilkunde praktizierten, für Prophezeiungen zuständig waren oder noch andere besondere spirituelle Aufgaben wahrnahmen.
Die Übertragung spiritueller Vorstellungen von Menschen, die vor 9000 bis 30.000 Jahren gelebt haben auf heute lebende Menschen würde letzteren eine eigenständige kulturelle Entwicklung absprechen. Außerdem könne man die umherziehenden Jäger- und Sammlergemeinschaften der Steinzeit keinesfalls mit den sibirischen Rentiernomaden vergleichen, schließlich handelt es sich bei deren Rentierherden um halbdomestizierte Tiere. Rentierherden sind ein Besitzstand, wie ihn die Jäger und Sammler der Mittelsteinzeit sicherlich noch nicht hatten, das dürfte zu erheblichen Unterschieden in den sozialen Strukturen geführt haben.

Ein weiterer wichtiger Aspekt ist, dass die sibirischen Völker genauso wenig schriftliche Aufzeichnungen hinterlassen haben, wie die Menschen der Steinzeit. Die Dokumentation der Sibirier erfolgte erst durch Europäer und deren koloniale und christliche „Brille“. Dabei könnte die Beschreibung von Geweihkappen auch zur Dämonisierung der spirituellen Personen gedient haben. So sind diese Personen von den Russen gezielt verfolgt worden, um die Identität der indigenen Völker und Kulturen zu zerstören, schon Steller hat nicht mehr die ursprünglichen Kulturen gesehen und beschrieben. Nach der russischen Revolution setzte sich ihre Verfolgung fort, da sie der Normierung des Menschen im Sozialismus und Kommunismus widersprachen.
Dadurch gibt es heute kaum authentische Aufzeichnungen, sondern nur vereinzelte sensationsheischende Reiseberichte über in Trance fallende Gestalten mit Teufelshörnern. Der Begriff saman bezeichnet bei den Tungusisch sprechenden Ewenken einen religiösen Spezialisten oder eine Spezialistin. Daraus wurde dann auf Umwegen „Schamane“, der von westlichen Gelehrten für alle Personen, die magisch-spirituellen Beistand oder Heilkräfte anboten, Magier, Zauberer, Propheten beiderlei Geschlechts genutzte Begriff. Ungeachtet der kulturellen und sprachlichen Diversität der sibirischen Völker wurde also ein intellektuelles Konstrukt geschaffen.
Immer mal wieder schwappten Halbwissen und Phantasie zu diesem mystischen Thema bis in die westlichen Industrienationen. In den 1960-er und 70-er Jahren wurde Esoterik im Kontext mit bewusstseinserweiternden Drogen zum neuen Lifestyle der Hippies, seitdem ist Schamanismus (was auch immer darunter verstanden werden mag) auch untrennbar ein Teil unserer westlichen Kultur. Seitdem ist er um definitiv unsibirische Begriffe wie „Karma“ oder „Aura“ erweitert worden.
Trotz all dieser Bedenken und Kritik haben sich Meller und die Archäologen dennoch für die Nutzung des Begriffes für diese Tote entschieden: Das Grab, die Knochen und die Beigaben liefern Hinweise auf Aspekte wie Trance und tierische Hilfsgeister.

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Kommentare (3)

  1. #1 RPGNo1
    13. Dezember 2022

    Ein Super-Bericht. Vielen Dank! 🙂

    PS: Die neueste Entwicklung des Schamanen ist übrigens der Plastikschamane, der gutgläubigen esoterisch veranlagten Menschen gerne das Geld aus der Tasche zieht.

    https://de.wikipedia.org/wiki/Neoschamanismus
    https://en.wikipedia.org/wiki/Plastic_shaman

  2. #2 Bettina Wurche
    13. Dezember 2022

    @RPGNo1: Danke, den Ausdruck kannte ich noch nicht. der trifft es ganz gut : ). Ja genau solche Auswüchse erwähnen Meller und Michel.

  3. #3 rolak
    13. Dezember 2022

    Die neueste Entwicklung des Schamanen

    ^^NoNa, damals™ ´77, als ich Foxy (US-OR) auf dem EuropaTrip mit ihrer knucklehead erleben durfte, standen wir eines schönen Tages vor ner Buchhandlung in D´Dorf, als sie losfluchte ~’how on earth did this plastic shaman shit make it across the ocean?’ Im Schaufenster prangte ein Machwerk, das fast fuffzich Jahre später immer noch beworben und aufgelegt wird, durch und durch Banane.
    Yep, Plastination war ein Begriff schon lange vor von Hagens… Und das Miterleben des Aufschwungs abgedrehter Esoterik in D war&ist wahrlich ein bitteres Mißvergnügen.

    btt: Mal wieder ein Artikel, der sich ungemein spannend liest und darüber hinaus (zumindest mir) einiges völlig Neues vorstellt. Besser gehts kaum 😉